{470}Eheprogramm und Askese
Keep going, going on, call that going, call that on
Samuel Beckett, HOW IT IS
»Darf ein Grenzwächter verheiratet sein? Ein Grenzwächter, ein äußerster Vorposten, der, ob auch nicht mit Tartaren und Skythen, so doch Tag und Nacht zu kämpfen hat mit den Anfällen einer angeborenen Schwermut; der, ob er auch nicht Tag und Nacht fortkämpft, sondern interimistisch auch eine längere Zeit des Friedens genießt, doch nie weiß, in welchem Augenblick der Kampf wieder nötig wird, so dass er diese Ruhe nicht einmal einen Waffenstillstand heißen darf? Ein Grenzwächter im Dienste des Geistes, darf der sich verheiraten?«
»Grillparzer hat niemals seine ewige Braut besessen, Kierkegaard trennt sich von seiner unendlich geliebten Regina, um ihr ein Leben lang treu zu bleiben. Claudel wird Katholik. Ist es ihr Wille, ist es höhere Bestimmung? Aber man muß vielleicht auf dieses irdische Leben irgendwie verzichten, wenn man unsterblich werden will.«
Das erste Zitat stammt aus Kierkegaards STADIEN, das zweite aus einem im Brenner abgedruckten Essay von Willy Haas [444] : ein Heft, das Haas mit handschriftlicher Widmung an Kafka überreichte. Doch der glaubte nicht an das abgenutzte, von jeher unwahre Leitbild des Genies, das um der Unsterblichkeit willen auf das Leben verzichtet. Leben will jeder und jede. Manche allerdings kommen nicht dazu, sie sind abgelenkt, haben zu viel zu tun, innen.
Zu diesen gehörte zweifellos Kierkegaard, der, früh gebeugt unter dem pietistischen Terror des Vaters, ausgelaugt von Depressionen, sich als Siebenundzwanzigjähriger spontan zur Verlobung mit einem ganz unreifen, zehn Jahre jüngeren Mädchen entschloss. Doch die psychischen Dämme, die diesen Willensakt ermöglicht hatten, hielten nur wenige Tage, danach behielten Skrupel, Reflexionszwang und Sexualangst dauernd die Oberhand. Ein volles Jahr lang quälte sich Kierkegaard {471}mit der Entscheidung, dann riss er sich los, entschied sich, die leibhaftige Regine Olsen durch ein Traumbild gleichen Namens zu ersetzen.
»Wie ich es ahnte«, schrieb Kafka, nachdem er den ersten Blick in Kierkegaards Tagebücher getan hatte, »ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund.« [445] Der Eindruck muss heftig gewesen sein, ein moralischer Axthieb, denn noch am selben Tag schrieb Kafka an Carl Bauer, um ihm noch einmal so deutlich wie möglich vor Augen zu stellen, auf wen seine Tochter sich einlasse.
Zu seinen »Blutsverwandten« hat Kafka den Dänen freilich nicht gezählt. Die moralische Eitelkeit, der Stolz Kierkegaards, sich unter schweren Opfern für ein sozial ungebundenes »Geistesleben« entschieden zu haben, die beständigen halben Enthüllungen, in deren Schatten die einstige Verlobte fortan leben musste, schließlich die bewusst herbeigeführte Isolation Kierkegaards, der einmal gar notierte, es sei ihm in seinem ganzen Leben noch nicht eingefallen, sich jemandem völlig anzuvertrauen – all dies musste Kafka erst einmal in die eigene Sprache übersetzen, um zu verstehen, dass es Optionen waren, denen er selbst noch keineswegs entronnen war. Während die einfachen Worte Flauberts, den beim Anblick einer Frau inmitten ihrer Kinderschar Trauer und Neid ergriffen, in Kafka lebenslang widerhallten: »Ils sont dans le vrai.« Die haben das Rechte getroffen.
Das Rechte. Nicht vom Ersehnten, sondern vom Rechten, Wahren, Notwendigen sprach nun Kafka auffallend häufig. Und das tat er wahrscheinlich auch an Ostern 1914 in Berlin, als es nach einer weiteren Aussprache mit Felice und ihren Eltern endlich zu einem handfesten Beschluss kam: sofortige Verlobung, Kündigung bei der Lindström A. G., Heirat im September, Übersiedelung Felices nach Prag. »Ich habe«, schrieb er ihr tags darauf, »gewiss niemals bei irgendeiner Handlung mit solcher Bestimmtheit das Gefühl gehabt, etwas Gutes und unbedingt Notwendiges getan zu haben, wie bei unserer Verlobung und nachher und jetzt. In dieser Zweifellosigkeit gewiss nicht.« [446] Er war sogar bereit, davon abzusehen, dass die kleine Feier vorüberging, ohne dass Felice ihm auch nur einen Augenblick der Intimität gegönnt hätte. Er litt darunter, aber es war nicht das Wichtigste. Schlimmer waren die nicht zu beruhigenden Zweifel daran, ob auch sie diese Zugehörigkeit empfand, dieselbe Emphase einer mit hellem {472}Bewusstsein getroffenen Wahl. Immer aufs Neue danach zu fragen, zu bohren, das konnte er sich dann doch nicht versagen, und die neu gewonnene Entschlusskraft, mit der jetzt Kafka, um der Ehe willen, all seine Auswanderungs- und Kündigungspläne über den Haufen warf, bekam Felice zu spüren als den Kälteschauer der Notwendigkeit, ja der Pflicht. Sie beklagte sich darüber, doch vergeblich.
»Sag nicht dass ich zu streng mit Dir umgehe; was zur Liebe in mir fähig ist, es dient nur Dir. Aber sieh, mehr als 1½ Jahre laufen wir einander entgegen und schienen doch schon nach dem ersten Monat fast Brust an Brust zu sein. Und jetzt nach so langer Zeit, so langem Laufen sind wir noch immer so weit auseinander. Du hast F. die unbedingte Pflicht, soweit es Dir möglich ist, Dir über Dich klar zu werden. Wir dürfen einander doch nicht zerschlagen, wenn wir endlich zusammenkommen; es wäre doch schade um uns.« [447]
Das klingt einleuchtend und wahrhaftig. Dennoch wirkt die Geschäftigkeit, die Kafka nach so vielen Monaten des Zögerns entfaltet, eher forciert als begeistert. Was Felice als Unnachgiebigkeit wahrnimmt, ist die zitternde Anstrengung der guten Vorsätze, der Selbstüberredung. Für andere ist es das Selbstverständliche, der endgültige Beitritt in die Gesellschaft; für ihn ist es die Vorbereitung einer Expedition. Es ist, als verlade er all sein Hab und Gut auf Schienen, um sicherzustellen, dass es kein Abirren mehr geben wird von der Richtung, die er als notwendig und richtig jetzt erkannt und beschlossen hat. Er löst die Bremsen. Jene Schienen aber sind abschüssig.
Es ist wiederum Kafkas Briefen an Grete Bloch zu verdanken, dass die äußeren Ereignisse zumindest in ihren Umrissen erkennbar bleiben. Insgesamt werden die Lebenszeugnisse jetzt spärlicher, und vieles, was er zuvor in langen Briefträumen und noch viel längeren erträumten Briefen genießerisch entfalten durfte, wird jetzt, da es an die Verwirklichung geht, mündlich verhandelt – mit den Eltern bei der abendlichen Mahlzeit, mit Felice am Telefon. Die Einzelheiten lassen sich hier und da erraten, doch schon aus den wenigen, zweifelsfreien Fakten wird deutlich, dass es Kafka keineswegs vergönnt war, seinem eigenen Drehbuch zu folgen. Das Eheprogramm war vorgegeben, eine Checkliste, die Punkt für Punkt abzuarbeiten war. Und keiner davon blieb Kafka erspart, keinen gab es, der nicht Probleme aufwarf.
Es begann mit der Suche nach einer Wohnung. Kafka war Mitglied einer Baugenossenschaft, doch erwähnt hatte er sie schon seit langem nicht mehr: Das Haus, in das einzuziehen er Anspruch hatte, existierte {473}wohl noch gar nicht. Er durchflog die Inserate der Prager Tagespresse, begab sich auf eine lange Tournee von Besichtigungen. Das Zentrum, die Umgebung des Altstädter Rings mied er zunächst – nicht nur, weil er zwischen sich und die Familie eine Sicherheitszone legen wollte, sondern vor allem, weil ihn nach Ruhe, Sonne und frischer Luft verlangte, nach Zimmern mit freiem Ausblick, wie sie nur in den Außenbezirken Prags zu haben waren. Ja, Kafka träumte sogar von einem kleinen Haus mit Garten, draußen vor der Stadt. [448] Dort aber wurde ausschließlich Tschechisch gesprochen: Konnte er Felice wirklich zumuten, ihr neues Leben in zweifacher Fremde zu beginnen, in der k. k. Provinz, zwischen Menschen, die ihr jeden Gruß vorbuchstabieren mussten? Er dachte an Felices Schwester Else, die in Budapest unglücklich genug war.
