34.
Das Ende der Hispaniola
Bei Sonnenuntergang war die Palisadengruppe an den Strand hinuntergekommen, hatte das Boot seeklar gemacht und ruderte zum Schiff zurück. Ich bemerkte Betsy zuerst, denn die hatte ihr weißes Kleid fortgeworfen und trug nur den Unterrock, den sie vom Flaggenmast runtergeholt hatte.
Die Schiffsgruppe war entwaffnet. Ned Barker und Daniel stellten eine Wache für die Nacht auf, aber das war wirklich nicht nötig. Die Kampflust hatte Squire und Argent verlassen. Meine Rückkehr aus dem nassen Grab und meine Nachricht von Dick Johnson hatte ihnen allen Mumm geraubt. Sie wußten nicht, ob sie mir wegen der Silberbarren glauben sollten (um ehrlich zu sein, ich wußte selbst nicht, ob ich Dick Johnson glauben sollte oder nicht). Doch wenn es in dem Versteck war, konnten sie es nicht ohne die Hilfe der Palisaden-Leute herausholen.
Ich kochte das Abendessen mit Molly Brindle, die mir alles erzählte, was sich ereignet hatte, während ich von ihnen getrennt gewesen war, einschließlich Squires fatalem Fehler, die Sklavinnen an Bord zu bringen.
Trelawney und Argent verbrachten ihre Zeit mit Wilton-Stilton und arbeiteten aus, was sie morgen tun sollten. Wilton begann, einen Vertrag zu entwerfen, der sehr vernünftig aussah, wenigstens auf dem Papier. Er erfüllte alle Forderungen und sollte von allen Parteien unterzeichnet werden, so daß der Weg frei wäre, an den Schatz zu gelangen, ,wo immer und in welchem Zustand das sein möge’, hieß es. Selbst der gute Wensleydale konnte nicht noch vernünftiger sein. Der arme Kerl war damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie er dies künstliche Bein heraufholen und in Ordnung bringen könnte. Ich glaube, daß er mir das lange nicht vergeben würde.
Als der Morgen kam, war alles für eine harte Verhandlung bereit, wenigstens dachten wir das. Doch als wir uns alle an Deck versammelten, wartete ein neuer Schock auf uns.
Daniel wedelte das von Mr. Wilton angebotene Dokument völlig kühl beiseite und sagte: „Wir wollen kein Papier. Wir übernehmen das Schiff.“
„Das Schiff?“ explodierte Kapitän Gray.
„Das Schiff. Wir segeln nach Jamaica.“
Der Squire war ungläubig.
„Sie werden euch in dem Augenblick, wo ihr landet in Ketten legen. Was ihr getan habt, bedeutet fünfhundert Peitschenschläge und eine Krawatte vom Henker.“
„Mr. Trelawney, es ist nicht nötig, daß Ihr mir sagt, was sie mit entlaufenen Sklaven machen. Aber wir gehen nicht nach Kingston. Wir segeln nach Rio Grande auf der Windseite, wo die Maroonneger leben. Kingston ist nicht der rechte Ort für uns. Aber regt Euch nicht auf. Wir geben ihnen Bescheid, daß sie kommen und Euch holen können. Immer in der Annahme, daß sie dem Wort eines nutzlosen Niggers glauben.“
„Ihr werdet niemals das Schiff steuern können“, sagte Gray. „Wir könnten Euch mitnehmen, Käptn“, sagte Daniel scherzhaft.
Gray wurde rot.
„Ich werde niemals unter Zwang segeln.“
„Dann bleibt Ihr hier. Betsy wird steuern. Sie hat das Handbuch von hinten nach vom, vorwärts und rückwärts gelesen.“
Argent und die andern fingen an zu lachen, aber Daniel wischte ihr Gelächter mit einer Handbewegung fort.
„Ist uns egal, was Ihr denkt. Wir gehen. Ihr meint, wir können kein Segel setzen und keinen Kurs bestimmen und dies alte Rad nicht drehen. Nun, Ihr werdet’s sehen. Ich will Euch was sagen, Mr. Trelawney. Als Joby und ich vor zehn Jahren von der Beninküste herüber verschifft wurden, war die Mannschaft so von Gelbfieber geschwächt, daß sie uns raufholten, um das Schiff zu bemannen.“
Seine Stimme wurde lauter.
„Sie zwangen uns, uns selbst in die Sklaverei zu segeln. Nun, jetzt segeln wir wieder heraus.“
Er machte eine kleine Pause und betrachtete uns prüfend, abschätzend, dachte ich, als hätte er die Absicht, einen Handel abzuschließen.
