{507}Der Große Krieg

Es gibt nur Tragödien der Unwissenheit.
Peter Altenberg, PRÒDROMOS

Die Julikrise 1914 ist das am genauesten dokumentierte, das am intensivsten erforschte politische Ereignis der europäischen Geschichte. Und dennoch ist sie – neben dem Holocaust – auch dasjenige Ereignis, das unser Verstehen von Geschichte auf die härteste Probe stellt. Nirgendwo wie hier sind die ideologischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen einer Katastrophe so genau benennbar, und die Übermacht all dieser Faktoren über den Willen des Einzelnen, ja selbst über den Willen derer, die sich verbünden, ist offenkundig: Als seien es ›Systeme‹ und ›Strukturen‹, die entscheiden, nicht Menschen. Zugleich sind aber auch die Beschlüsse der Verantwortlichen, vielfach sogar deren subjektive Beweggründe bis ins Detail nachvollziehbar, und je tiefer man hier eindringt, desto weniger glaubhaft erscheint die Annahme, es sei letztlich gleichgültig, wer wann warum den Krieg wollte oder nicht wollte.

Wer sein Augenmerk allein auf die strukturellen Ursachen des Ersten Weltkriegs richtet – insbesondere den deutschen Militarismus und die nicht mehr zu befriedenden Nationalismen innerhalb des Habsburgerreichs –, der wird den Eindruck gewinnen, dass ganz Europa seit Jahren auf einer schiefen Ebene agierte, deren zunehmendes Gefälle das Abrutschen irgendwann unvermeidlich machte: Alle Faktoren arbeiteten in dieselbe Richtung, und in dieser Richtung lag der Große Krieg. Verfolgt man hingegen das Handeln der Akteure, das sich von Tag zu Tag, mit dem Herannahen der Entscheidung teilweise von Stunde zu Stunde nachzeichnen lässt, so bietet sich ein völlig anderes Bild: Ein paar Hebel mussten umgelegt, eine gewisse Anzahl von Knöpfen gedrückt werden, um den imaginierten Krieg real werden {508}zu lassen, und wäre ein einziger dieser Handgriffe verweigert worden, so hätte der Große Krieg eben nicht stattgefunden.

In der politischen Publizistik hat sich dieser Widerspruch auf die Frage zugespitzt, ob der Erste Weltkrieg ›ausbrach‹ oder ob er ›entfesselt‹ wurde. Da jede Antwort auf diese Frage weitreichende moralische Konsequenzen hat, verwundert es nicht, dass es mehr als ein halbes Jahrhundert dauerte, ehe sie nüchternen Sinnes diskutiert werden konnte. Diejenigen, die bei Beginn des Krieges von der Lenkbarkeit der Geschichte am meisten überzeugt waren, verwiesen später, nachdem alles verloren und neun Millionen Soldaten getötet worden waren, am nachhaltigsten auf ein ominöses, übermächtiges Schicksal. So schrieb einer der Haupttäter, der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf: »Im Übrigen war der Weltkrieg eine jener Katastrophen, die durch einen Einzelnen weder herbeigeführt noch aufgehalten werden können.« [481]  Der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner, Autor eines durchaus nicht patriotischen Standardwerks über den Untergang Österreich-Ungarns, pflichtete dieser Behauptung ausdrücklich bei, und eine Abstimmung unter allen Historikern der Gegenwart ergäbe wohl das gleiche Resultat.

Dass Österreich-Ungarn in einen Weltkrieg ›geschlittert‹ sei, wie die Sprachregelung einst lautete, in einen Krieg, »den niemand gewollt« habe, wie Stefan Zweig noch Jahrzehnte später glaubte [482]  – dies wird angesichts des erdrückenden Beweismaterials nun freilich niemand mehr behaupten. Die Entscheidung, das Attentat von Sarajevo zum Anlass eines militärischen Angriffs auf Serbien zu nehmen, fiel in informellen Gesprächen maßgeblicher Politiker bereits nach wenigen Tagen, und die einzige Gegenstimme von Gewicht – die des ungarischen Ministerpräsidenten Tisza – verstummte sehr bald unter dem Eindruck, dass man sich der Rückendeckung des mächtigen deutschen Verbündeten sicher sein könne. Der ersehnte ›Blankoscheck‹ Wilhelms II. wurde bereits am 5.Juli überreicht, ohne Vorgespräche, ohne Bedingungen, ohne die Definition von Kriegszielen und begleitet von der Aufforderung, wenn man tatsächlich losschlagen wolle, dann solle man es doch sofort tun – mehr konnten auch die härtesten Hardliner nicht verlangen. Nur zwei Tage später sprach sich der österreichische Ministerrat für den Krieg aus.

Damit waren die wichtigsten Weichen in Berlin und Wien gestellt, und die Debatten der folgenden Tage dienten nur noch dazu, ein Procedere {509}zu finden, das die Entscheidung legitimierte und Österreich vor der Weltöffentlichkeit ins Recht setzte. Entgegen dem Rat führender Militärs, Serbien ohne weitere Umstände zu überfallen, wurde am 14.Juli beschlossen, ein kurzfristiges Ultimatum mit unannehmbaren Forderungen zu stellen. Fünf Tage dauerte es, dieses Ultimatum zu formulieren, weitere Tage verstrichen, ehe Kaiser Franz Joseph den Text genehmigte und unterzeichnete. Am 23.Juli 1914, exakt um 18 Uhr, wurde das Ultimatum in der serbischen Hauptstadt Belgrad überreicht. Es war auf nur 48 Stunden befristet, und um sicherzustellen, dass nur ja niemand mehr vermittelnd eingreifen konnte, ließ man weitere fünfzehn Stunden verrinnen, ehe man den Text auch den anderen Großmächten mitteilte.

Die Meldung sorgte für Entsetzen, denn das Ultimatum enthielt Forderungen, welche die Autonomie Serbiens grob verletzten und nur noch die Wahl ließen zwischen Unterwerfung und Krieg. Dass Russland und seine Verbündeten einer solchen ›Strafaktion‹ nicht regungslos zuschauen konnten, wurde in Kauf genommen, und die politischen Kommentatoren verbreiteten sich ganz offen darüber. Dennoch herrschte in Österreich vielerorts ein Gefühl der Erleichterung. Zeit, allzu viel Zeit ließen sich die Herren in Wien, beinahe vier Wochen waren bereits vergangen seit dem Attentat, und die Tagespresse geriet allmählich in Verlegenheit zu erklären, warum noch immer nichts passierte. Man müsse die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten, lautete die offizielle Begründung, aber daran glaubte niemand. Es war doch ohnehin klar, dass der Mord von Sarajevo, wenn nicht von Serben organisiert, dann zumindest durch serbische Propaganda mittelbar herbeigeführt worden war; was also gab es noch zu untersuchen? Noch unverständlicher erschien, dass Leute wie Conrad von Hötzendorf und der k. u. k. Kriegsminister Krobatin, die doch ein gewichtiges Wort mitzureden hatten, ausgerechnet jetzt in Urlaub fuhren.

Doch der Eindruck, in Wien werde nicht gearbeitet, täuschte. Nicht nur waren die wesentlichen Entscheidungen längst getroffen und mit Deutschland abgesprochen (wovon erstaunlicherweise nichts an die Öffentlichkeit durchsickerte), es hatte auch gewichtige Gründe dafür gegeben, sich noch ein paar Tage ruhig zu verhalten. Poincaré, der französische Präsident, absolvierte soeben einen Staatsbesuch beim russischen Zaren, und es wäre taktisch höchst unklug gewesen, ausgerechnet in einem Augenblick loszuschlagen, in dem die beiden Hauptgegner {510}der österreichischen Politik vertraulich beieinander saßen. Dass die österreichischen Diplomaten sehr genau wussten, wie Diplomaten sich in einer solchen Situation verhalten, und wie entschlossen sie waren, nichts, gar nichts dem Zufall zu überlassen, zeigt die Zusammenfassung eines Gesprächs zwischen Graf Tisza und dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold, in dem über den Zeitpunkt des Ultimatums und damit auch über den des Kriegsbeginns endgültig entschieden wurde:

»Es habe Einmütigkeit darüber in der heutigen Besprechung bestanden, dass es empfehlenswert sei, jedenfalls die Abfahrt des Herrn Poincaré aus Petersburg abzuwarten, ehe man den Schritt in Belgrad tue. Denn es sei wenn möglich zu vermeiden, dass in Petersburg bei Champagnerstimmung und unter dem Einfluss der Herren Poincaré, Iswolsky [russischer Botschafter in Paris] und der Grossfürsten eine Verbrüderung gefeiert werde, die dann die Stellungnahme beider Reiche beeinflussen und womöglich festlegen würde. Es sei auch gut, wenn die Toaste noch vor Übergabe der Note erledigt seien.« [483]  

»Schade!«, schrieb Kaiser Wilhelm II. an den Rand dieses Berichts. Es ging ihm nicht schnell genug. Aber die Wiener hatten ja Recht. Also erkundigte man sich, wann denn Herr Poincaré aus Sankt Petersburg abreisen würde, und auf genau diese Stunde wurde die Übergabe des Ultimatums festgelegt. Es war Präzisionsarbeit.

Und die Urlaube? Sie waren angeordnet; eine Maßnahme der Österreicher, um das Ausland in Sicherheit zu wiegen. Das war klug, so klug, dass die Deutschen es ihnen sofort gleichtaten. Weniger klug waren die Serben. Auch ihr Generalstabschef befand sich in Urlaub – auf feindlichem Gebiet, in Österreich.


Beobachtet man die letzten kriegsauslösenden Maßnahmen der Verantwortlichen in Wien und Berlin, so scheint es, als sei hier wirklich an alles gedacht worden, an alles, nur nicht an die Folgen. Transportprobleme der Truppen wurden weit gründlicher diskutiert als die Frage, was nach einem gewonnenen Krieg mit dem Erzfeind Serbien eigentlich geschehen solle. Längst hatten die k. u. k. Telefonistinnen die Anweisung in Händen, dass sie Ferngespräche zu unterbinden hatten, in denen vom Krieg die Rede war – da war noch immer nicht geklärt, an wie vielen Fronten jener Krieg eigentlich geführt werden würde. Eine ebenso perfektionistische wie ahnungslose Betriebsamkeit schien die Szene zu beherrschen, förmlich die Karikatur einer blinden, instrumentellen {511}Vernunft, die Fahrpläne erstellt, das Fahren aber anderen überlässt.