Kafka lief treppauf, treppab. Er fürchtete sich ein wenig vor Felices Ansprüchen, noch mehr aber fürchtete er sich vor schlagenden Türen, schreienden Kindern und den hinter allen Wänden lauernden Klavierschülern. Lieber zu teuer als zu laut. Doch es dauerte einen vollen Monat, ehe er endlich einen erträglichen Kompromiss fand: »3 Zimmer, Morgensonne, mitten in der Stadt, Gas, elektr. Licht, Dienstmädchenzimmer, Badezimmer, 1300 K. Das sind die Vorteile. Die Nachteile sind: 4. Stock, kein Aufzug, Aussicht in eine öde, ziemlich lärmende Gasse.« [449] Nicht zu vergessen: Kein Grashalm vor der Tür und keine fünf Minuten von den Eltern entfernt. Doch in der Altstadt, auf deutschem Territorium, wie Felice es sich gewünscht hatte. Im nächsten Sommer würde man weitersehen. Ein Provisorium.
Beinahe zwei Jahre war es mittlerweile her: jener einzige, denkwürdige Besuch Felice Bauers in Prag. Es hatte etwas Märchenhaftes, Zauberisches, dass sie als die Braut jenes Menschen zurückkehrte, an den sie sich damals erst nach Vorlage von Fotos wieder recht hatte erinnern können. Und nun hatten sie schon eine gemeinsame Geschichte, kein Vorspiel, sondern eine Vor-Ehe gleichsam, in der vom Glück der ersten Näherung bis zum Leid der tiefsten Entfremdung schon alles zusammengedrängt schien, was sich aus einer Ehe nur schöpfen lässt. Und als sie, am Arm ihrer Mutter, auf dem Bahnsteig des Prager Franz-Josef-Bahnhofs zum ersten Mal den Kafkas entgegenschritt, da muss es die gleiche Furcht vor dem großen Dacapo gewesen sein, die hinter allen lächelnden Gesichtern zuckte. Nur nicht zurückblicken jetzt. Schluss machen, Hochzeit feiern.
»Meine Verwandten haben sie fast lieber als mir lieb ist«, beschwerte sich bald darauf Kafka. [450] Kein Wunder, denn dies war ihre Lieblingsrolle. Verbindlichkeit, Aufmerksamkeit, eine gegenüber Onkeln, Tanten und Schwägerinnen gleichmäßig ausgestreute Heiterkeit, das war schon beinahe Routine. Nicht das Geringste war zu spüren von der Trauer um den verlorenen Bruder, von dem Schock, der die Bauers noch immer lähmte. Und noch viel weniger ließ Felice sich anmerken, wie langweilig sie Kafkas Schwestern fand, wie bieder die ganze Familie. Die Kostproben ›Berliner Schnauze‹, die sie zum Besten gab, ihre städtischen, freien Bewegungen, ihre elegante Kleidung, ihre scheinbare Unabhängigkeit – das alles hinterließ Eindruck, und Kafka, der stolz war, aber nur schwer mithalten konnte, wirkte wohl ein wenig linkisch neben seiner Verlobten. Sodass mancher sich insgeheim gefragt haben wird, wie dieser Sonderling zu einer solchen Frau kam: zu dieser Frau, die sich entschlossen hatte, Felice Kafka zu heißen.
Er spürte, hier wurden neue Leimruten ausgelegt. Zu viele Augen waren es, die jetzt in die intimsten Winkel seiner Existenz starrten. Dutzende von Gratulationsschreiben trafen ein: von Freunden, Kollegen, Geschäftsleuten, entfernten Verwandten; einige las er verdrießlich, die andern verschwanden ungeöffnet in der Schublade. Bei Direktor Marschner hatte er vorzusprechen, um sich auch den Segen der ›Anstalt‹ zu holen. Und schließlich, vielleicht das Schlimmste: Er musste den eigenen Namen und den Felices auf eine Prager Inseratenseite setzen, Rubrik ›Familien-Nachrichten‹. Ja, er wusste, auch dies gehörte zum Eheprogramm: Wer einen guten Namen hatte, war verpflichtet, ihn bei gewissen Anlässen sehen zu lassen. Dennoch zögerte er, suchte nach Ausflüchten. Endlich, am 21.April, riss er das Berliner Tageblatt auf und entdeckte das längst Erwartete und Gefürchtete. Man war ihm wieder einmal zuvorgekommen: »Die Verlobung ihrer Kinder Felice und Franz zeigen ergebenst an: Carl Bauer und Frau Anna, geb. Danziger, Hermann Kafka und Frau Julie … « Darunter: »Felice Bauer. Dr.Franz Kafka. Verlobte. Empfangstag Pfingstmontag, 1.Juni.« Er musste es glauben. Da stand es schwarz auf weiß, es war die Wirklichkeit. Doch diese vielen Namen … was gingen sie ihn an? »Dr.Franz Kafka«, war drei Tage später im Prager Tagblatt zu lesen, »Vize-Sekretär der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt in Prag, hat sich mit Fräulein Felice Bauer aus Berlin verlobt.« Punktum.
Es lässt sich nicht schildern, doch unschwer erahnen, welches Maß an psychischer Energie der plötzliche Umschlag der Imagination in Realität von Kafka forderte. Doch jene innere Frontlinie des Realitätsprinzips, die er jetzt Tag und Nacht zu bewachen hatte, war zu lang, um Einbrüche gänzlich zu vermeiden. Zu vieles gab es, das unausgesprochen blieb und gerade darum eine unbeherrschbare und überraschende Wirkung entfaltete.
So hatte etwa die auffallende Beharrlichkeit, mit der jetzt Kafka die Braut zur Selbstprüfung aufrief, noch einen geheimen und durchaus aggressiven Hintersinn. Er hatte sich, indem er die Entscheidung nach Berlin delegierte, für einen bedeutsamen Augenblick in Felices Hand begeben, während gleichzeitig Musil ihm die verlockendsten Trauben vors Gesicht hielt. Er hatte nicht zugegriffen, er hatte verzichtet, er hatte das Bewerbungsschreiben, das schon im Umschlag steckte, vernichtet. Dies war ein Opfer. Und darum wollte er nun aufs genaueste wissen, wofür.
Unausgesprochen blieb auch, dass es keineswegs die um Aussteuer und Wohnungssorgen kreisenden Briefe Felices waren, aus denen Kafka jetzt Kraft schöpfte, sondern die regelmäßige Korrespondenz mit Grete Bloch. Mit fast unbeherrschter Dringlichkeit bittet er sie, dabei zu sein in den lebensentscheidenden Momenten, die ihm noch bevorstehen. Ja, allen Ernstes schlägt Kafka vor, die strenge Frau Bauer und alle weiteren neugierigen Besucher in Prag zurückzulassen und mit Felice und Grete einen schönen Tag in Gmünd zu verbringen, drei Bahnstunden weiter südlich. Wochenlang hält er fest an diesem Traumbild, und nur flüchtig streift ihn der Gedanke, dass es den neuen wie den alten Verwandten angesichts solcher Frechheit wohl die Sprache verschlagen würde – ein Affront, eine Missachtung des ›Gegebenen‹, zu der sich die familientreue Braut natürlich nicht bereit fand.