„Doktor kann mit uns kommen. Wir brauchen ihn. Außerdem kann er dort drüben Blumen und Fliegen nachjagen, soviel es ihm Spaß macht. Tretet auf diese Seite herüber, Doktor.“
Des Squires Augen wurden groß und rund, als der Doktor tat wie geheißen.
„Ned Barker kann mit uns kommen, denn er ist ein anständiger Kerl. Er kann nichts für seine Hautfarbe. Es ist nicht unsere Schuld, wie wir geboren werden, doch wir können darüber hinauswachsen.“
Du lieber Gott, was für einen Prediger würde Daniel abgeben, dachte ich.
„Molly Brindle kann kommen, denn Joby und sie haben eine gemeinsame Aufgabe.“ Molly, mit dickem Bauch und rosigen Wangen, trat hinüber.
„Der kleine Tom kann kommen, weil er geholfen hat, und Jim Hawkins, weil er niemandem etwas zuleide getan hat. Ihr andern könnt kommen, außer Squire, Lady Alice, Mr. Argent und dem Erfinder und dem Anwalt, die brauchen wir nicht bei dem Leben, das wir führen werden.
Diejenigen, die nicht mit uns kommen, werden wir an Land absetzen. Wir werden die Vorräte, die Waffen und das Pulver austeilen, Mann für Mann und Frau für Frau. Dann segeln wir. Ich schätze, Ihr habt einen Monat. Ihr könnt fischen, schwimmen, in der Sonne liegen, auf Schatzsuche gehen. Es werden richtige Ferien sein. Das heißt, wenn die Leute in Kingston uns glauben...“
„Das wär’s wohl“, schloß er.
Es herrschte Schweigen. Dann sagte Jem Morris laut und deutlich: „Ich geh’ rüber. Ich hab’ noch ein paar Runden vor mir, bevor ich Daniel schlage.“ Henry King trat zu Kapitän Grays Ärger auch hinüber. Ich glaube, er hatte ein Auge auf eines der schwarzen Mädchen geworfen.
Jim Hawkins schüttelte den Kopf.
„Es tut mir leid, Euch auf Wiedersehen zu sagen, Doktor, aber ich beabsichtige, nach Hause zu gelangen. Ich habe diese Reise nie gewollt, und es ist nichts Gutes dabei herausgekommen. Aber ich werde bei unserer Gruppe bleiben.“
Ned Barker sagte: „Ich werde hierbleiben. Was mich betrifft, so habe ich eine Auseinandersetzung mit meinem Arbeitgeber, und es verstößt gegen die Geschäftsprinzipien, eine andere Arbeit anzunehmen, solange die Kontroverse andauert. Außerdem“, er lächelte verschmitzt, „liegen Monate harter Arbeit vor uns, um an diese Silberbarren zu gelangen bei dem jetzigen Arbeitstempo.“ Dann schauten sie mich an. Ich dachte eine Weile nach und sah Betsy an. Aber sie vermied meinen Blick, wie um zu sagen, entscheide dich selbst.
„Ich bleibe bei Master Hawkins. Er war gut zu mir, als ich es brauchte. Ich werde ihn jetzt nicht verlassen. Außerdem mag ich keine langen Predigten.“
So, das war geschafft. Die Gesellschaft teilte sich in zwei Gruppen: eine, die an Bord bleiben, und eine, die an Land gehen sollte. Dann folgte das Aufteilen der Vorräte. Das Boot wurde nochmals ins Wasser gelassen, und die Vorräte der Inselgruppe wurden am Strand gestapelt. Dann kam das Boot zurück, um uns an Land zu bringen. Die Schiffsgruppe stand an Deck Spalier, und wir gingen hindurch und kletterten an der Seite hinab und ins Boot.
Als Mr. Somerscale mit Lady Alice am Arm an Daniel vorbeiging, bemerkte er: „Mir scheint, daß Eure Gesellschaft, die auf Irrationalität gegründet ist und sich dem Fortschritt und dem Lauf der Geschichte entgegenstellt, fehlschlagen muß.“ Worauf Daniel mit einem spöttischen Lächeln antwortete.
Jim schüttelte dem Doktor die Hand. Beide waren tief bewegt. Mir tat es leid, Dr. Livesey Lebewohl zu sagen, ein feiner Mann. Als Nächstes gingen Ben Gunn, Mr. Hall und der kleine Wilton mit seinem Bündel Papiere. Ich bin sicher, daß er sich mit Freuden bei Daniel verpflichtet und eine wunderbare Verfassung ausgearbeitet hätte.