Der zweite Blick enthüllt freilich ein anderes Bild, und die Quellen lassen keinen Zweifel daran, dass hier durchaus nicht nur Kriegstechniker am Werk waren. Sowohl im Ministerrat als auch in der militärischen Führung Österreich-Ungarns war man sich völlig im Klaren darüber, dass es diesmal um mehr ging als um die Abstrafung eines Unruhestifters, um mehr auch als um die mögliche Entfesselung eines dritten Balkankriegs. Bereits im Februar 1913 hatte der Thronfolger Franz Ferdinand alle antiserbischen Kriegspläne für »Wahnsinn« erklärt: »Wenn wir gegen Serbien auftreten, so steht Rußland hinter ihm, und wir haben den Krieg mit Rußland. Sollen sich der Kaiser von Österreich und der Zar gegenseitig vom Thron stoßen und der Revolution die Bahn freigeben?« [484]  Prophetische Worte. Noch nüchterner indessen argumentierte Graf Tisza am 8.Juli 1914, zu einem Zeitpunkt, als der Krieg gegen Serbien bereits beschlossene Sache war. Dieser Angriff, warnte er seinen Kaiser, führe unweigerlich einen »Weltkrieg« herbei. Denn das militärisch erstarkte Russland werde nicht mehr, wie fünf Jahre zuvor bei der österreichischen Annexion Bosniens und der Herzegowina, untätig zusehen, wie sein slawischer Vorposten gedemütigt wird. Österreich würde einen russischen Gegenschlag zu gewärtigen haben, und dieser wiederum werde die europäische Bündnismechanik auslösen: Deutschland gegen Russland, Frankreich gegen Deutschland.

Es gab weitere, völlig unkalkulierbare Risiken: vor allem das Verhalten Italiens, das zwar durch geheime politische Absprachen an Österreich und Deutschland gebunden war, das aber in letzter Zeit immer offener als Konkurrent Österreichs auftrat. Selbst Conrad von Hötzendorf, dem die russische Gefahr völlig bewusst war, musste einräumen, dass ein Krieg an drei Fronten (zu dem es dann im Mai 1915 tatsächlich kommen sollte) nicht zu gewinnen war. Und dennoch blieb er dabei, dass es jetzt erst einmal gegen Serbien gehen müsse; dann werde man weitersehen. »Im Jahr 1908/09«, schrieb er kurz vor Kriegsbeginn, »wäre es ein Spiel mit aufgelegten Karten gewesen, 1912/13 noch ein Spiel mit Chancen, jetzt ist es ein va bancque-Spiel.« [485]  Die Herren saßen beim Roulette, und sie wussten es.

Nicht weniger risikofreudig waren die deutschen Militärs. Es ist immer wieder gefragt worden, was eigentlich die Verantwortlichen {512}im Deutschen Reich, die doch ständig von der drohenden ›Einkreisung‹ sprachen, dazu bewog, derart fahrlässig und selbstgewiss den militärischen Zusammenschluss der gegnerischen Großmächte förmlich zu erzwingen. Nun, die Deutschen hatten ihren Schlieffenplan, lautet die Antwort aus dem Schulbuch: einen militärstrategischen Plan, der vorsah, im Kriegsfall die beiden wichtigsten Gegner nacheinander zu besiegen, nämlich binnen weniger Tage von Norden her, über belgisches Gebiet, die französische Armee zu umfassen und zu vernichten und erst dann die geballte militärische Energie gegen Russland zu richten.

Neuere historische Forschungen lassen keinen Zweifel mehr daran, dass es sich hier um eine Legende handelt. [486]  Selbst diejenigen Militärs, die sich 1914 noch immer einbildeten, der Verlauf eines modernen Krieges lasse sich über mehrere Wochen vorhersehen, zweifelten daran, dass ein derartiger Plan den Krieg entscheiden könne. Ganz zu schweigen davon, dass er nur funktionieren konnte, wenn die englische Regierung ruhig dabei zusah – was sie keineswegs tun würde, wie sie deutlich genug zu verstehen gab. An den kurzen Krieg, den Wilhelm II. seinen Untertanen versprach, glaubte daher in seiner Umgebung wohl schon lange niemand mehr, und es ist wahrhaft erschütternd nachzulesen, mit welch bewusstem Fatalismus gerade die aggressivsten Befürworter des Krieges in die Katastrophe steuerten. Ausgerechnet der deutsche Generalstabschef Helmut von Moltke, der wie sein österreichischer Kollege Conrad seit Jahren keine Gelegenheit ausgelassen hatte, irgendeinen ›Präventivkrieg‹ zu fordern, sprach am 28.Juli 1914 vom drohenden »Weltkrieg«, »der die Kultur fast des gesamten Europas auf Jahrzehnte hinaus vernichten wird«. Und der preußische Kriegsminister Falkenhayn, dem selbst Moltke noch zu zögerlich war, äußerte am 4.August, am Tag des deutschen Überfalls auf Belgien: »Wenn wir auch darüber zugrunde gehen, schön war’s doch.« – Europa in den Händen von Spielern.


Wie später die Mehrzahl der Historiker trauten auch die unmittelbar Betroffenen der militärischen und politischen Führung von 1914 ein hohes Maß an strategischer Intelligenz zu, unabhängig von ihrer Einstellung zum Krieg. ›Die wissen, was sie tun, die haben einen Plan‹, so lautete der Tenor derjenigen, die dem Tag entgegenfieberten, an dem es endlich losgehen sollte. Während die anderen, die diesen Tag eher {513}fürchteten, sich an den Gedanken klammerten, zu einem Krieg würden es die Oberen nicht kommen lassen, ›denn das wäre ja der Weltkrieg‹. Niemand jedoch, auch nicht der hellsichtige Karl Kraus oder der radikale Demokrat Franz Pfemfert, hatte bei Kriegsbeginn eine Vorstellung von der tatsächlich herrschenden mörderischen Gleichgültigkeit gegenüber den Tatsachen wie gegenüber den ›menschlichen Ressourcen‹.

Politiker und Militärs wussten, was sie taten, die Bevölkerung aber war ahnungslos. Eine kritische Öffentlichkeit existierte nicht, die Monarchen insbesondere waren unantastbar und galten als letzte verlässliche Instanz, auch wenn man wusste, dass sie keineswegs alle Fäden in der Hand hielten und manches unterschrieben, was sie nicht gelesen hatten. [487]  Allerdings herrschte formell Pressefreiheit, und es war durchaus möglich, das System auch an empfindlichen Nervenpunkten zu treffen. So schrieb Pfemfert unter dem Titel ›Los von Österreich!‹ bereits eineinhalb Jahre vor dem Krieg über die »Gemeingefährlichkeit der Deutsch-Österreichischen Waffensolidarität«. [488]  Die Tagespresse freilich war weit entfernt von den heutigen Möglichkeiten eines ›investigativen‹ Journalismus und bot ein nebelhaftes und zugleich verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Es wimmelte von unbestätigten Gerüchten ›aus informierten Kreisen‹, und da das Netz selbständiger Korrespondenten noch äußerst dünn war, zitierten sich die Zeitungen ausgiebig gegenseitig oder schnappten nach den Brocken, die ihnen auf den seltenen Pressekonferenzen regierungsamtlicher Stellen hingeworfen wurden. Und soweit es die Außenpolitik betraf, erging es den sozialdemokratischen Blättern keineswegs anders als den weit in der Überzahl befindlichen liberalen, konservativen und katholischen Tageszeitungen.

Auch im Zentrum des Unglücks, in Wien, herrschte eine – gemessen an der Höhe des Einsatzes – geradezu groteske Unwissenheit. Was eigentlich in der ominösen, seit Wochen angekündigten ›Note‹ an Serbien stand, erfuhren die Leser der Neuen Freien Presse wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums. Ausführlich hingegen wurde über die erwünschte ›Lokalisierung‹ des Konflikts spekuliert – über die Nichteinmischung europäischer Staaten also –, und dieser Propagandabegriff der österreichischen Diplomatie prangte auf beinahe jedem Titelblatt. »Für die Lokalisierung, gegen den Weltkrieg«, lautete die Schlagzeile des Prager Tagblatts am Morgen des 27.Juli – zu einem {514}Zeitpunkt, da längst mobilisiert wurde und die Presse der Kriegszensur unterworfen war. Diese Zensur freilich ging äußerst plump vor, sie hinterließ weiße Flecken auf den Zeitungsseiten, und der Leser, der an der Wahrheit noch irgend interessiert war, konnte sich manches zusammenreimen. Zu schweigen davon, dass die Zensoren noch längst nicht die Mittel hatten, sich auch der Erinnerung zu bemächtigen. Dass Soldaten aus Niederösterreich mittels Munition der ›Hirtenberger Patronen-, Zündhütchen- und Metallwarenfabrik‹ getötet wurden; dass die Arbeiter der ›Österreichischen Waffenfabriksgesellschaft Steyr‹, die an die Front nach Serbien marschierten, dort von 200 000 gegnerischen Gewehren erwartet wurden, die sie kaum ein halbes Jahr zuvor selbst produziert hatten – etwas Derartiges hätte kein politischer Journalist zu schreiben gewagt. Die Leser aber hätten nur zu blättern brauchen: im Wirtschaftsteil.