Wie abhängig Kafka mittlerweile von jener zweiten weiblichen Kraftquelle war, zeigt schon die Pünktlichkeit, mit der er die Briefe Grete Blochs erwartete und beantwortete. Ausdrücklich bittet er sie, ihm doch lieber ein Kärtchen mit einem einzigen Satz zu senden als gar nichts – er will Kontinuität, Beständigkeit, eine Forderung, die er gegenüber Felice niemals hatte durchsetzen können. Zu spät freilich wurde Kafka bewusst, dass der lebendige Funke, der aus den Wiener Briefen übersprang, nur um den Preis einer unablässigen Beunruhigung {476}zu haben war, und diese Unruhe wiederum kostete Kraft. Denn einerseits bestärkte Grete Bloch ihn darin, endlich die Initiative zu ergreifen und die Ehe Wirklichkeit werden zu lassen – im selben Atemzug aber rührte sie an Verdrängtes, und sie nötigte Kafka, Sehnsüchte einzugestehen, von denen er seit Monaten den Blick zwanghaft abwandte. Entweder als Junggeselle und Literat in Berlin, frei in jedem Sinne des Wortes, oder aber als Ehemann und Ernährer Felices in Prag: Waren denn das wirklich die beiden einzigen Alternativen, zwischen denen er hatte wählen können? War es denn so gänzlich ausgeschlossen, fragte Grete Bloch scheinbar naiv, zu heiraten und dennoch nach Berlin zu gehen, dennoch das Schreiben zum Beruf zu machen? Unmöglich, antwortete Kafka rasch; schließlich sei es Felice nicht zuzumuten, ihre gut bezahlte Stellung zu kündigen, um dann mit ihm in derselben Stadt womöglich in Armut zu leben.
Das klang vernünftig und selbstlos. Der Stachel aber saß fest. Warum war es nicht Felice, die ihm solche Fragen stellte? Ging es sie nicht viel näher an? Hatte sie überhaupt einen Begriff davon, was es für ihn bedeutete, für alle Zeit in Prag festzustecken? Und lag hier womöglich der Grund dafür, dass sie auch gegenüber der Freundin schwieg, wollte auch Felice nicht gestört sein von Sehnsüchten und utopischen Einreden?
Kafka wankte, und vorsichtig zunächst, dann immer bestimmter begann er zu rütteln an jenem bleiernen Entweder-Oder, dem er sein Leben in Verzweiflung unterworfen hatte. Gewiss, es war notwendig zu heiraten, notwendig und richtig. Doch daraus folgte noch längst nicht die Notwendigkeit, erbarmungslos und ohne Seitenblick ein Programm abzuspulen, das für Familien geschaffen schien, nicht für Menschen, auch wenn sich Felice dem nur allzu bereitwillig unterwarf. Es gibt Wünsche, die man nicht töten kann. Ist es also richtig, diese Wünsche lebendig zu begraben, ist es mit Liebe zu vereinbaren, dies von einem Menschen zu verlangen? »das Wichtigste ist nicht, dass ich in Prag schreibe«, gesteht er Grete Bloch am 4.Juni, zu einem Zeitpunkt, da längst alles beschlossen scheint, da längst eine Wohnung gemietet und die Vorbereitungen für Felices Umzug in vollem Gange sind, »das Wichtigste ist, dass ich von Prag wegkomme.« Er weiß, damit ist der Pakt schon beinahe gebrochen. Doch noch Monate sollte es dauern, ehe er diese Wahrheit auch gegenüber Felice einzugestehen vermochte: {477}
»Am entsprechendsten und natürlichsten für meine Arbeit wäre es allerdings gewesen, alles wegzuwerfen und irgendwo eine Wohnung noch höher als im 4ten Stock zu suchen, nicht in Prag, anderswo, aber allem Anschein nach bist weder Du geeignet im selbstgewählten Elend zu leben, noch bin ich es. Vielleicht bin ich dazu sogar noch weniger geeignet als Du. Nun, wir haben es noch keiner erprobt. Erwartete ich also etwa diesen Vorschlag von Dir? Nicht geradezu; ich hätte zwar nicht gewusst was tun vor Glück über einen solchen Vorschlag, aber erwartet habe ich ihn nicht.« [451]
Versucht man, einen Überblick zu gewinnen über die verschlungene Korrespondenz Kafkas und Felice Bauers, von September 1912, dem ersten Anklopfen, bis zum Berliner ›Empfangstag‹, der offiziellen Verlobungsfeier an Pfingsten 1914, so steht man zunächst vor dem Schauspiel einer ungeheuren emotionalen wie geistigen Dünung. Es ist das Motiv der Wiederholung, das jede andere Wirkung überschattet: eine Art von minimal music, in der das Neue mittels mikroskopischer Variationen ans Licht tritt, während das Alte doch immerzu hörbar bleibt. Erregend, unwiderstehlich ist diese Lektüre dennoch, vor allem wegen Kafkas metaphorischem Reichtum und wegen seines Humors, der selbst in den Augenblicken vollständiger Erstarrung nicht gänzlich ausgelöscht scheint. Doch die Erfahrung einer gleichsam ansteckenden Qual überwiegt, und sie vervielfacht sich, sobald man die Briefe nicht ›trinkt‹, wie Kafka dies gerne mit Briefen tat, sondern durchsiebt als Rohstoff biographischer Spurenlese.
Woher aber rührt diese mitempfundene Qual? Ist es die Scham des Voyeurs, welche die Briefe in jedem Leser wecken? Das Verhängnis, die Hilflosigkeit und das Scheitern, deren intime Zeugen wir werden? Gewiss, hier bewegen sich Menschen entlang den Abgründen einer psychosozialen Pathologie. Doch jenes beharrliche Auf-der-Stelle-Treten, die Verdrängungen, das Ineinandergreifen von Berechnung und Gefühl, die Regressionen, das Zurückweichen bei wechselseitigen Versuchen der Annäherung, die Selbstbezüglichkeit, die befremdend würdelosen Auftritte, ja selbst die Fiktionalität, das Nicht-gelebt-Sein der Beziehung – all dies sind schließlich Erscheinungen, die keineswegs selten, die zumindest in den bürgerlichen Gesellschaften mit ihrem extrem verpflichtenden Liebesideal vertraut und an der Tagesordnung waren. Heutzutage, so scheint es, steht die Intimität, um die da gekämpft wurde, nicht selten am Beginn einer Beziehung – auch wenn die Vertrautheit, die durch sexuelle ›Kontakte‹ relativ leicht zu haben {478}ist, nur noch eine Schwundstufe dessen ist, was jenes Liebesideal einst versprach. Gewiss, seit Sexualität weitgehend enttabuisiert wurde, bedarf es schon der historischen Einfühlung, um zu verstehen, warum die Beteiligten es sich derart schwer machten. Der Umkehrschluss aber, ein solches Drama sei undenkbar in einer liberalisierten, hedonistischen Gesellschaft, wäre allzu naiv. Wiederholungszwänge, Regressionen, wechselseitige Entfremdungen und Verkennungen, die Unwirklichkeit von Beziehungen – all dies gibt es auch mit und neben Sexualität, und umso regelmäßiger, je verblendeter sie als Instrument, wenn nicht gar als Ersatz ersehnter Geborgenheit überfordert wird. Die inmitten selbstvergessener Lust aufreißende Leere ist darum längst zu einem Kernthema der zeitgenössischen Literatur geworden.
Nein, die BRIEFE AN FELICE sind durchaus nicht die Zeugnisse eines singulären, nach dem Ohr des Analytikers rufenden Falls. Die Abwehr, ja der Widerwille, den die Lektüre jenseits allen Mitgefühls hervorzurufen vermag, rührt eher aus dem Medium selbst: aus der konsequenten Verschriftlichung von Vorgängen, die mehr oder minder vertraut sind, so lange sie mündlich, in Blicken, Gesten oder von Leib zu Leib sich abspielen. Es ist der Horror, der Gerichtsakten entströmt: Wie eine Lupe wirkt hier die Schrift, sie versetzt das Lebendige in eine Nähe, die es unheimlich und in gewissem Sinne tot macht: Haut, an der man Poren und Härchen zählt. Zugleich aber starren wir auf die Schrift wie auf einen Film, der in Zeitlupe läuft. Es gibt Briefe Kafkas, in denen seelische Schwankungen nicht nur in Echtzeit, sondern tatsächlich noch weiter verlangsamt erscheinen, und für ihn selbst barg dies bisweilen unheilvolle Verstärkereffekte: Er konnte nachlesen, was ihn soeben flüchtig gestreift hatte, er konnte es zitieren, wiederholen, so lange, bis es sich eingegraben hatte, bis er es auswendig wusste – und wir mit ihm.