Dann war Mr. Argent an der Reihe. Als er sich anschickte, das Schiff zu verlassen, trat ihm eine rundliche schwarze Dame mit grauem Haar in den Weg, die Arme in die Seiten gestemmt. Ich ahnte, daß dies Nanny war, die Anführerin der Sklavinnen. „Ja, du tust gut daran, bleich zu werden, John Silver. Du weißt, daß jede einzelne deiner letzten Schwierigkeiten von mir kam. Ich quäle dich jetzt, wie du mich einst gequält hast.“
Sie sprach zu allen. „Als er auf Schatzsuche ging, kümmerte ich mich um sein Geld vom Gasthaus ,Zum Fernrohr’ in Bristol. Ich war seine angetraute Frau, doch ohne Papiere, es zu beweisen. Als wir uns dann in Kingston wiedertrafen, und er entschlossen war, ein feiner, reicher Händler zu werden, fragte ich ihn, wann wir zur Kirche gehen. Aber das paßte ihm nicht.“
Sie trat vor, Mr. Argent wich zurück. Ich habe ihn nie so vor den Kopf gestoßen gesehen, seine Lippen zitterten.
„Angesehene weiße Männer in Kingston haben keine schwarzen Frauen, nein, Sir. Sie halten sie in der Küche und in einer Hütte hinten im Garten. Aber das paßte mir nicht. So hat er mich von jenem Tag bis heute nicht gesehen. Aber ich habe ihn beobachtet. Du hieltest dich für schlau, als du Betsy den Squire ausspionieren ließest. Aber wer schickte Betsy zu dir, als sie Vierzehn war? Ich.“
Ich spitzte die Ohren. Ein Geheimnis war gelüftet. Diese monatlichen Shillinge kamen von Betsy.
Mr. Argent knirschte mit den Zähnen.
„Du hast diese Federn auf meinen Teller getan.“
Nanny lächelte honigsüß. Als wäre es zuviel für ihn, drehte Mr. Argent sich auf dem Absatz um und humpelte plötzlich fort nach unten.
„Verd…“ sagte der Squire und wandte sich zu Nanny. „Betsy, sie ist deine Tochter.“
Nanny nickte. Der Squire brüllte vor Lachen.
„Gackert nur nicht so“, sagte sie zu ihm. „Denn Ihr könnt nicht nach Kingston zurückgehen.“
„Was?“ sagte der Squire.
„Denn Ihr werdet angeklagt werden, sechs Sklavinnen ohne Erlaubnis aus der Obhut ihrer Meister entfernt zu haben und einige von ihren Ehemännern. Euer Name ist zur Zeit in Kingston besudelt.“
Mit großen Augen und zusammengepreßten Lippen kletterte der Squire hinunter ins Boot, Jim und der erste Maat halfen ihm. Als ich an die Reihe kam, schaute ich nach Betsy aus, aber ihr Gesicht war immer noch von mir abgewandt.
Wir sprachen nicht ein Wort. Jener Kuß war nicht geküßt, und damit aus.
Dann kam Mr. Argent, so geschickt wie immer mit seiner Krücke. Die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Ich fragte mich, ob er einen tüchtigen Schluck Rum genommen hatte, während er unten war. Aber man roch nichts. Er sah ruhig aus, komischerweise fand ich, wenn es nicht Erleichterung war, nach all diesen Jahren Nannys Einfluß zu entkommen.
Jetzt kam Kapitän Gray hinunter, salutierte dem Schiff, und wir beugten uns über die Ruder.
Als wir uns vom Schiff entfernten, erklang Nannys Stimme von oben. „Du glaubtest, auf dem hohen Roß zu sitzen, John, aber du hast dir selbst eine Grube gegraben. Squire — der ist ja zu langsam, um eine Schnecke zu fangen. Und du bist zu schlau für deinen eigenen Vorteil. Lebwohl!“
Plötzlich grinste Mr. Argent und drehte sich im Heck des Bootes um.
„Lebwohl, Maisie Jane (das einzige Mal, das ich Nannys Namen ausgesprochen hörte). Lebwohl für immer.“
Bald lief das Boot mit dem Bug auf Sand, und wir waren damit beschäftigt, unsere Vorräte auszuladen. Vom Wasser her hörten wir den Anker heraufrasseln und Betsys Stimme Befehle geben. Ich unterbrach meine Arbeit, um zu sehen, wie das Schiff sich in Bewegung setzte und durch den Kanal an der Skelett-Insel entlang segelte. Neben mir nickte Kapitän Gray wider Willen, als er es beobachtete. Ungefähr richtig, südsüdwest, um an der Landspitze vorbeizukommen, dann im Westen kreuzen.