»Krieg stand für uns etwa auf einer Linie mit anderen, heute halbvergessenen Traumideen der Menschheit, auf der gleichen Linie also wie: das Perpetuum mobile oder das große Elixier, die Goldmacher-Tinktur der Alchemisten, die Arznei, die ewiges Leben gibt. Allenfalls war Krieg an der Peripherie zivilisierten Lebens möglich, in zurückgebliebenen Balkanländern, in den Kolonien. Unter friedlich arbeitenden, durch und durch kultivierten Völkern aber wirkte er als utopischer Unsinn. Obwohl unsere Väter ihn noch 1866 und 1870 erlebt hatten. Wir aber waren die verwöhnte Generation. […] Der Streit um Richard Wagners Musik, um die Grundlagen von Judentum und Christentum, um impressionistische Malerei etc. war viel wichtiger für uns. Und nun hatte diese Friedenszeit plötzlich ihr Ende gefunden. Nie ist eine Generation so brutal von den Tatsachen überrannt worden.« [489]  

Wen er mit »wir« hier eigentlich meinte, ließ Max Brod offen – doch seine Schilderung kennzeichnet treffend eine apolitische Haltung, die in seiner näheren Umgebung zweifellos verbreitet war, auch noch in den letzten Wochen des Friedens. Zwar hatte es schon im Jahr zuvor und unter dem Druck der Ereignisse immer wieder Kaffeehausgespräche darüber gegeben, ob nicht Österreich doch noch in die Balkankriege hineingezogen würde, doch das war, als sorge man sich um die Ansteckung an einer fremden Seuche. Dass es gerade die »kultivierten« Völker waren, welche die Gewalt in die Protektorate und Kolonien trugen, war ein peripheres Problem, an das man sich nur gelegentlich erinnerte, vergleichbar dem Tierschutz, und selbst erklärte Pazifisten hätten daraus wohl kaum den Schluss gezogen, dass eben {515}diese Gewalt sich so bald schon gegen die eigene, europäische Kultur richten würde. In der Planung des individuellen Lebens, in den Phantasien und Wunschträumen, welche die eigene Zukunft umkreisten, war der Krieg gänzlich abwesend: Das galt für ›Gediente‹ wie ›Ungediente‹, für Juden wie Nichtjuden, es galt für Brod, Baum, Werfel, Haas, Weiß, Musil, Wolff, für die Hellerauer Szene, den Kreis um Die Fackel, für die Prager Zionisten. Und es galt, wie sich beweisen lässt, ebenso für Kafka.


Im Innersten vereist nach dem Scherbengericht im Askanischen Hof, unglücklich, zugleich aber den quälenden Zweifeln gewaltsam enthoben und darum eigentümlich gestärkt, aufnahmefähig und konzentriert, war Kafka an die Ostsee gereist, seinem Urlaubsziel entgegen. Was sollte nun werden? Felices Schwester Erna hatte in letzter Stunde vor dem Abschied versucht, ihn abzulenken und zu trösten, doch nicht Trost war es, wonach ihn jetzt verlangte, und Ablenkung hatte er wahrhaftig genug gehabt. Eine Leere tat sich auf, die es auszufüllen galt. Sich darauf zu besinnen, wer er war, ohne Felice, das war die Aufgabe.

Auch Ernst Weiß und dessen Geliebte ›Hanni‹ Bleschke (die künftige Schauspielerin Rahel Sanzara) waren auf dem Weg in die Sommerferien, und da sich die Wege ohnehin kreuzten, hatten sie mit Kafka ein Treffen in Lübeck vereinbart. Seine Befriedigung über den längst fälligen Eklat konnte Weiß wohl kaum verbergen: Wie hatte Kafka nur jemals hoffen können, sich in eine derart stockbürgerliche Umgebung einfügen, einer derart tüchtigen und nichts als tüchtigen Frau sich anpassen zu können? Er hatte ihn gewarnt, und er hatte Recht behalten. Doch er muss auch gespürt haben, dass Kafka jetzt eine Ruhe ausstrahlte, die verdächtig war. Vielleicht war es besser, ihn nicht allein zu lassen. Und so überredete er ihn, sein Quartier in Gleschendorf abzusagen, um gemeinsam mit ihm und Hanni nach Dänemark zu fahren, in das Seebad Marielyst auf der Insel Falster.

Kafka ließ sich mitziehen, doch ganz ohne Reue ging es auch diesmal nicht ab. Die Sicherheit, mit der Weiß alle praktischen Fragen anpackte, wirkte ansteckend, wenngleich er, nicht anders als Brod, ein wenig zum Monolog neigte. Er hatte das Manuskript seines zweiten Romans bei sich, DER KAMPF, Kafka kannte den Text bereits, und es war gewiss nicht die schlechteste Beschäftigung, Weiß ein wenig bei {516}den Korrekturen zu helfen, mit Sprache zu arbeiten, solange eine eigene Arbeit noch nicht in Sicht war. Andererseits wusste sich Weiß, der gute Ratgeber, offenbar selbst nicht zu raten, denn seine Streitigkeiten mit der Geliebten waren nervtötend, und überdies hatte er einen Ort und eine Unterkunft gewählt, die schlechterdings trostlos waren und für einen Vegetarier eine Zumutung (das strohgedeckte ›Badehotel‹, einst ein Bauernhof). Keine vierundzwanzig Stunden dauerte es, ehe Kafka schon wieder den Koffer packte und nur mit Mühe an der Abreise gehindert werden konnte.

Es war jetzt eine Entscheidung zu treffen, jetzt, da aus dem furchtbaren Niedergang vielleicht noch Schwungkraft zu holen war. Die Trennung von Felice hatte er nach Prag schon gemeldet, gleich am folgenden Tag, über weitere Pläne aber noch geschwiegen. Nun, die Eltern wussten, mit welchen Gedanken er spielte, mit Kündigung hatte er ja schon ausdrücklich gedroht, selbst der ›Madrider Onkel‹ war darüber schon im Bilde und hatte Franz den mahnenden Finger gezeigt. Die Kafkas wussten, ihr Sohn war beeinflussbar, und ernste Vorhaltungen taten stets ihre Wirkung, wenn auch nur für eine gewisse Frist. Zu welch steinerner Konsequenz er aber fähig war, das hatten sie noch niemals erfahren.

Es muss ein recht nachhaltiger Schock gewesen sein, als Kafkas Eltern, die seit Tagen hin und her rechneten, welch entsetzliche Kosten die abgesagte Hochzeit, vor allem aber die sinnlos gemietete Prager Wohnung nach sich ziehen würde, nun auch noch das folgende umfängliche Plädoyer vor Augen bekamen:

»Seht, ein wirkliches schweres Leid habe ich Euch vielleicht noch nicht gemacht, es müsste denn sein, dass diese Entlobung ein solches ist, von der Ferne kann ich es nicht so beurteilen. Aber eine wirkliche dauernde Freude habe ich euch noch viel weniger gemacht und das, glaubt mir, nur aus dem Grunde, weil ich selbst mir diese Freude nicht dauernd machen konnte. Warum das so ist, wirst gerade Du, Vater, trotzdem Du das Eigentliche, was ich will, nicht anerkennen kannst, am leichtesten verstehn. Du erzählst manchmal, wie schlecht es Dir in Deinen ersten Anfängen gegangen ist. Glaubst Du nicht, dass das eine gute Erziehung zur Selbstachtung und Zufriedenheit war? Glaubst Du nicht, übrigens hast Du es auch schon geradezu gesagt, dass es mir zu gut gegangen ist? Ich bin bis jetzt durchaus in Unselbständigkeit und äusserlichem Wohlbehagen aufgewachsen. Glaubst Du nicht, dass das für meine Natur gar nicht gut gewesen ist, so gütig und lieb es auch von allen war, die dafür sorgten? Gewiss es gibt Menschen, die sich ihre Selbstständigkeit {517}überall zu sichern verstehn, ich gehöre aber nicht zu ihnen. Allerdings gibt es auch Menschen, die ihre Unselbständigkeit nirgends verlieren, aber nachzuprüfen, ob ich zu diesen doch nicht gehöre, scheint mir kein Versuch zu schade. Auch der Einwand, dass ich zu einem solchen Versuch zu alt bin, gilt nicht. Ich bin jünger als es den Anschein hat. Es ist die einzige gute Wirkung der Unselbständigkeit, dass sie jung erhält. Allerdings nur dann, wenn sie ein Ende nimmt.
Im Bureau werde ich aber diese Besserung niemals erreichen können. Überhaupt in Prag nicht. Hier ist alles darauf angelegt, mich, den im Grunde nach Unselbstständigkeit verlangenden Menschen, darin zu erhalten. Es wird mir alles so nahe angeboten. Das Bureau ist mir sehr lästig und oft unerträglich, aber im Grunde doch leicht. Ich verdiene auf diese leichte Weise mehr als ich brauche. Wozu? Für wen? Ich werde auf der Gehaltsleiter weitersteigen. Zu welchem Zweck? Ist mir diese Arbeit nicht entsprechend und bringt sie mir nicht einmal Selbstständigkeit und Selbstachtung als Lohn, warum werfe ich sie nicht weg? […] Ich kann ausserhalb Prags alles gewinnen, d. h. ich kann ein selbständiger ruhiger Mensch werden, der alle seine Fähigkeiten ausnützt und als Lohn guter und wahrhaftiger Arbeit das Gefühl wirklichen Lebendigseins und dauernder Zufriedenheit bekommt. Ein solcher Mensch wird sich – es wird nicht der kleinste Gewinn sein – auch zu Euch besser stellen. Ihr werdet einen Sohn haben, dessen einzelne Handlungen Ihr vielleicht nicht billigen werdet, mit dem ihr aber im Ganzen zufrieden sein werdet, denn Ihr werdet Euch sagen müssen: ›Er tut was er kann.‹ Dieses Gefühl habt Ihr heute nicht, mit Recht.
Die Ausführung meines Planes denke ich mir so: Ich habe 5000 K. Sie ermöglichen mir, irgendwo in Deutschland in Berlin oder München 2 Jahre, wenn es sein muss, ohne Geldverdienst zu leben. Diese 2 Jahre ermöglichen mir, litterarisch zu arbeiten und das aus mir herauszubringen, was ich in Prag zwischen innerer Schlaffheit und äusserer Störung in dieser Deutlichkeit, Fülle und Einheitlichkeit nicht erreichen könnte. Diese litterarische Arbeit wird es mir ermöglichen, nach diesen 2 Jahren von eigenem Verdienst zu leben und sei es auch noch so bescheiden. Sei es aber auch noch so bescheiden, es wird unvergleichlich sein zu dem Leben, das ich jetzt in Prag führe und das mich dort für späterhin erwartet.« [490]  