Nicht in das Wort, aber in die Schrift hatte Kafka beinahe unbegrenztes Vertrauen. Es gab Vorbilder. Bereits im Frühjahr 1913 fragt er Felice, ob sie den berühmten Briefwechsel zwischen Elizabeth Barrett und Robert Browning kenne, und noch zwei Jahre später fordert er sie dringlich zur Lektüre auf. [452] Eine umfängliche deutschsprachige Auswahl dieser Briefe war bereits 1905 erschienen, gelesen hat sie Kafka wohl erst 1912. Sie müssen ihn elektrisiert haben, denn sein eigenes Projekt wurde hier vorweggenommen: ›ein Mädchen durch die Schrift zu binden‹. Auch Barrett und Browning, die Dichterin und der Dichter, {479}lernten einander durch Briefe kennen und lieben, und am Ende wagten sie die heimliche Heirat, Flucht aus England und eine materiell ungesicherte Ehe in Italien, fernab ihrer Familien. Allerdings, eine entscheidende Differenz übersieht oder verschweigt Kafka. Denn jene rhetorisch polierten Briefe dienten keineswegs dazu, persönliche Begegnungen zu ersetzen, vielmehr, sie zu entschärfen, sie vor- und nachzubereiten. Bald schon kam es zu regelmäßigen wöchentlichen Besuchen, die, bei aller viktorianischen Vorsicht, der Beziehung zur Realität verhalfen. Robert Browning zählte akribisch mit: Neunzigmal sah er seine Freundin innerhalb von sechzehn Monaten, beim 91. Mal tauschte er mit ihr die Ringe. Kafka hingegen zählte nicht, und er tat gut daran.
Ein Meer von Worten. Ein diskursiver Wellenschlag, scheinbar ohne Anfang, ohne Entwicklung, ohne Ende. Man muss sich darauf treiben lassen, um es zu erfahren. Doch es bedarf gehöriger Distanz, um zu erkennen, wo die entscheidenden Strömungen sind: tief unten.
Kafka selbst bestritt, dass seine Briefe aus Wiederholungen bestehen. Im Geheimen habe sich sehr wohl Entscheidendes verändert, behauptete er an Neujahr 1914, und sein zweiter Heiratsantrag sei daher ernster zu nehmen als sein erster:
»Was mich gehindert hat, war ein erdachtes Gefühl, im vollständigen Alleinsein liege eine höhere Verpflichtung für mich, nicht etwa ein Gewinn, nicht etwa eine Lust (wenigstens nicht in dem Sinne Deiner Meinung) sondern Pflicht und Leid. Ich glaube gar nicht mehr daran, es war Konstruktion, nichts sonst, (vielleicht hilft mir die Erkenntnis auch weiter) und sie ist höchst einfach widerlegt dadurch, dass ich ohne Dich nicht leben kann. […] Auf meiner Seite war niemals ein ›Verlust‹ in Frage, nur ein ›Hindernis‹ und dieses Hindernis besteht nicht mehr.« [453]
Schon hier, zwei Monate vor der Unterwerfung im Berliner Tiergarten, ist er bereit, die eigenen Fundamente anzutasten. Noch ahnt Kafka nicht, an welchem Tiefpunkt der Selbsterniedrigung dieser Versuch enden wird. Er täuscht sich, wenn er Leben gegen Denken ausspielt. Es steht mehr auf dem Spiel als bloße »Konstruktionen«, die als Phantasiegebilde ebenso leicht zu errichten wie aus dem Weg zu räumen sind, nein, es steht weit mehr auf dem Spiel – dies wird am Ende, und zu einem hohen Preis, der Erkenntnisgewinn des Jahres 1914 sein.
Der Einsatz, um den es hier tatsächlich ging, hatte einen Namen, den Kafka nur selten aussprach: Askese, ein Zauberwort, ein verwickelter Komplex von Bildern, kulturellen Mustern, Idiosynkrasien, Ängsten und raffinierten Psychotechniken, den er dem eigenen Denken und Fühlen nahtlos einverleibte und allmählich zu einer Kernzone seiner Identität machte. Durchaus zu Recht attestierte er sich »grossartige eingeborene asketische Fähigkeiten« [454] , und es ist verblüffend und steht in schroffem Widerspruch zu Kafkas angeblicher Willensschwäche, mit welcher Beharrlichkeit und Konsequenz er seit dem Ende der ›Bummeljahre‹ sein Leben unter das Gesetz des Verzichts und der allseitigen Vereinfachung stellte: Verzicht auf Wärme, auf Fleisch, auf Drogen, auf Medikamente. Reduktion der Nahrungsaufnahme, Abhärtung des Körpers, Schlichtheit des Wohnens. Eine zunächst negativ bestimmte Askese, ein hartnäckiges, bisweilen pedantisches Weglassen, das hinter seinem Rücken belächelt und vom Vater mit verächtlichen Kommentaren bedacht wurde, ohne dass die einmal eingeschlagene Richtung dadurch im mindesten beeinflusst worden wäre.
Doch Askese ist kein Sparprogramm um seiner selbst willen; sie ist vor allem eine Praxis der Selbststeuerung und Selbstformung, hinter der die Utopie einer vollkommenen Kontrolle über Leib, Ich und Leben wirkt: Dieses Kraftfeld war es, in das Kafka allmählich immer tiefer eintauchte und nach dem alle seine Interessen, Gewohnheiten und Vorlieben sich ausrichteten. Der Verzehr von Nüssen und Früchten, das einwandfreie Kauen, die umfänglichen Turnübungen, die langen Fußmärsche – es wäre eine naive, beinahe komische Rückprojektion heutiger Fitness-Ideale, würde man aus Kafkas Sorge um den eigenen Körper den Schluss ziehen, er habe in irgendeinem Sinne ›abnehmen‹ wollen. Wahr ist eher das Gegenteil: Kafka expandiert, indem er seinen Körper behandelt und formt, er gewinnt Kontrolle nicht nur über den Körper selbst, sondern auch über dessen innere Wahrnehmung, über die Art und Weise, wie er in seinem Körper heimisch oder fremd ist. Und er fühlt wachsende Abneigung, ja Hass gegen alles, was die erreichte Autonomie wieder in Frage stellt: gegen ahnungslose Ärzte, die sich seinem Körper mit der Haltung von Klempnern nähern, gegen Medikamente, die unvorhersehbare Wirkungen entfalten. Menschenunwürdig sei es, schimpft Kafka, etwa Schlaflosigkeit mit Baldrian zu bekämpfen: Schließlich schlafe er nicht deshalb schlecht, weil er nicht genügend Baldrian im Leib habe. [455]
Der Überschuss ideeller Erregung, den Kafka hier gegen eine harmlose Tasse Baldriantee richtet, ist durchaus zeittypisch, und ähnliche Ausfälle findet man in zahlreichen Veröffentlichungen zu Naturheilkunde und Diätetik. »Wenn ein Mann dreißig Jahre alt geworden ist, ist er entweder ein Idiot oder sein eigener Arzt«: ein Satz des Tacitus, den Kafkas Vorturner Müller mit Begeisterung zitiert (obwohl er an die Stelle des »Arztes« lieber den »hygienischen Ratgeber« setzt, um Schadenersatzklagen vorzubeugen). [456] Auch hier schießt der Impuls, den Körper in die eigene Verantwortung zu nehmen, sichtbar über das Ziel einer heilerischen Vernunft hinaus: Es geht um Kontrolle und Autonomie. Und darum ist es nicht etwa nur unvernünftig, sondern ›unwürdig‹, sich auf Ärzte zu verlassen – Kafka leuchtete das seit langem ein, und nicht erst seit seinem Aufenthalt im Sanatorium Jungborn, dessen Begründer ebenso dachte.
Noch viel auffälliger freilich ist jene Überdeterminiertheit, sobald es um Hygiene im engeren Sinne geht, um die Abwehr von Schmutz. Dass aus unsauberen Verhältnissen Krankheiten hervorgehen können, war längst bekannt; seit der Entdeckung von ›Erregern‹ aber war es bewiesen, was Kafka einen Grund mehr lieferte, ›reinlich‹ zu sein. Alle zivilisationskritischen Bewegungen der Jahrhundertwende hoben die Notwendigkeit hygienischer Lebensführung hervor, die Naturheilkunde ohnehin, aber selbst Reformkleidung und vegetarische Ernährung wurden mit bakteriologischen Gründen verfochten. Das Begriffsfeld ›Sauberkeit–Reinheit–Ordnung‹ wuchs sich allmählich zu einer geistigen Formation aus, innerhalb deren sich die buchstäblichen und die metaphorischen Bedeutungen der Begriffe miteinander vermischten: Jemand, der ein ›reines‹ Leben führte … das konnte sehr vieles bedeuten, ja, es war sogar möglich – und Kafka hat dies später als »Eigentümlichkeit intensiv denkender Menschen« bezeichnet –, dass jemand schmutzig und rein zugleich war. [457] Man musste eben wissen, wie es gemeint ist und wo innerhalb des weitläufigen Bedeutungsfelds man sich jeweils befand. Schmutzig waren Arbeiterkinder, doch ebenso Prostituierte. Vor allem die beständige, teils versteckte, teils offene Einbeziehung sexueller Nebenbedeutungen machte es beinahe unmöglich zu unterscheiden, was innerhalb jenes Begriffsfelds noch vernünftig vertretbar und was pure Ideologie war. Über Geschlechtskrankheiten und deren Abwehr durch ›Sauberkeit‹ konnte man so nachdrücklich aufklären, dass noch dem Letzten die Lust verging. Der {482}Hygieniker war überall zuständig. Und so wunderte sich wohl auch niemand darüber, dass der Turnlehrer Müller seine ›Original J. P. Müller-Sandalen‹ anpries und im selben Atemzug sein nächstes Buch über GESCHLECHTSMORAL UND LEBENSGLÜCK.
Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es Kafkas Angst um sein poröses Ich war – mithin Angst vor Entgrenzung, Verflüssigung, letztlich Todesangst –, die ihn allmählich zu einer asketischen Strategie des Überlebens drängte. Nicht zu rasch sollte man hier den sexuellen Anteil dieser Angst zum eigentlichen Movens erklären. Gewiss, sexuelle Begegnungen versprechen die intensivsten Entgrenzungserfahrungen, und es liegt darum nahe, Kafkas Askese als ein Ausweichen zu deuten, als einen ins Positive gewendeten sexuellen Verzicht, letztlich als Rationalisierung eines Unvermögens. Diese Strategie, aus etwas Erlittenem etwas Gewolltes zu machen und damit aus der Rolle des Minderwertigen herauszutreten, lässt sich bei Kafka in den verschiedensten Zusammenhängen beobachten. Als Generalschlüssel taugt diese Erklärung jedoch nicht. Denn selbst dann, wenn der erste Impuls, der Kafkas asketische Wahl bestimmt hat, unbewusste Sexualangst gewesen sein sollte, so ist darum noch längst nicht die Konsequenz plausibel gemacht, mit der er sein Leben lang an dieser Wahl festhielt, und noch viel weniger der Erfindungsreichtum, mit dem er einen Lebensbereich nach dem anderen – und endlich sogar die Literatur – einer asketischen Form unterwarf. Zu schweigen davon, dass er manifeste, bedrängende Sexualangst erst erlebte, als das asketische Selbstbild längst vollendet war.
Nein, Kafkas Angst war umfassender, und sie war durchaus berechtigt: unbeherrschbare Stimmungsschwankungen, Zwangsphantasien, überwältigende Tagträume, wie Flammen ins Bewusstsein schießende Triebimpulse, äußere Impressionen, die das Ich für Stunden überfluten – Kafka war sich völlig im Klaren darüber, dass er in extremen psychischen Erfahrungen lebte, die so gut wie allen Menschen, denen er je begegnet war, völlig fremd blieben und die daher in gewissem Sinne nicht normal waren. Gerade darum aber waren sie auch nur schwer mitteilbar. Um andere davon zu überzeugen, wie nahe er dem Wahnsinn schon gewesen war, hätte Kafka sich in solchem Maße entblößen und seinem sozialen Umfeld ausliefern müssen, dass die schwer erkämpfte Kontrolle wieder in Frage gestellt und eben dadurch die Angst noch gesteigert worden wäre. Ganz undenkbar, dass er sich je {483}den Manipulationen eines Psychotherapeuten ausgesetzt hätte: Er duldete nicht, dass andere den Meißel anlegten an jene Autoplastik, an der er selbst arbeitete. Einzig gegenüber Milena Jesenská hat er später seine basale Angst eingestanden und beim Namen genannt. Doch nicht einmal Max Brod erfuhr, wie es in Kafka tatsächlich aussah, und eine realistische Vorstellung davon bekam er wohl erst nach dessen Tod. Denn im Alltag verlegte sich Kafka ja gewöhnlich auf selbstironische Klagelieder und bot mehr als einmal das Bild ›komischer Verzweiflung‹: Das minderte den Mitteilungsdruck, verschleierte aber das tatsächliche Ausmaß der inneren Bedrohtheit. Dass tiefstes Leid sprachlos sei, ist soziale Übereinkunft; darum findet keinen Glauben, wer allzu nachhaltig jammert.
Häufig genug ist darauf verwiesen worden, Kafkas zentrale Lebenssorge sei eine spezifisch moderne ›Wurzellosigkeit‹ gewesen, ein gebrochenes Verhältnis insbesondere zum Judentum, das durch allgemeinen Traditionsverfall, allgegenwärtigen Antisemitismus sowie durch die eigentümlich insuläre Situation der deutschen Minderheit in Prag noch vielfach belastet worden sei. Das alles ist richtig, und seit seiner Begegnung mit den ostjüdischen Schauspielern hat Kafka sich selbst als einen in dieser Hinsicht geradezu modellhaften Fall gesehen: als Typus des freischwebenden Westjuden. Doch all dies traf ebenso gut auf Max Brod zu, der aus seinem ›Fall‹ ganz andere Folgerungen zog und einen psychischen Habitus entwickelte, der ihn von Kafka immer weiter entfernte. Brod war auf der Suche nach kulturellen und intellektuellen Inhalten, mit denen er sich identifizieren konnte, nach einer Weltanschauung, die ihn der letzten quälenden Zweifel entledigen würde. Förmlich mit aufgekrempelten Ärmeln bediente er sich aus der Fülle der Optionen, die sich ihm innerhalb und außerhalb des Judentums boten, er legte das eine beiseite, um das andere ergreifen zu können, und stets war er ganz bei der Sache – zumeist mehr, als seinen Freunden lieb war.
Kafka hingegen befand sich in der Situation eines Menschen, der nach sicherem Stand sucht, der beide Beine auf die Erde bekommen muss, ehe er die Hände gebraucht. Anders als Brod, der sich über Inhalte und Interessen definierte und der darum alles, was er für wahr hielt, verteidigte, als ginge es ums nackte Ich, hatte Kafka zunächst das Problem der richtigen Haltung zu lösen, die Frage nach der Form, die das eigene Leben am Leben erhält. Daher die scheinbare Wahllosigkeit, {484}mit der er in fremden Lebensläufen nach Schnittmustern suchte: Napoleon, Goethe, Berlioz, Grillparzer, Dostojewski … es konnte auch ein Pflanzer sein, der sich gegen den Urwald durchsetzte, eine Sozialistin, die sich von der eigenen Klasse emanzipierte, der Herausgeber einer Theaterzeitschrift, ein Zionist, ein Polarforscher, ein Anthroposoph: Überall suchte Kafka nach erfolgreichen Entwürfen, nach Strategien der Behauptung, und es war zunächst einmal nachrangig, worin sich jemand behauptete.
Gewiss, jede erfolgreiche oder auch nur ›unverrückbare‹ Weltanschauung vermag vor psychischem Zerfall zu bewahren; ebenso jedes Interesse, in dessen Dienst ein ganzes Leben gestellt wird. Kafka verspürte Hochachtung, wenn er Derartiges beobachtete, selbst dann, wenn es sich um schlichteste religiöse Überzeugungen handelte – wie im Fall der ostjüdischen Flüchtlinge, die er sehr bald erleben sollte – oder um offenkundige Verrücktheiten wie die private Kosmologie des Dichters Johannes Schlaf. Doch zu Recht hegte er Zweifel daran, ob derartige Konstrukte, die ja immer anfechtbar und im Grunde austauschbar sind, die innere Fragmentierung auf Dauer würden heilen können. Traditionen, Theorien, geistige Inhalte bewahrten doch letztlich vor gar nichts: Man konnte überzeugter Zionist sein und gleichzeitig ein Vereinsmeier, ein kleinlicher Geschäftsmann oder ein notorischer Bordellkunde. Man konnte ein Liebhaber der Literatur sein und gleichzeitig ein verbohrter Deutschnationaler, ein Ehetyrann oder eine hygienische Zumutung. Dagegen zielte die Form der Askese, für die sich Kafka letztlich entschied, gerade darauf ab, derartige Brüche bis hinab an ihre tiefsten Ursprünge zu verschließen, zu heilen, die eigene Existenz in einem einzigen großen Entwurf zu bergen und damit Selbstgewissheit zu schaffen – nicht nur das Zutrauen, das eine feste Überzeugung einflößt, sondern Gewissheit seiner selbst.