Ein unwiderstehlicher Brief, dessen Abgeklärtheit, dessen gelassenes Aufnehmen und Abweisen der elterlichen Forderungen den berühmteren BRIEF AN DEN VATER schon vorwegzunehmen scheint. Und eine überlegene Strategie wird hier kenntlich, eine spielerische ›Identifikation mit dem Aggressor‹, die entwaffnend wirkt und die Kafkas Vater gewiss mehr als nur ›aufregte‹. Bei jedem Widerspruch, gegen jeden scheinbaren Widerstand seiner Kinder hatte er jahraus, {518}jahrein die immer selbe Phrase parat gehabt, jenes mit Donnerstimme in den Raum gestellte ›Euch geht’s zu gut!‹. Nun, sein Sohn dachte nicht daran, das zu leugnen. Er nahm das Urteil auf sich, wie er es immer tat. Doch dessen Spitze kehrte er jetzt plötzlich nach außen, und seine viel leisere Stimme drang tiefer: ›Mir geht es zu gut? Gewiss, und darum wollen wir das jetzt ändern.‹ Wie Hohn muss es Hermann Kafka erschienen sein, dass hier jemand allen Ernstes fragte, wozu Geldverdienen eigentlich nütze sei, und sich mit solchem Wahnwitz auch noch auf seine, des Vaters, eigenen Worte berief. »Undankbarkeit, Überspanntheit, Ungehorsam, Verrat, Verrücktheit«: die hilflose Reaktion des Patriarchen auf diese überraschende Attacke hat Kafka später erinnert und protokolliert. [491]  

Die Ruhe indessen, die Kafkas Brief an die Eltern ausstrahlt und die in beinahe unheimlichem Gegensatz steht zu den Sturzflügen der Felice- und Grete-Briefe noch wenige Wochen, ja Tage zuvor, diese Ruhe hatte ihren Preis. Sie war der Konzentration abgerungen, die Kafka jetzt mit hermetischer Ausschließlichkeit auf sich selbst richtete. Nur noch der eigenen Logik zu folgen, niemanden und nichts mehr hineinreden zu lassen, nicht einmal die moralischen Forderungen des ›Lebens‹, dazu war Kafka entschlossen, seit er im Askanischen Hof seine letzte, seine allerletzte Rechnung beglich. Doch der Zeitpunkt, den er wählte, um – wieder einmal – die gepolsterten Türen von innen zu verschließen, hätte ungeeigneter nicht sein können.

Das genaue Datum, an dem Kafka seinen Brief an die Eltern zum dänischen Postamt brachte, kennen wir nicht; es war wohl der 20. oder 21.Juli. Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur über den Wortlaut des österreichischen Ultimatums entschieden, das den Krieg bringen sollte, es war auch schon jenes fatale kaiserliche Manifest ›An meine Völker!‹ zu Papier gebracht, mit dem Franz Joseph seine unwissenden Untertanen eine Woche später in die Hölle schicken würde. »Ich habe alles geprüft und erwogen«: Bald würden diese berühmten und später berüchtigten Worte an allen Litfasssäulen des Reichs kleben, in elf Sprachen.

Doch wer hätte das ahnen können? Man ist versucht, Kafka ein geradezu bizarres Missgeschick zuzubilligen: Die längst überfällige Entscheidung, ein selbstbestimmtes Leben zu beginnen, trifft er in genau dem Augenblick, in dem sie durch äußere, übermächtige Ereignisse durchkreuzt wird, in dem jegliche Selbstbestimmung suspendiert {519}wird. Ein Weltkrieg musste es sein, der Kafka am Verlassen des väterlichen Reviers hinderte. Er wird nur noch die Wahl haben zwischen Kriegsdienst und Büro. Er wird Anträge ausfüllen müssen, um besuchsweise über die Grenze zu dürfen. Er wird nach Deutschland nicht mehr telefonieren können. Die Zeitschriften, von denen er sich das Existenzminimum erhoffte, werden verstummen oder sich einfügen in den patriotischen Chor. Er wird gefangen sein in Prag, nicht mehr seelisch, nein, wirklich.

Kafka hatte Pech, gewiss. Doch bestand dieses Pech tatsächlich darin, dass der Weltkrieg seiner Kündigung um einen Tag zuvorkam? Hätte Felice Bauer im Frühjahr 1914 ›Nein‹ gesagt und hätte Kafka tatsächlich, wie es für diesen Fall beschlossen war, mit der Unterstützung Musils eine literarische Existenz in Berlin begründet, so hätte er bald nach Kriegsbeginn ohnehin zurückkehren müssen und wäre – ohne Beziehungen, ohne die Rückendeckung seiner Vorgesetzten – unweigerlich zu einem Ersatzrädchen des österreichischen Landsturms geworden.

Nein, Kafkas Unglück war, dass die letzte Anstrengung, die der neuerliche Entschluss forderte, jedes andere Interesse aufsaugte; dass der Krieg in einem Augenblick unvermeidlich wurde, da Kafka ihn nicht mehr wahrzunehmen, ihn nicht mehr zu denken vermochte. Er beobachtete die Gäste der dänischen Pension, schilderte im Tagebuch ihre Gemeinschaft und ihre Vereinzelung, ihre Gesten und Blicke. Worüber sie sprachen, notierte er nicht, obgleich er das vielfach hinund hergeworfene Wort ›Krieg‹ schlechterdings nicht überhört haben kann. Las er keine Tageszeitungen? Offenbar nicht, sonst hätte er Kriegsgefahr, Börsenfieber, Angst, vorauseilende Propaganda auf beinahe jeder Seite entdeckt. Ist es denkbar, dass zwischen Kafka, Ernst Weiß und Hanni Bleschke niemals zur Sprache kam, was zu Hause vor sich ging? Wir wissen es nicht. Der große, gelassene Brief an die Eltern aber war Makulatur in dem Augenblick, da er unterzeichnet wurde.

Am Wochenende des 25./26.Juli war Kafkas Urlaub zu Ende. Er reiste nach Berlin, traf nochmals mit Erna zusammen, dann weiter nach Prag. Im Zug saßen bereits Österreicher, die ›zu den Waffen gerufen‹ waren und ihre Ferien vorzeitig abbrechen mussten. Es war der letzte Tag, da noch die Fernzüge nach Fahrplan verkehrten, der letzte Tag, da nicht in jedem Bahnhof ›Die Wacht am Rhein‹ erklang. Als {520}Kafka in Prag eintraf, fand er sich im Wirbel einer erregten Menschenmenge. Alles war auf den Straßen, zahlreiche Geschäfte trotz des Sonntags geöffnet. Das 8. Korps, dessen Kommandantur sich auf dem Prager Hradschin befand, war bereits mobilisiert, darum flutete jetzt ganz Böhmen herein in die Stadt. Überall Soldatenkoffer, graue Feldmonturen, umhereilende Offiziere, klirrende Säbel, Geschrei, Gesänge, Abschiedsszenen. Mitten darin ein staunender, leicht gebräunter Versicherungsbeamter im Reiseanzug und mit kleinem Gepäck.

Österreichs Standpunkt sei »unabänderlich«, hieß es tags darauf in der Zeitung. Und Revolver seien in ganz Prag ausverkauft.


Die Kriegsbegeisterung Ende Juli, Anfang August 1914 ist eines der unheimlichsten, eines der am schwersten zu erklärenden und nachzufühlenden Massenphänomene des zwanzigsten Jahrhunderts. Keine Humanwissenschaft, die nicht schon bemüht worden wäre, kaum ein bedeutender Historiker der jüngsten Geschichte, der sich daran nicht schon versucht hätte. Doch der unvermittelte Taumel, der sinnlose Hass, die absolute Siegesgewissheit bleiben ein Rätsel: All das erscheint uns wie Äußerungen einer untergegangenen Religion, gut erforscht und dennoch fremd und fern.

Es gibt eine ganze Reihe von Filtern, die ein Jahrhundert später die wirklichkeitsgetreue Wahrnehmung jener Vorgänge überaus schwer machen. An erster Stelle natürlich die Tatsache, dass wir wissen, wie es ausging. Jeder, wirklich jeder Versuch, aus einer modernen Massengesellschaft eine begeisterte ›Gemeinschaft‹ zu formen, endete bislang in Blutbädern, in Terror und entsetzlicher Ernüchterung. Wir wissen das. Im August 1914 hingegen gab es mit derartigen psychosozialen Großversuchen noch keinerlei Erfahrung, und das Versprechen und die Versuchung der Gemeinschaft waren übermächtig – ganz unabhängig davon, wie romantisch oder wie realistisch man sich den Krieg nun vorstellte.

Ein zweiter Filter ist unser grundsätzlich gewandeltes Verhältnis zu allem, was sich jenseits der eigenen nationalen Grenzen abspielt. Gewiss, die wechselseitigen Kenntnisse zwischen Deutschen und Franzosen, Deutschen und Briten sind nach wie vor dürftig, gemessen an ihrer geographischen und historischen Nähe. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch kannte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung das ›Ausland‹ nur aus der Zeitung, häufig in anekdotisch oder {521}folkloristisch aufbereiteter Form. Ein paar Bildungsbürger reisten nach Paris oder Rom, ein paar Geschäftsleute nach London. Sprachen wurden nicht zur zweckfreien Verständigung erlernt, sondern aus wirtschaftlichen Gründen, um korrespondieren und verhandeln zu können (wie Kafka das Italienische). Reisen wiederum war teuer und vor allem zeitaufwendig, und kein Mensch wäre auf den Gedanken verfallen, ins Osmanische Reich zu fahren, nur um dort sonnige Ferien zu verbringen. Eigene Erfahrung des Fremden war selten: Damit aber war das politische und kulturelle Weltbild im höchsten Grade abhängig von den medialen Kopien, die Zeitungen, Zeitschriften und Wochenschauen im Kino lieferten – eine unermessliche Projektionsfläche, auf der dann im Krieg das Gespenst des ›perfiden‹ Engländers, des ›grausamen‹ Slawen und des ›feigen‹ Italieners erschien, ohne dass eine hinreichende Zahl von Menschen dem ein eigenes Bild und damit eine sinnliche, differenziertere Vorstellung hätte entgegenhalten können.

Eine dritte und vielfach noch unterschätzte Schwierigkeit ergibt sich schließlich daraus, dass wir selbst von den medialen Abziehbildern jener Zeit noch durchaus abhängig sind. Wir benötigen sie als Quellen, Beweisstücke, Anschauungsmaterial. In diesen Bildern und Texten aber erscheinen vorwiegend jubelnde Massen, lachende Soldaten, markige Gesten und patriotische Parolen ahnungsloser Journalisten. Unsichtbar und kaum je geschildert bleiben hingegen die Fäuste in den Taschen von Arbeitern, deren Parteiführer jämmerlich versagten, unsichtbar bleibt ebenso das massenhafte, doch sprachlose Leid von Geliebten, Bräuten, Ehefrauen, Müttern, die sich von jungen Männern verabschiedeten mit dem halben Bewusstsein, dass es ein Abschied für lange oder für immer sei. Dieses Leid muss in kleineren Städten und auf dem Land, fernab der großen, rauschhaften Kundgebungen, viel deutlicher und auch öffentlich wahrnehmbar gewesen sein. Die Vorstellung, ein ganzes ›Volk‹ habe sich der Begeisterung für den Krieg hingegeben, ist irreführend, und bezogen auf Österreich-Ungarn, wo auch im Augenblick der größten Spannung die zahlreichen ethnischen Gruppen ganz unterschiedliche Interessen artikulierten, ist sie doppelt falsch. Ganz zu schweigen davon, dass wahrhaft ›blinde‹ Begeisterung wohl eher die Ausnahme war: Schon Tage vor Kriegsbeginn standen die Berliner Schlange nach der Goldmark, und dieselben Menschen, die auf dem Altstädter Ring den ausziehenden {522}Soldaten, den blumengeschmückten Kanonen mit deutschen und tschechischen ›Heil‹-Rufen nachjubelten, waren eben diejenigen, die tags darauf die Prager Banken stürmten, um ihre Sparkonten zu leeren: So überzeugt waren sie vom schnellen Sieg. [492]  

Doch keinesfalls ist es nur der politischen Anpassung, der Propaganda und der Zensur geschuldet, dass wir kriegführende Völker im Rausch erblicken. Verzerrt erscheint die Perspektive vor allem deshalb, weil diejenigen, deren Wort verbreitet und aufbewahrt wurde, Journalisten, Schriftsteller, Gelehrte, kurz: die ›Multiplikatoren‹, sich in überwältigender Mehrzahl tatsächlich affirmativ zum Krieg verhielten: Sie erklärten, warum er unvermeidlich sei, warum Deutschland und Österreich im Recht seien, warum man nur siegen könne und warum der Krieg trotz aller notwendigen Opfer die Erlösung bringe, eine ›sittliche Erneuerung‹, eine ›große Reinigung‹, die dem Volk neue Werte, neues Selbstbewusstsein, eine neue Einheit schaffen werde.

Diese Stimmen sind es, die wir am lautesten vernehmen und die – anders als Millionen verzweifelter Feldpostbriefe – im kulturellen Gedächtnis tiefe Spuren hinterließen. Die unsäglichen Kriegsgedichte von Alfred Kerr, Richard Dehmel und Gerhart Hauptmann. Der von 93 deutschen Intellektuellen unterzeichnete ›Aufruf an die Kulturwelt‹, der den Überfall auf Belgien rechtfertigte. Die patriotischen Verrenkungen Thomas Manns und Hugo von Hofmannsthals. Der in allen deutschen Schulen auswendig gelernte ›Hassgesang gegen England‹. Schließlich der unabsehbare Chor der Leitartikelschreiber, die mit Krieg drohten, als säßen sie selbst an den Hebeln, das journalistische Fußvolk, das den Krieg herbeiredete, die Gelehrten und die Essayisten, die ihn legitimierten und vergoldeten.

Von entscheidender Wirkung war indessen, dass den zwischen Furcht und Begeisterung schwankenden Massen nicht nur Krieg versprochen wurde, sondern zugleich Friede: der Große Burgfriede, die Große Versöhnung. »Ich kenne keine Partei mehr, ich kenne nur Deutsche«: Diese abertausendmal zitierten Worte Wilhelms II., gesprochen am Abend des 1.August, dreißig Minuten nach der Kriegserklärung an Russland, enthielten nichts weniger als eine utopische Verheißung und trafen das kollektive Unbewusste im Innersten. Ein Ende des Parteienstreits, der Klassenkämpfe, der Kälte und Anonymität urbanen Lebens schien in greifbare Nähe gerückt. Alle sollten {523}nun dazugehören: Sozialdemokraten, Juden, Frauen, Arbeitslose, Studenten – jeder hatte seine Aufgabe, seinen Ort, niemand würde mehr kämpfen müssen um die soziale Anerkennung seiner Existenz. Und die Szenen öffentlicher Verbrüderung, die sich in den ersten Tagen des Krieges abspielten, schienen zu bestätigen, dass diese Verheißung sich erfüllte.

In Österreich-Ungarn wurde dieselbe Karte gespielt. Hier waren es vor allem die mit Hass aufgeladenen nationalen Identitäten, die sich wechselseitig bestätigten und verhärteten und an deren Stelle nun eine übergreifende, monarchisch ausgerichtete Gemeinschaft wehrhafter Untertanen treten sollte, mit einer durch äußeren Druck erneuerten ›habsburgischen‹ Identität. Indessen hatte man Schwierigkeiten, die passenden Parolen zu finden. ›Ich kenne keine Nationalitäten mehr … ‹, damit hätte Franz Joseph nicht Jubel, sondern Aufruhr geerntet. »Ich vertraue auf meine Völker«, hieß es daher vorsichtiger im kaiserlichen Kriegsmanifest, »die sich in allen Stürmen stets in Einigkeit und Treue um Meinen Thron geschart haben … « Das war Wunschdenken, jeder wusste es, und überdies klang es lau. Doch der auffallende Mangel an mitreißender Propaganda, den die Tagespresse weder verhehlen noch kompensieren konnte, hatte einen einfachen Grund: Während die Deutschen auf einen gemeinsamen und heimtückischen Feind verweisen konnten, den man in einem – so Thomas Mann – »großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg« [493]  niederringen werde, wusste in Österreich-Ungarn niemand zu sagen, ob der slawische Teil der Bevölkerung, ob Tschechen, Slowaken, Polen, Kroaten, Ukrainer, Ruthenen und Bosnier sich tatsächlich zu einem Krieg gegen die ›slawischen Brüder‹ aus Serbien und Russland würden überreden lassen. Diese Unwägbarkeit betraf vor allem Böhmen, wo nach Ansicht von Außenminister Berchtold eine Revolution drohte, wenn die Öffentlichkeit auf den Krieg nicht hinreichend vorbereitet, und das heißt: wenn nicht ein überzeugender Kriegsanlass geschaffen würde. [494]  

Dieses Misstrauen gegen die tschechische Mehrheit in Böhmen vergiftete die Atmosphäre auch noch nach Kriegsbeginn. In Prag kam es zu Hausdurchsuchungen bei Studenten, die man der ›panslawistischen Agitation‹ verdächtigte. Gerüchte machten die Runde, ganze Regimenter tschechischer Soldaten ergäben sich den Russen, ohne Widerstand zu leisten. Ende November schließlich beantragte das Armeeoberkommando, {524}in Böhmen das Standrecht einzuführen, um Desertionen und Hochverrat nachhaltiger verfolgen zu können. Es fehlte nicht viel, und die Stadt Prag hätte die weiteren vier Kriegsjahre unter der Peitsche einer Militärdiktatur gelebt. Doch der Kaiser lehnte dieses Ansinnen ab – es war nicht schwer vorauszusehen, dass durch derartige Pressionen niemand für die Verteidigung des Reichs zu motivieren war.

Weitaus klüger verhielt sich der böhmische Statthalter Franz Fürst Thun-Hohenstein, der unentwegt die tschechische Treue herausstrich und damit den wenigen, die tatsächlich Sympathien für das feindliche Zarenreich hegten oder gar von einem eigenen Staat träumten, den Wind aus den Segeln nahm. Er wusste, dass die Tschechen vor einem verlorenen Krieg ebenso große Furcht hatten wie die Deutschen, und die Vorstellung eines russischen Einmarschs in Prag oder gar in Wien war ein Albtraum, den auszumalen niemand Lust verspürte. Tatsächlich ließen sich die Tschechen, solange der Krieg noch ein zeitlich überschaubares Abenteuer schien, von der allgemeinen Begeisterung ebenso mitreißen wie alle anderen; es kam zu Verbrüderungen, die nach all dem nationalistischen Zank beinahe undenkbar geworden waren, und mancher erschöpfende Fußmarsch in Richtung Front endete mit einem tschechisch-deutschen Liederabend. Die gemeinsam erlittenen Strapazen erzeugten Nähe, und die von Egon Erwin Kisch beobachtete deprimierte Stimmung seiner tschechischen Kameraden war wohl eher auf die Schikanen der allgegenwärtigen deutschen Vorgesetzten zurückzuführen als auf allgemeine ›Slawophilie‹.

Am stärksten freilich war die patriotische Versuchung dort, wo die gemeinsame Identität am zerbrechlichsten war: bei den Juden. Sämtliche jüdischen Organisationen, vom assimilatorischen ›Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‹ über die religiös Orthodoxen bis hin zu den Zionisten bezogen das unverhoffte Angebot eines Burgfriedens auf sich selbst und nahmen es bedenkenlos an. »Über das Maß der Pflicht hinaus«, so ihre gemeinsame Forderung, sollten Juden jetzt ihre Kräfte in den Dienst des Vaterlands stellen. [495]  Der Krieg bot die Gelegenheit, die eigene Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen und das eigene Lebensrecht innerhalb der ersehnten Gemeinschaft durch das größtmögliche Opfer zu erkaufen: das Leben selbst. Dieser Logik folgten in Deutschland mehr als 10 000 Juden; sie meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst, angefeuert von {525}kriegstrunkenen Autoritäten wie Martin Buber und Maximilian Harden.