Man muss wohl den großen asketischen Selbstentwurf, den Kafka in den Jahren bis 1914 zu einer gewissen praktischen Vollendung führte, den er zunächst lebbar machte, um ihn dann allmählich reflexiv zu durchdringen und sprachlich zu bewältigen – man muss diese Selbsterfindung als die entscheidende psychische Leistung bewerten, die aus dem unauffälligen Prager Juden das unwiederholbare, unnachahmbare ›Phänomen Kafka‹ machte. Denn um eine Leistung handelte es sich, die geglückte Leistung umfassender psychischer Integration, durch {485}die Kafka nach und nach alle seine Lebensäußerungen einer gemeinsamen Leitidee dienstbar machte und so seinem Leben Gestalt verlieh.
Bereits der Traum vom Schreiben in unterirdischer Abgeschiedenheit, jene Kellerphantasie, mit der Kafka die künftige Braut so nachhaltig irritiert hatte, war durchaus keine Laune, sondern ernst zu nehmen als Sinnbild, das Kafka dem eigenen zerfaserten Leben entgegenhielt. Literatur und Askese: diese Kombination war ja alles andere als zwingend, und weder Brod noch Werfel, noch Weiß vermochten recht einzusehen, warum gute Literatur unbedingt auf Kosten von schönen Frauen, intensiven Gesprächen und reichlichem Essen gehen sollte, ganz zu schweigen von der wahnwitzigen Idee, um des ungestörten Schreibens willen einen schalltoten Kellerraum zu bewohnen. Mit seiner immer deutlicher sich ausprägenden Vorstellung, ›reine‹ Literatur entstehe nur unter adäquaten, das heißt ›reinen‹ Bedingungen, isolierte sich Kafka im Kreis der Freunde. Doch gleichzeitig demonstrierte er, was ein auf Reinheit abzielender Stilwille zu leisten vermochte. Auch Brod musste anerkennen, dass die reine, schlackenlose, eben asketische Sprache, die Kafka anstrebte, keineswegs steril oder blutleer wirkte, sondern unerhörte ästhetische Energien freisetzte. Damit war der Nachweis erbracht, dass die Symbiose von Literatur und Askese durchaus nicht nur den Sinn hatte, einen psychischen Spalt zu schließen und zwei ›Interessen‹ Kafkas miteinander in Einklang zu bringen; vielmehr, dass diese Symbiose auch nach außen produktiv zu machen war – in atemberaubender Weise.
Es ist sehr wahrscheinlich – wenngleich natürlich nur durch Indizien zu belegen –, dass es diese gelungene Integration aller Lebensäußerungen war, die Kafka letztlich vor psychischer Erkrankung und vorm Suizid bewahrt hat. Die gestraffte Haltung, der asketische Stil, mit dem er sich augenfällig von seiner Umgebung und vor allem von seiner Familie absetzte, ermöglichte ihm die Identifikation mit sich selbst und gewiss auch eine Art von narzisstischem Stolz, der die qualvollen Gefühle der Minderwertigkeit immer wieder ausbalancierte. Jedem Vorwurf, ob berechtigt oder nicht, konnte jetzt Kafka entgegenhalten: ›So bin ich nun mal, und ändern kann man einen Menschen nicht.‹ Auch Felice Bauer musste diesen Satz mehr als einmal hören, und dass Kafka gleichwohl zerknirscht und schuldbewusst blieb, musste ihr unbegreiflich erscheinen.
Nicht zu übersehen ist andererseits, dass Kafka für diese Stilisierung {486}seiner Existenz einen enorm hohen Preis bezahlte. Hätte er sich damit begnügen können, die kleinbürgerlichen Ideale der Eltern, die dehnbar genug waren, in leicht aufgefrischter Form zu übernehmen, so wäre ein anständiges Leben schon hinreichend gewesen, um Anerkennung und damit wiederum Bewegungsfreiheit zu gewinnen. Kafka aber wollte ein reines Leben, und damit beraubte er sich jedes Spielraums, jeder Möglichkeit momentaner psychischer Entlastung. Denn Schmutz ist allgegenwärtig und Reinheit darum überaus anstrengend: Dies ist die unvermeidliche Kehrseite der Askese, die paranoide Konsequenz des Fundamentalismus, jene stählerne Rüstung, die dem Bewusstsein Haltung verleiht und es gleichzeitig zu Boden zieht. »In mir selbst gibt es ohne menschliche Beziehung keine sichtbaren Lügen«, notierte Kafka allen Ernstes. »Der begrenzte Kreis ist rein.« Und noch 1916 glaubte er, »reinbleiben« zähle zu den positiven, ja sogar zu den definierenden Eigenschaften des Junggesellentums, jener Lebensform also, die er früher als nichtig und gespensterhaft so gefürchtet hatte. [458] Mit anderen Worten: Man muss, um rein zu bleiben, die Tore schließen. Die Rüstung verstärken. Die Mauern höher ziehen.
Erst Jahre später hat Kafka offenbar verstanden, dass er im Begriff war, ein Zwangssystem zu errichten, welches sein Leben nicht nur narzisstisch erhöhte, sondern zugleich alle Lebensenergie verzehrte. In der Erzählung DER BAU fand er dafür das eindringlichste Sinnbild: Ein Ich, das sich einmauert, um autark zu bleiben, befindet sich in permanentem Belagerungszustand und ist darum verurteilt zu ewiger Wachheit. Alles ist gleich bedrohlich, jede Stelle gleich verwundbar. Nirgendwo darf man nachgeben, jede Nachlässigkeit wird bestraft, und ein psychischer ›Bau‹, der auch nur an einer einzigen Stelle undicht ist, wird ebenso zerstört werden wie ein Schiff, das an einem winzigen Leck zugrunde geht. Und endlich: Wo nichts hereindarf, wo alle Ritzen verstopft sind, dort kann auch nichts hinaus. »Meine Gefängniszelle – meine Festung«, heißt es lakonisch im Tagebuch, und eine präzisere, treffendere Gleichung ist schwerlich denkbar. [459]
Diese fundamentalistische Logik der Reinheit, der alles für Schmutz gilt, was nicht absolut rein ist, bietet den Schlüssel zu jener eigentümlichen Sturheit, die Kafka sich immer wieder vorwerfen lassen musste und die ihn nach eigener Überzeugung auch die Ehe kostete. Ein Ich, das an jedem Punkt gleich empfindlich ist, weil es überall leckschlagen kann, vermag nicht zu unterscheiden zwischen {487}Wichtigem und Marginalem, es kann und darf diese Unterscheidung nicht treffen. Eingeebnet wird damit zunächst das Gefälle zwischen Ernst und Spaß, zwischen Arbeit und Entspannung: Sehr bestimmt sprach Kafka von »Arbeit«, wenn er die nächtlichen literarischen Versuche meinte (das Büro hieß nur »Büro«), und ›Freizeit‹ im heutigen Sinn – nämlich Zeit, die von Verantwortlichkeit entbunden ist – kannte er spätestens seit der schöpferischen Phase im Herbst 1912 überhaupt nicht mehr. Einem Hobby nachzugehen, wäre Kafka habituell unfähig gewesen – man kann sich ihn als Sammler, als Bastler oder als ausdauernden Skatspieler schlechterdings nicht vorstellen.
Doch auch den Unterschied zwischen grundlegenden Überzeugungen und peripheren Gewohnheiten begann Kafka allmählich zu verwischen: Alles schien ihm gleich bedeutsam, alles gleich nah dem Zentrum. Selbst anlässlich der kleinen privaten Verlobungsfeier an Ostern 1914 brachte er es nicht über sich, das Fleisch anzurühren, das vor ihm auf dem Tisch stand, obwohl ihm bewusst war, dass er durch diese Weigerung den feierlichen Augenblick störte. Nein, gerade hier, inmitten von Menschen, die ihn anders wollten, als er war, musste das Visier geschlossen bleiben. Wohingegen er im Restaurant mit Erna, die ihn bewunderte, auch lockerlassen und ein Fleischgericht wählen konnte: »Wärest Du dabei gewesen«, gestand er Felice, »hätte ich wahrscheinlich Knackmandeln bestellt.« [460] Den Berliner Kommentar hierzu kann man sich ausmalen.