Die Juden spürten: Sie wurden gebraucht. Doch das lockende Entgegenkommen der Regierungen, die auffallende Zurückhaltung der antisemitischen Presse waren taktische Maßnahmen, die nicht das Geringste daran änderten, dass im Kriegsalltag, und zwar von Anbeginn, Juden nach wie vor als kollektive Blitzableiter dienten. Wer sich wegen der Opfer, die ihm abverlangt wurden, benachteiligt fühlte, erklärte die Juden für ›Drückeberger‹. Jüdische Offiziere – ein bislang kaum bekannter Anblick – hatten mehr als andere zu leisten, um sich Achtung zu verschaffen. Und breitete sich Skepsis unter den kämpfenden Truppen aus, so waren Juden die ›Flaumacher‹. Paradox, aber charakteristisch eine Bemerkung im Tagebuch Kischs, der ein Vierteljahr nach Kriegsbeginn noch immer an der serbischen Front lag: »Gegen die Juden sei die Stimmung der Bevölkerung [in Prag] erbittert, weil viele Lokalanstellungen mit ihnen besetzt seien. So? Und mir geht wieder vor den vielen Juden hier die Galle heraus.« [496]  

Auch diejenigen, die den Krieg ablehnten, beobachteten die Juden mit Widerwillen – wegen ihres patriotischen Übereifers. Vor allem die kleine Partei der tschechischen ›Realisten‹, die von Tomáš Masaryk geführt wurde, war entsetzt über »diesen kriegerischsten der österreichischen Stämme« [497]  , und angesichts der von Juden angeführten kaisertreuen Umzüge, die Tag für Tag durch die Prager Altstadt lärmten, gab es dazu auch Anlass genug. Masaryk galt als einer der sehr wenigen Politiker, die gegen antisemitische Parolen immun waren, und unvergessen war seine hartnäckige Verteidigung eines angeblichen jüdischen Ritualmörders (›Hilsner-Affäre‹): Damals, im Jahr 1899, hatte man ihm die eigene Lehrtätigkeit zeitweilig unmöglich gemacht und ihn zur Unperson gestempelt. Als Max Brod, Franz Werfel und der Gestaltpsychologe Max Wertheimer bei Kriegsbeginn auf den Gedanken verfielen, ein Friedensappell in letzter Minute könne die Selbstzerfleischung Europas vielleicht noch stoppen, lag es darum nahe, den besonnenen Masaryk aufzusuchen, den wohl einzigen böhmischen Politiker, der auch im westlichen Ausland über einiges Ansehen verfügte. Indessen, eine kalte Dusche erwartete sie hier; denn Masaryk fertigte die Pazifisten mit der Bemerkung ab, sie sollten doch erst einmal ihre kriegsbegeisterten »Landsleute« davon abhalten, weiterhin Tschechen zu denunzieren. [498]  

Fatal war, dass alle Juden, denen man ein baldiges Ende ihres Gemeinschaftsrausches prophezeite, mit einem handfesten politischen Argument zu kontern vermochten: Es ging gegen das Zarenreich und damit gegen das einzige offen antisemitische Regime, das nach wie vor Pogrome, Ritualmordprozesse, Enteignungen und Vertreibungen nicht nur duldete, sondern als Mittel systematischer Unterdrückung einsetzte. Aus jüdischer Sicht war Russland das Reich des Bösen, und je bewusster man sich mit dem Schicksal der dort lebenden Brüder und Schwestern identifizierte, desto größer die Hoffnung und der Glaube, der Krieg – der gewonnene Krieg – werde diesen Zuständen ein Ende bereiten. Es waren naturgemäß die Zionisten, und nicht zuletzt der schwärmerische Prager Kulturzionismus, der dieser Illusion am nachhaltigsten unterlag. Hugo Bergmann, Kafkas Jugendfreund, der bereits am 1.August auf dem Weg zur galizischen Front war, notierte im Tagebuch: »In Pererau erfahre ich, dass der Krieg an Russland erklärt ist. Ich werde begeistert, rufe sogar: nieder mit dem Zaren, und ein Jude antwortet mir: Rache für die Pogrome.« [499]  

Solche Szenen wiederholten sich gewiss tausendfach. Verdrängt oder bestenfalls als ›tragisch‹ apostrophiert wurde, dass den Mittelmächten auch noch Frankreich und England gegenüberstanden. Russland war der Feind, und dorthin gingen alle Gedanken. Abgetan war der Antisemitismus im eigenen Land, und was ein Krieg im Osten für die galizischen Juden bedeutete, deren Heimat unweigerlich zum Schlachtfeld werden würde, was er für die internationale zionistische Organisation bedeutete, deren Mitglieder sich unvermittelt in feindlichen Lagern fanden, was er schließlich den Siedlern in Palästina brachte, denen doch an einem starken, mit den Siegern verbündeten türkischen Regime nicht das Geringste gelegen sein konnte – an all das dachten anfangs nur wenige, und wer daran dachte, behielt es für sich. Zwei Themen waren es, auf die sich die zionistische Selbstwehr in den ersten Kriegsmonaten fast ausschließlich beschränkte: die heroischen Leistungen jüdischer Soldaten und Offiziere, die samt aller erworbenen Auszeichnungen akribisch vermerkt wurden, und die fortdauernde Unterdrückung der Juden Russlands, die jetzt in offenen Terror überging. ›Die Sündflut‹ lautete folgerichtig die Überschrift des Leitartikels vom 27.August: Als habe der Gedanke, Juden zu befreien, auf die Eroberungspläne der Regierungen, auf das Kalkül der Generäle den geringsten Einfluss gehabt. Gewiss, dies war kein {527}jüdischer Krieg, vielmehr der Weltkrieg, alle sprachen und schrieben und schrien vom Weltkrieg, es war das Wort der Stunde, ein neues, furchtbares Wort. Aber auch so groß, so allgemein, so fern wie die Welt. Und darum vermochte jeder diesen Krieg nur von einer, von seiner Seite zu sehen und zu denken – auch die Juden, auch die Zionisten.

Karl Kraus war der Erste, der diese grundlegende Überforderung verstand und artikulierte. ›In dieser großen Zeit‹ lautete der Titel des ersten politischen Kommentars, zu dem er sich nach Kriegsbeginn und nach einer monatelang andauernden Schreibhemmung aufraffte, und die Hörer dieses Textes – den er am 19.November in Wien erstmals vortrug – duckten sich unter der apokalyptischen Wucht der einleitenden Sätze: » … in dieser Zeit«, rief Kraus, »in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht … « Das war das entscheidende Stichwort. Der Große Krieg war anders, anders als alles, was man sich bisher hätte ausmalen können. Und vor allem: Der Große Krieg war zu groß.

Bereits vor einem Eisenbahnunglück mit hundert Opfern weicht die menschliche Einbildungskraft als vor einer inkommensurablen und unerträglichen Wirklichkeit zurück: Machtlos sind hier die Gesten und Worte, die den Tod des Einzelnen umhüllen und ihn einsenken in Erinnerung. Eine jener zu ›Friedenszeiten‹ extrem seltenen Katastrophen, die an einem einzigen Tag Tausende von Menschenleben auslöscht, bedarf Jahrzehnte zu ihrer sozialen und psychischen Bewältigung. Während des Ersten Weltkriegs aber wurden Tag für Tag durchschnittlich etwa 6000 Soldaten getötet, weitere etwa 13 000 verwundet: eine Katastrophe in Permanenz, die über einen unabsehbaren Zeitraum und in jedem beliebigen Augenblick das Fassungsvermögen jedes Betroffenen um Dimensionen überstieg. Hätte irgend jemand im Jahr 1914 das Wissen, die Vorstellungskraft und die Kaltblütigkeit aufgebracht, das Szenario eines länger als vier Jahre währenden hochtechnisierten Gemetzels zu entwerfen – und derartige Prophezeiungen hatte es ja durchaus schon gegeben [500]  –, so hätte er selbst unter den empfindsamsten Zuhörern nur wenige angetroffen, die ein solches Ereignis antizipieren, geschweige denn in seiner Bedeutung hätten erfassen können.

Die von Kraus mit Entsetzen beobachtete Frivolität im Umgang {528}mit dem Krieg, das Auseinanderklaffen von banalsten Alltagssorgen und infernalischen Leiden, die Bereitschaft, sich von politischen Phrasen betäuben zu lassen – all dies wird verständlich allein vor dem Hintergrund jener historisch beispiellosen psychischen Überforderung, deren Spur sich in ungezählten Dokumenten wiederfindet. Was allein noch zählt, bestenfalls, ist das sichtbare Leiden – dasjenige also, das sich im begrenzten Wahrnehmungsradius der Akteure und Zuschauer abspielt. Während alles, was sich hinter diesem Horizont ereignet, und sei es das Furchtbarste, erstaunlich leicht verdrängen, verfälschen und ›begründen‹ lässt. Auch Menschen, deren Beruf und Berufung es doch gerade war, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen – Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler –, vermochten es nicht, diese harte Schale der Einbildungskraft zu sprengen.

Das vielleicht instruktivste Beispiel einer derartigen Überlastung, das aus den ersten Kriegsmonaten überliefert ist, bieten die Tagebücher Stefan Zweigs. »Weltgeschichte ist grauenhaft von der Nähe«, klagt er am 2.August, noch durchaus einsichtig. Doch obwohl Zweig regelmäßig für die staatstreue Neue Freie Presse schrieb und dort vom ersten Kriegstag an selbst die propagandistischen Stichworte lieferte, obwohl er sich der Koalition von Politik und Medien völlig bewusst war und das Unwesen der Zensur genau durchschaute, obwohl er schließlich einen ruhigen Posten im Kriegsarchiv ergatterte und dort seine Tage mit dem stilvollen Ausschmücken österreichischer Heldentaten verbrachte – trotz all dieser Erfahrungen und Kenntnisse erlag er der politischen Phrase nicht weniger als der gemeine Leser, und dies umso eher, je weiter entfernt die Ereignisse waren, geographisch wie psychisch. Zweig bejubelt jeden Sieg der österreichischen und deutschen Armee, er spricht von ›unseren‹ Erfolgen und Taten mit dem Gefühl der Erleichterung, ohne einen Gedanken an den Preis, geschweige an die Legitimität der eingesetzten Gewalt. »Lüttich zuerst vergeblich, dann erfolgreich von den Deutschen gestürmt, – eine Heldentat«, heißt es am 7.August. »Endlich die erste Siegesnachricht aus Serbien«, freut sich Zweig eine Woche später, »leider noch von der Grenze.« Durch die angeblich 10 000 Franzosen, die bei Metz in deutsche Gefangenschaft geraten, fühlt sich Zweig gekräftigt: »Mit einemmale Mut: man ist stolz auf die deutsche Sprache«. Die serbischen Soldaten bezeichnet er als »Horden«, und das Versenken dreier englischer Kreuzer samt 2000 Mann Besatzung durch ein deutsches U-Boot ist {529}ihm »eine Heldentat der Umsicht und der Kühnheit«. Der Feind hat kein Gesicht, auch wenn er qualvoll krepiert. [501]  

Das ändert sich, sobald Zweig gezwungen ist, Niederlagen zu verarbeiten. Da er sich mit den österreichischen Truppen identifiziert, rücken ihm die gefürchteten Rückschläge nahe an den Leib, und an die Stelle der Phrase treten plötzlich Bilder. » … ich muß an das Schlachten denken, die Berge von Lemberg müssen rot sein von Blut«, schreibt er am 2.September, kurz nach dem Bekanntwerden des österreichischen Rückzugs. Tags zuvor, als die zensierten Berichte noch von Sieg gesprochen hatten, war ihm jenes Blut nicht in den Sinn gekommen: »Diesen Tag erlebt zu haben war wahrhaft schön, schon freue ich mich auf morgen. Man spricht von 100 000 Gefangenen.« An die Tausende von Zivilisten, die nahe der Front unter dem bloßen Verdacht der Spionage hingerichtet werden, denkt Zweig mit Genugtuung: »mit dem heißen Eisen muß ausgebrannt werden, was der Schmutz zum Eitern brachte«. Doch als er selbst durch Galizien reist, um Material für eine patriotische Denkschrift zu sammeln, empfindet er Mitleid sogar mit den Gegnern, die ihm hier erstmals vor Augen kommen. [502]  

Diese abnorme Spaltung, über die sich Zweig niemals Rechenschaft ablegt und die er auch in seiner Autobiographie vollständig leugnet, ist für die Stimmung des ersten Kriegsjahres außerordentlich kennzeichnend: Sie allein vermag die besinnungslose Verzweiflung derer begreiflich zu machen, die es ›persönlich‹ traf und die erst dadurch genötigt waren, die Augen zu öffnen. Für viele, die einen Sohn, einen Bruder oder einen Freund verloren, war es ein psychischer Hieb ›aus heiterem Himmel‹ – so tief war die Kluft zwischen dem öffentlichen Gerede und dem, was stets die anderen traf: die Realität des massenhaften, gewaltsamen Todes. Immer absurder der Widerspruch zwischen den Siegesmeldungen auf der ersten Seite der Tagespresse (Niederlagen hießen ›Umgruppierungen‹) und den länger und länger werdenden Listen von Gefallenen im Lokalteil. Die Regierenden begriffen sehr wohl, welcher soziale Zündstoff sich da anhäufte, und solange es irgend ging, versuchten sie die Bevölkerung von der sinnlichen Erfahrung des Krieges abzuschotten. Dann aber trafen die ersten Züge mit Verwundeten ein. Auf den Bahnhöfen in Wien und Prag kam es zu herzzerreißenden Szenen beim Anblick der Verstümmelten. Es wurden Absperrungen errichtet, zur ›Schonung der Krieger‹, {530}nur noch die nächsten Angehörigen durften heran, in Sichtweite des Elends, schließlich wurden Besuche nur noch im Spital erlaubt, hinter Mauern. Es waren die letzten schwachen Barrieren, die letzten dünnen Schleier. Ende 1914 begann das Erwachen.

Ausgerechnet Gerhart Hauptmann, der bekannteste deutsche Schriftsteller seiner Zeit, brachte jenen Mechanismus der Selbsttäuschung auf den gültigen Begriff. Seit dem Erfolg seiner naturalistischen Dramen hatte Hauptmann als Verfechter eines unkorrumpierbaren Humanismus gegolten. Dass er politisch naiv war, galt eher als Bonus und verschaffte ihm Anhänger über alle Klassenschranken hinweg: ein Beleg dafür, dass seine Menschlichkeit authentisch sei und nicht bloßes Programm. Umso größer das Entsetzen, als der Nobelpreisträger und Oxforder Ehrendoktor sich zum Propagandisten einer aggressiven, expansionistischen Kriegspolitik machte und in holprigen Schlachtgesängen die »deutsche Ehr’« beschwor, die es gegen die »drei Räuber« Russland, England und Frankreich zu verteidigen gelte – unsägliche Verse, die eilends in die Lesebücher deutscher Gymnasien übernommen wurden.

Hauptmann war zu alt, um die deutsche Ehre ›mit dem Schwert‹, das heißt mit dem eigenen Leben zu decken. Überdies hatte er Glück: Seine drei Söhne aus erster Ehe, Ivo, Eckart und Klaus, kehrten lebend aus dem Krieg zurück. Ganz in seiner Nähe aber schlug es ein: Der schlesische Schriftsteller und Lehrer Hermann Stehr, einer der wenigen engen, lebenslangen Freunde, verlor seinen ältesten Sohn bereits im ersten Kriegsjahr. Es muss dies für Hauptmann ein Augenblick der Wahrheit gewesen sein. Die Parolen des Aufbruchs, des Sieges hatte er seit langem satt, die Trauerreden, die Zensur, die Brotkarten, den Benzinmangel, diesen grauen Krieg hatte er satt, doch er bedurfte des Schmerzes, um zu begreifen, welche Geistesverfassung es war, die den Krieg nicht enden ließ. Im Tagebuch notierte er: »Am 20.Juni ist Willy Stehr ebenfalls an der Lorettohöhe gefallen. Wer den Blick darauf wendet, der sieht nur Verbrechen, Blut, Mord, Schmerz, Tränen: nur wer ihn wegwendet, sieht: Ruhm, Ehre, Vaterland, Zukunft. Wende weg den Blick.« [503]  


War Kafka immun gegen die Phrase des Krieges? Wir wünschen es uns, weil wir angesichts des unfasslichen Zusammenbruchs von common sense und ziviler Menschlichkeit, von dem die zeitgenössischen {531}Dokumente erzählen, einen geistigen Unterstand suchen, der diesen Anblick erträglich macht. Inmitten dieser Kakophonie eine Stimme zu vernehmen, die rein und authentisch blieb: Es wäre ein Trost. Doch gerade dieses Verlangen nötigt uns, aufmerksam hinzuhören. Zeitungsparolen wie ›Tod fürs Vaterland‹, ›Schulter an Schulter‹, ›Nibelungentreue‹ oder ›jüdische Waffentaten‹ – gewiss, etwas Derartiges kam Kafka weder in den Sinn noch unter die Feder, und ganz undenkbar ist, dass er sich, wie Musil, öffentlich darüber begeistert hätte, »wie schön und brüderlich der Krieg ist« [504]  ; nicht zu reden von den Entgleisungen Gerhart Hauptmanns. Dennoch gab es Stereotypen der öffentlichen Rede, des ›Zeitgeists‹, die Kafkas Überzeugungen und Vorlieben durchaus entgegenkamen. Seine bisweilen naive Bewunderung des deutschen Organisationstalents, das sich von österreichischer ›Schlamperei‹ so wohltuend abhob, wurde durch alles, was er während der Heimreise Ende Juli 1914 beobachtete, nur noch bestärkt; ja, Brod berichtet sogar, Kafka sei als Einziger seines Freundeskreises vom »Endsieg« der Deutschen überzeugt gewesen, so sehr habe ihn »die besonnene, kraftvolle, tapfere Entschlossenheit der Bevölkerung« beeindruckt. [505]  Dass gerade das Vertrauen in die deutsche Überlegenheit einer der wesentlichen Gründe dafür war, dass das Wiener Kabinett unbekümmert in den Weltkrieg steuerte; dass schließlich die allseits gerühmte deutsche Präzision – bis hin zu den von Stefan Zweig bestaunten faltenlosen Laken deutscher Lazarettzüge – die Voraussetzung dafür war, dass zur Verlängerung des Krieges auch noch die letzten Ressourcen verplant und herausgepresst wurden: Dies war die Kehrseite – ein eindrückliches Beispiel für jene Art kultureller Schablonen, die komisch nur im Kleinen sind, während sie das große Ganze in den Abgrund führen.

Kafka war nicht immun, und sofern wir den Erinnerungen seines Schulkameraden Ernst Popper glauben dürfen, erlag auch er der Versuchung, das überwache, zweifelnde Ich zu befrieden und sich, für ein paar Stunden wenigstens, der kollektiven Begeisterung zu überlassen. Am Rande einer der ersten großen Demonstrationen zu Kriegsbeginn, so berichtet Popper, habe er auf dem Wenzelsplatz Kafka erblickt, der »wie in Trance« gewesen sei und »mit unwahrscheinlich geröteten Wangen« »wild in der Luft herumfuchtelte«. Am Abend in einem Kaffeehaus habe er ihn darauf angesprochen, und Kafka habe seine Erregung keineswegs verleugnet: {532}

»›Es war herrlich‹, sagte er mit starker Betonung. Gleich darauf wurde er aber nachdenklich und gab in einigen erklärenden Sätzen zu verstehen, dass sein Begeisterungsausbruch durchaus nicht dem Krieg gegolten habe, den er fürchte und verabscheue, sondern dass es die Größe des patriotischen Massenerlebnisses gewesen sei, die ihn überwältigt hatte.« [506]  