Dieses Bedürfnis, Haltung zu bewahren, sich im Alltäglichen kompromisslos und sichtbar abzugrenzen, machte sich mit zunehmender und schließlich kaum mehr beherrschbarer Dringlichkeit bemerkbar, je näher der fatale ›Empfangstag‹ rückte, jene öffentliche, von beiden Familien und zahlreichen Gästen zelebrierte Verlobung, deren Ankündigung im Berliner Tageblatt Kafka ein Albtraum war: Das klinge ihm so, schrieb er an Felice, »als stünde dort, dass F. K. am Pfingstsonntag eine Schleifenfahrt im Variete aufführen wird«. [461] Er wusste, wovon er sprach, denn dies war nicht der erste Empfangstag, den er in Berlin erlebte. Doch all die Verwandten und Freunde Felices, die im Jahr zuvor Schlange gestanden waren, um dem glücklichen Bruder Ferri und seiner Lydia ein Geschenk zur Verlobung zu überreichen – gerade sie würden ein besonders neugieriges und wachsames Auge auf den Prager Bräutigam werfen und sich fragen, ob es wohl diesmal klappte bei den Bauers.
Nein, längst war dies nicht mehr seine Veranstaltung, denn immer mehr Hände griffen jetzt bedenkenlos in sein Leben. Als er vertraulich bei Felice anfragte, ob es denn möglich sei, Ottla eine kleine Freude zu machen und sie schon einige Tage vor der Feier nach Berlin fahren zu lassen, da musste Kafka wütend mit ansehen, wie sein Plan sofort zum Verhandlungsgegenstand zweier Familien wurde, die sich ganz ohne sein Zutun auf eine Lösung verständigten (Ottla fuhr mit der Mutter). Auch Grete Bloch begriff offenbar nicht, wie sehr Kafka des Beistands und der vertraulichen Aussprache bedurfte. Gerade jetzt hatte sie sich dazu entschlossen, Wien zu verlassen und zu ihrer alten Stelle in Berlin zurückzukehren; natürlich hoffte darum Kafka auf eine gemeinsame Anreise, doch daraus wurde nichts. Und so musste er – anstatt Kraft zu sammeln für den bevorstehenden Auftritt – auch noch die lange Zugfahrt mit dem Vater überstehen, mit dem er schon seit vielen Jahren nicht mehr so lange allein beisammen gewesen war. Was dabei besprochen wurde, wissen wir nicht, doch steht zu befürchten, dass Hermann Kafka die Spielkarten hervorzog.
Kafka war am Ziel, am Ziel so vieler Briefe, so vieler Klagen. Jetzt nur noch die schreckliche Schleifenfahrt im Varieté. Doch irgendwie ging auch Pfingsten vorüber, und irgendwann war es überstanden. Da alle Beteiligten an einem Ort versammelt waren, bedurfte niemand einer schriftlichen Zusammenfassung. Auch Szenenfotos dieses Stücks besitzen wir leider nicht, obgleich Felice eine Plattenkamera besaß. Doch routiniert zu handhaben wusste sie das Gerät offenbar nicht. Schon in Prag hatte sie sich an einer Porträtaufnahme ihres Verlobten versucht. Auf dem entwickelten Foto war dann nichts zu sehen gewesen als ein weißes Wölkchen.
So bleiben uns nur Spuren, Erinnerungsblitze, das Flackern eines beschädigten Stummfilms: Felice Bauer im blauen Kleid, die vor aller Augen Kafkas Kuss empfängt; irgendwo im Raum Grete Bloch und ihr Bruder Hans, der stramme Zionist; die große Tafel mit Franz und Felice auf den Ehrenplätzen; Ottla, die stolze Schwester; die Tanten und Onkel, gewiss auch ein paar Kollegen, Felices junge, zu Tränen gerührte Sekretärinnen; die still leidende Erna, deren Blick freundlich auf Kafka ruht; das Geschenk Felices, ein in Wildleder gebundenes Buch, das er in den Händen dreht [462] ; das vielfache Anstoßen von Gläsern; die betriebsame Besprechung der Aussteuer, das Vermessen von {489}Wäschestücken, die Ratschläge der Mütter, die gemeinsamen Einkäufe; schließlich, als einziges von Kafka selbst initiiertes Ereignis, ein gemeinsamer Besuch bei Martin Buber. Und dann die Rückfahrt. Im Abteil der Vater, die Mutter, die Schwester.
Das ganze Programm, Akt für Akt. Vorzeitiges Verlassen der Bühne und des Zuschauerraums ausgeschlossen. Vier Tage benötigte Kafka, um sich zu einer Kritik aufzuraffen.
»Aus Berlin zurück. War gebunden wie ein Verbrecher. Hätte man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt und Gendarmen vor mich gestellt und mich nur auf diese Weise zuschauen lassen, es wäre nicht ärger gewesen.
Und das war meine Verlobung und alle bemühten sich mich zum Leben zu bringen und, da es nicht gelang, mich zu dulden wie ich war. F. allerdings am wenigsten von allen, vollständig berechtigter Weise, denn sie litt am meisten. Was den andern blosse Erscheinung war, war ihr Drohung.« [463]
Geht Kafka nicht völlig fehl, so muss Felice Bauer diese wenig beschwingten Feiertage durchlitten haben als kompakte Strafe für Jahre der Verdrängungen und des unzeitigen Schweigens. Solange eine Ehe noch nicht zur Diskussion stand, hatte sie sich über Kafkas Eigenheiten nicht allzu viele Gedanken gemacht: Mit Humor, Kopfschütteln und harmlosen Ermahnungen ging sie darüber hinweg. Erst in dem Augenblick, da die tatsächliche Form des künftigen Zusammenlebens zu einem Problem wurde, das nicht länger verdrängt werden konnte, fand sie sich überraschenderweise vor einer Festung, vor einer Zugbrücke, die eilends hochgezogen wurde. Und jetzt rächte es sich, dass sie niemals ernsthaft versucht hatte, sich mit Kafka konkret zu verständigen, solange noch Zeit war.
Unverständlich, geradezu bedrohlich muss ihr etwa der hartnäckige Widerstand erschienen sein, den Kafka dem Kauf einer gewöhnlichen bürgerlichen Wohnungseinrichtung entgegensetzte. Zweifellos war ihr schon beim ersten Besuch bei den Kafkas aufgefallen, dass das Zimmer ihres Verlobten wenig anheimelnd, ja geradezu karg eingerichtet war. Bald stellte sich heraus, dass dies keine bloße Nachlässigkeit war, sondern ›System‹ hatte: Auch Möbel waren für Kafka eine Grundsatzfrage – wie mittlerweile fast alles.
»Was für Zimmer habe ich jetzt wieder gesehn! Man muss glauben, dass sich die Leute unwissend oder mutwillig im Schmutz begraben. Wenigstens ist es hier so, sie fassen Schmutz ich meine überladene Kredenzen, Teppiche vor {490}dem Fenster, Photographieaufbaue auf den missbrauchten Schreibtischen, Wäscheanhäufungen in den Betten, Kaffeehauspalmen in den Winkeln, alles dieses fassen sie als Luxus auf.« [464]
Man muss hier genau hinsehen: Kargheit und Schlichtheit sind Elemente von ›Reinheit‹, darum ist für Kafka Überladenheit gleichbedeutend mit ›Schmutz‹. Erst im dritten Satz fällt ihm ein, dass dies für Felice keineswegs selbstverständlich ist und darum einer Erklärung bedarf. Nun aber muss er einräumen – und in dieser Deutlichkeit wohl zum ersten Mal –, dass jene Art von Häuslichkeit, in der Felice Bauer aufgewachsen war und die allein sie für ›gemütlich‹ und zugleich ›repräsentativ‹ hielt, für ihn nichts anderes war als Ramsch und erstickender Schmutz und dass er darum die Nötigung, sich am Bau eines derart fragwürdigen Nests zu beteiligen, als Angriff auf seine ›Person‹ empfinden musste. Und es war sicherlich nicht das geringste Unglück jener fatalen Verlobungsfeierlichkeiten, dass Kafka angesichts des Gegendrucks sämtlicher Mitglieder der eigenen wie fremden Familie nicht sagen konnte, was er denn wirklich wollte.