Eine Unterscheidung, die in den ersten Tagen des Krieges charakteristisch war für die liberal gesinnten österreichischen Intellektuellen: Man freute sich, dass das geschwächte, von Nationalismen attackierte multiethnische Habsburgerreich endlich einmal selbstbewusst auftrat, und aus dieser Perspektive konnte man nur den Sieg wünschen. Selbst Sigmund Freud, der zahlreiche internationale Kontakte unterhielt, fühlte sich im Augenblick der Kriegserklärung an Serbien »vielleicht zum ersten Mal seit 30 Jahren als Österreicher«, war andererseits jedoch »überglücklich, dass keiner unserer Söhne und Schwiegersöhne persönlich betroffen ist«. Sosehr ihm vor der Wirklichkeit des Krieges graute, so sehr ließ auch er sich von dem Versprechen beeindrucken, sein Land werde aus dieser Kraftprobe moralisch gestärkt hervorgehen. [507]  

Für Kafka war diese Unterscheidung hinfällig in dem Augenblick, da die patriotische Begeisterung, die das öffentliche Leben in ein permanentes Fest überführte, nicht mehr spontan war, sondern planvoll zum Sieden gebracht und in Szene gesetzt wurde. Die Wiederholung genügte, um ihn zu ernüchtern. Schon am 6.August, nur eine Woche nach dem von Popper bezeugten Auftritt, finden sich in Kafkas Tagebuch ganz andere Töne:

»Patriotischer Umzug. Rede des Bürgermeisters. Dann Verschwinden, dann Hervorkommen und der deutsche Ausruf: ›Es lebe unser geliebter Monarch, hoch.‹ Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges. Ausgehend von jüdischen Handelsleuten, die einmal deutsch, einmal tschechisch sind, es sich zwar eingestehen, niemals aber es so laut herausschreien dürfen wie jetzt. Natürlich reissen sie manchen mit. Organisiert war es gut. Es soll sich jeden Abend wiederholen, morgen Sonntag zweimal.« [508]  

Ein Blick ins Manuskript verrät, wie so häufig, den entscheidenden Hintergedanken. »Organisiert war es auch gut«, hatte Kafka zunächst geschrieben, doch das Wörtchen »auch« strich er aus: Mitgerissen wurde man – dies wusste er jetzt aus eigener Erfahrung –, weil es gut organisiert war. Und er war darauf hereingefallen. Doch den Blick von {533}außen, den »bösen« Blick, hatte er bald zurückerlangt, und diesen Blick richtete er auf das Zentrum des Tumults, dorthin, wo die lautesten Schreier standen, die Organisatoren, jene jüdischen Opportunisten, die auch Masaryk ein Gräuel waren.

Nur schwer einzuschätzen ist, wie weit Kafka derartige Aversionen preisgeben durfte. Zu Hause, beim Abendessen, wohl besser nicht, denn dort saß ihm einer jener »jüdischen Handelsleute« gegenüber: Kaum vorstellbar, dass ausgerechnet Kafkas Vater, der in Erinnerungen an seine Militärzeit schwelgte und seine Familie gelegentlich mit dem Absingen von Militärliedern erfreute, den mörderischen Budenzauber vor seiner Haustür durchschaut haben sollte. Die Überlegung allerdings, dass sein Geschäft wohl das letzte war, in das die zu Hause gebliebenen Prager ihr Erspartes tragen würden, muss die Stimmung in der Familie schon frühzeitig gedämpft haben: Am Krieg zu verdienen gab es für die Kafkas nichts, und bald schon ließ die Kundschaft auf sich warten. Als dann Ende Juli die Ehemänner von Elli und Valli ins Feld rückten, verdichtete sich jene ungeheure, doch unwirkliche Drohung, die man bisher nur in Gestalt übergroßer Schlagzeilen kannte, zu einem Knäuel allerpersönlichster Sorgen, die den Alltag bald vollständig beherrschten und die Sorgen der vergangenen Wochen vergessen ließen. »Die Angelegenheit mit Franz ist natürlich dadurch in den Hintergrund getreten«, schrieb Kafkas Mutter an Anna Bauer. [509]  Womit sie nicht nur die Entlobung, sondern insgeheim wohl auch die haarsträubenden Zukunftspläne ihres Sohnes meinte, die nun gegenstandslos und ohne weiteren Streit vom Tisch waren.

Über die sichtbare Seite des Krieges ist aus Kafkas Aufzeichnungen nur wenig zu entnehmen; im Gegensatz etwa zu Zweig verspürte er kein Bedürfnis, sich zum Chronisten der Ereignisse zu machen. Deutlich wird jedoch, dass ein Schnitt auch durch Kafkas Existenz ging, denn überraschenderweise fand er sich allein. Und das war paradox und beunruhigend in einem Augenblick, da doch alle sich mit allen verbrüderten. Einerseits zwang der Krieg jeden Einzelnen, sich zu äußern, Position zu beziehen zu den Forderungen der Gemeinschaft, und dieser Druck muss auch in Kafkas Büro spürbar gewesen sein, wo jetzt mit vermindertem Personal improvisiert wurde und niemand mehr sich hinter bürokratischer Routine und undurchdringlichem Lächeln verschanzen konnte. Andererseits jedoch riss das schwache Netz sozialer Beziehungen, das Kafka geknüpft hatte, von allen Seiten {534}ein, und selbst die unverbindlichen Szenen und Subszenen der literarischen Kaffeehäuser zerfielen. Werfel war in Uniform, ebenso Willy Haas und Otto Pick. Der als Arzt besonders kriegswichtige Ernst Weiß schloss sich gleich nach den gemeinsamen Ferien seinem Infanterieregiment in Linz an, und Leutnant Musil, dessen Berliner Karriere nun ebenfalls abrupt beendet war, fuhr zur ›Grenzsicherung‹ nach Tirol. Kurt Wolff war unterwegs an die belgische Front, einige Prager Zionisten, darunter Hugo Bergmann, rollten in Richtung Galizien.

Nur die engsten Freunde blieben in Prag. Doch für den blinden Oskar Baum, in dessen Klavierstunden sich jetzt Tag für Tag das ›Prinz-Eugen-Lied‹ mischte, fand der Krieg auf einem anderen Kontinent statt, den er niemals würde betreten können. Ihm blieb erspart, was andere sehen mussten. Auch Felix Weltsch war als ›Ungedienter‹ vorläufig sicher, doch er hatte kurz vor Kriegsbeginn das Aufgebot bestellt und war nun, im allgemeinen Tumult, mit profanen Sorgen der Eheplanung beschäftigt, die Kafka schmerzlich bekannt waren und von denen er den Blick lieber abwandte. Allenfalls mit Brod war noch ein offenes, hilfreiches Wort möglich, doch gerade ihn, der sich über ein stetig wachsendes Netzwerk persönlicher und literarischer Beziehungen definierte, traf der unvermittelte Kahlschlag am härtesten. »Die Aufregung hier ist beispiellos«, schrieb Brod an Kurt Wolff. »Ganz Prag ist unter die Waffen berufen: mein Bruder dabei, zwei Schwäger, die besten Freunde! Sie können sich diesen Jammer nicht vorstellen. An Essen und Schlafen denken wir seit 3 Tagen nicht.« [510]  Dazu kamen Auseinandersetzungen mit den Zionisten, die sich aufgeregt darüber beklagten, dass es noch keine Militärrabbiner gab und dass es untersagt war, Feldpostkarten in hebräischer Schrift zu versenden. Das waren Verirrungen, die für Brod zweifellos schmerzlich waren, auch wenn er dieses Kapitel in seinen Erinnerungen schweigend übergeht.

Mit wem noch sprechen, was lesen? Gab es denn noch einen Winkel, in den das Wort Krieg nicht eindrang? Kafka war für ›untauglich‹ befunden und daher von der allgemeinen Mobilisierung ausgenommen. War das große Schlachten so rasch zu Ende, wie die Zeitungen es versprachen, so brauchte man ihn dabei nicht. Er war froh darüber, er wollte jetzt allein sein angesichts der psychischen Erstarrung, gegen die ein paar Tage Ferien nicht das mindeste hatten ausrichten können.

Gleichzeitig spürte er das Anwachsen eines inneren Gefälles, einer nervösen Spannung. Scharf umrissene Szenen, Bilder, Sätze kreuzten sein Bewusstsein, es war ein Rumoren, das er kannte, auf das er wartete, seit er die Blätter des VERSCHOLLENEN hatte beiseite legen müssen, seit mehr als eineinhalb Jahren. »Wenn ich mich nicht in einer Arbeit rette, bin ich verloren.« [511]  Das konnte er sagen, weil die Rettung nahe war.


Am 2.August 1914, nur wenige Stunden nachdem die Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Anfang nahm, verabschiedete sich Kafka von all dem Jubel, den Extrablättern, den Gesängen, den Verlautbarungen, Ansprachen, Gerüchten, Hamsterkäufen, Marschschritten, hastenden Gepäckträgern, von Pferdegetrappel, rollenden Lafetten, sonnenbeglänzten Uniformen, frisch gebügelten Fahnen und weinenden Mädchen. Der Eintrag ins Tagebuch, mit dem er der Welt den Rücken zuwandte, ist berüchtigt: »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.« Das war kalt und komisch, doch es war alles, was es zu sagen gab.

Tags darauf findet auch bei den Kafkas eine große ›Umgruppierung‹ statt. Die Schwestern sind außer sich, sie wissen nicht, wo ihre Männer sind, sie ertragen die Stille in ihren Wohnungen nicht. Elli zieht mit ihren beiden Kindern zurück zu den Eltern, ins Oppelthaus, in das große Zimmer von Franz. Auch Valli, die schwanger ist, braucht Beistand und fährt mit der noch nicht einjährigen Marianne zu ihren Schwiegereltern nach Böhmisch Brod. Um Franz kann sich niemand kümmern, er ist ein Mann und wird sich selbst helfen. Still packt er Wäsche, Zahnbürste, Haarwasser, ein paar wichtige Briefschaften und Manuskripte zusammen und trägt sie hinüber in die Wohnung Vallis, die jetzt unbewohnt ist: Bilekgasse 10, sein erstes ständiges Nachtlager außerhalb der elterlichen Höhle, fünf Gehminuten vom Altstädter Ring.

Dort öffnet er am Abend wiederum seine Hefte: » … vollendete Einsamkeit. Keine ersehnte Ehefrau öffnet die Tür. In einem Monat hätte ich heiraten sollen. Ein furchtbares Wort: Wie Du es wolltest, so hast Du es.« [512]  

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen
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