»Statt dessen giengen wir in Berlin Möbel für die Prager Einrichtung eines Beamten einkaufen. Schwere Möbel, die einmal aufgestellt, kaum mehr wegzubringen schienen. Gerade ihre Solidität schätztest Du am meisten. Die Kredenz bedrückte mir die Brust, ein vollkommenes Grabdenkmal oder ein Denkmal Prager Beamtenlebens. Wenn bei der Besichtigung irgendwo in der Ferne des Möbellagers ein Sterbeglöckchen geläutet hätte, es wäre nicht unpassend gewesen.« [465]
Offenbar gelang es ihm, wenigstens einen Teil der geplanten Einkäufe, die ja auf seine Rechnung gingen, aufzuschieben, wenngleich sich wohl alles schaudernd abwandte von den billigen Rohrsesseln, die er für die besten und bequemsten hielt. Verstanden hat diese neuerliche Renitenz gewiss niemand, und so blieb es bei der wenig verheißungsvollen Erfahrung, dass bei Kafka alles, aber tatsächlich alles zu einem Problem werden konnte.
Wie es in den Wohnungen von Kafkas verheirateten Freunden aussah, wissen wir nicht, doch ist anzunehmen, dass er wenigstens hier mit seiner Aversion gegen die gemütvoll ausgepolsterte bürgerliche Wohnhöhle keineswegs allein stand. Schlichtheit, Betonung der Funktion und eine demonstrative Ehrlichkeit des Materials waren schon seit der Jahrhundertwende kulturkritisch untermauerte Forderungen {491}von Künstlern und Handwerkern. Der Architekt und Designer Adolf Loos, einer der wenigen lebenslangen Freunde von Karl Kraus, verglich in seinem einflussreichen Aufsatz ›Ornament und Verbrechen‹ (1908) die Sucht, alles mit Zierrat zu überdecken, mit den ästhetischen Vorstellungen der Papuas, denen das tätowierte Gesicht besser gefällt als jedes natürliche. Im März 1913 hatte Loos einen Vortrag in Prag gehalten, bei dem schon der Titel verriet, dass es ihm – ganz ähnlich wie Kafka – um einen schlichten, doch einheitlichen, an natürlichen Notwendigkeiten sich orientierenden Wohnstil ging: ›Stehen, gehen, sitzen, liegen, schlafen, essen und trinken‹.
Als gänzlich abwegig galten solche Vorstellungen also nicht mehr, und auch die asketischen Möbel, die Kafka sich wünschte, gab es längst. Er hatte sich, kaum war die Heirat beschlossen, Prospekte von den ›Deutschen Werkstätten‹ schicken lassen, die komplette Einrichtungen in verschiedenen Preislagen anboten. Dekorative Kredenzen und die von Kafka besonders gehassten zentnerschweren Ehebetten wurden dort nicht produziert, stattdessen preiswerte, leicht zerlegbare und transportierbare Funktionsmöbel, die Vorläufer der seriellen Anbaumöbel. Es waren vor allem Familien von Arbeitern und kleinen Angestellten, die diesem Unternehmen zu raschem Wachstum verhalfen: Seit 1913 waren die Deutschen Werkstätten eine Aktiengesellschaft, die mehr als 500 Menschen beschäftigte. Die bürgerliche Kundschaft hingegen rümpfte nach wie vor die Nase über die ›Maschinenmöbel‹, die ihnen keineswegs elegant, sondern armselig erschienen, zwischen denen ihnen unbehaglich war und die sich absolut nicht vertrugen mit Kissen, Decken, Nippes, Vasen, Bildchen, Fächern, Haussegen, Vorlegern, Fellchen, Muschelaufsätzen, Troddeln, Fransen und geblümten Möbelbezügen aus Plüsch. [466]
Nicht zufällig hatten die Deutschen Werkstätten ihren Betrieb in die Gartenstadt Hellerau bei Dresden verlegt, eine Modellsiedlung von knapp 2000 Einwohnern, die mit ihrer Ausrichtung auf natürliches und gesundes, dabei funktionelles Wohnen einen der wenigen konkret-utopischen Ausblicke aus der Massengesellschaft der Vorkriegszeit bot. Der Tischler Karl Schmidt, der es gern hörte, wenn er als »Holz-Goethe« tituliert wurde, war Mitbegründer der gemeinnützigen ›Gartenstadt Gesellschaft Hellerau m.b.H.‹ wie auch Eigner der Deutschen Werkstätten, und allein die Tatsache, dass ein Betrieb von solcher Ausdehnung aus der Stadt hinauszog, zu den Wohnstätten seiner {492}Arbeiter, erregte Aufsehen unter Philanthropen jeglicher Spielart. Künstler interessierten sich für Hellerau, fortschrittliche Architekten und Handwerker, auch Schriftsteller. Die von Émile Jaques-Dalcroze begründete ›Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus‹ war hier ansässig, ebenso der Verleger und Buchdrucker Jakob Hegner, der wiederum Beziehungen zu den Literatenszenen in Berlin, Leipzig und Prag unterhielt.
Auch Kafka muss über die Gartenstadt – ein beliebtes Thema in den Kaffeehäusern – besser Bescheid gewusst haben, als die frühen Briefe und Tagebücher zu erkennen geben. Hätte er die freie Wahl des Wohnorts gehabt, so wäre Hellerau gewiss in die engere Wahl gelangt. Als er im Juni 1914 einen Vorschlag Otto Picks aufgriff, ihn nach Hellerau zu begleiten, waren dafür jedoch andere Gründe ausschlaggebend, und abgesehen von Kafkas Neugier auf Dalcrozes ›Bildungsanstalt‹ fuhr er wohl vor allem mit, um Möbel zu besichtigen.
Dass er es nur schlecht vertrug, herumgereicht zu werden, hatte sich schon in Wien erwiesen, und auch in der Hellerauer Künstlerkolonie wird der schweigsame, stets lächelnde Mann aus Prag nicht allzu tiefe Erinnerungsspuren hinterlassen haben. Immerhin hatte Kafka ein Gespräch mit Hegner, der ihm französische Literatur mitgab und ihn als Übersetzer gewinnen wollte, und er saß in größerer Runde im Vorgärtchen des Kunstschmieds Georg von Mendelssohn, wo er mit dem fünfjährigen Sohn Peter spielen durfte (dem künftigen ThomasMann-Biographen). Kurt Wolff ließ sich sehen, Haas und noch ein paar weitere Bekannte aus Prag – ein paar Menschen zu viel. Kafka hatte bald genug, und obwohl er sich schon auf halbem Weg nach Berlin befand, verzichtete er auf die Weiterfahrt und sagte telefonisch ab. Einen Abstecher nach Leipzig machte er noch, um eine Ausstellung über Buchgrafik zu sehen, dann kehrte er nach Prag zurück.
Man hatte sich für den Abend zur allgemeinen Nachbesprechung in einem Prager Kaffeehaus verabredet, und Kafka, der ohnehin das Gefühl hatte, sich »schrecklich aufgeführt« zu haben, wollte nicht erneut beiseite stehen. Doch von Hellerau sprach heute niemand mehr. Es war etwas dazwischengekommen, etwas Großes, Unausdenkbares. Auf dem Turm des Prager Rathauses und auf dem Deutschen Kasino wehten Trauerfahnen. Alle Kinos und Varietés waren geschlossen. In der Altstadt großes Gedränge, heimkehrende Ausflügler, neugierige, bewegte, aufgewühlte Menschen. In beinahe jeder Hand das Extrablatt {493}einer Prager Tageszeitung. Auf der Titelseite ein dicker schwarzer Rahmen, darin die riesige Schlagzeile: Der Thronfolger und seine Gemahlin ermordet. Die Schlagzeile des Jahrhunderts.
»Schrecken über Schrecken«, notierte Kafka im Tagebuch. Doch das bezog sich keineswegs auf das Attentat von Sarajevo. [467] Er war jetzt überempfindlich gegen Menschen, zog sich zurück, wo immer es nur anging, und an den erregten Debatten im Büro und am häuslichen Esstisch hat er sich wohl kaum beteiligt. Ja, Franz Ferdinand war tot: ein finsterer Mensch, den sich ohnehin kaum jemand als künftigen Kaiser hatte vorstellen können. Gavrilo Princip hieß der Attentäter, ein junger Fanatiker, der die österreichische Besatzungsmacht in Bosnien hasste. Aber dahinter steckten die Serben, denen ihre Siege in den Balkankriegen zu Kopf gestiegen waren und denen man jetzt endlich eine Lektion erteilen musste. »Mir bleibt doch gar nichts erspart«, hatte der alte Kaiser gesagt, als ihn die Schreckensbotschaft des zweifachen Mordes erreichte. Und inmitten all des Feldgeschreis, das sich jetzt erhob, war dies vielleicht die einzige Stimme, die in Kafka wirklich eindrang.