Die Segel füllten sich mit Wind. Sie war ein stolzer Anblick, die alte Hispaniola, und ich sah, wie Master Jim ihr ein wenig traurig nachblickte.
„Das ist das letzte, was wir von der Hispaniola sehen werden“, sagte er.
Er sprach wahrer, als er wußte. In diesem Augenblick hörten wir Nannys Stimme wieder wie durch ein Megaphon.
„So John. Über eines magst du noch nachdenken. Betsy ist meine Tochter. Richtig? Nun, sie ist auch deine. Sie war in meinem Bauch, als du uns herauswarfst, aber das hast du nie gewußt.“
„Du lügst!“ kreischte Mr. Argent. Ein spöttisches Lachen antwortete, als das Schiff hinter der Skelett-Insel verschwand. „Schau Silver an“, sagte Master Jim und legte mir die Hand auf den Arm.
Mr. Argent stand einen Augenblick da wie vom Blitz getroffen. Dann stöhnte er laut auf und begann, hinunter zur Landzunge zu stolpern und zu straucheln, seine Krücke bohrte sich in den weichen Sand. „Anhalten“, heulte er. „Anhalten!“ Doch jetzt war die Hispaniola außer Hörweite.
Bald würde sie nicht mehr zu sehen sein, denn die Bläue des Himmels verblich und ging in die Dämmerung über. Wir konnten Mr. Argent am Ende der Landzunge als Silhouette gegen den Himmel sehen, die Arme in einer flehenden Gebärde gegen das verschwindende Schiff ausgestreckt.
Dann entzog ein niedriger Hügel im Südwesten es unseren Blicken.
„Kommt jetzt“, sagte Kapitän Gray. „Laßt uns diese Vorräte vor dem Dunkelwerden unterstellen. Wir werden eine Segeltuchplane herrichten.“
„Einverstanden“, sagte Master Hawkins. „Ich werde niemals in die Nähe dieser Palisade gehen.“
Wir waren mitten beim Schleppen der Vorräte, als Mr. Argent erschien, er humpelte langsam die Küste entlang. Seine Kleider hingen an ihm wie an einer Vogelscheuche, seine Strümpfe waren zerrissen und schmutzig. Er hatte seinen guten Schnallenschuh verloren. Er bot einen Anblick äußerster Verzweiflung. Trelawney schaute ihn an und stellte das Faß ab, das er trug. Er trat einen Schritt auf Mr. Argent zu. „Silver, was ist denn?“ Vor unseren erstaunten Augen fing dieser Mann an zu weinen. Die Tränen rannen über seine eingefallenen Wangen.
„Meine Tochter. Sie war meine Tochter.“
„Ja nun, da kann man jetzt nichts machen. Ihr seid bis jetzt ohne sie ausgekommen. Hat keinen Zweck, darüber zu flennen.“
„Ihr Narr“, schnauzte Mr. Argent. „Ihr wißt nicht... Ich habe..
Mr. Trelawney stolperte hinüber und packte Mr. Argent beim Mantel.
„Ihr Schuft, was habt Ihr getan?“
Mr. Argent sprach durch die zusammengebissenen Zähne:
„Ich ging nach unten... streute Pulver und zündete eine Lunte.“
„Ihr tatet was?“
„Eine Lunte...“, wiederholte Mr. Argent, seine Augen rollten wild.
„Warum, in Gottes Namen?“
„Diese Katze... gequält hat sie mich... bin sie endlich losgeworden...“
„Lump, Mörder!“ schrie der Squire, schleuderte Mr. Argent von sich und zog sein Entermesser.
Sie kämpften wie die Teufel. Wenn einer dieser verrückten niedermähenden Hiebe sein Ziel gefunden hätte, hätte er sein Opfer vom Schädel bis zu den Eingeweiden gespalten. Und ich begann zu wünschen, daß Squire treffen und diesem lächelnden Schurken den Kopf von den Schultern absäbeln würde. Jetzt endlich verstand ich Master Hawkins Gefühl dieser Insel gegenüber und allem, was damit zusammenhing.
Als sie erschöpft miteinander im Sand rollten, zog Kapitän Gray die Pistole. Er schlug mit dem Lauf an eine Eisenstange. Das ergab ein klingendes Geräusch, wie wenn der alte Oakleigh in vergangenen Tagen in der Werkstatt an die Schraubzwinge schlug. Das Kämpfen hörte auf, die beiden alten Männer lagen ausgestreckt im Sand.
Als die Sonne unterging, krochen Schatten den Strand entlang, und die Seebrise bewegte die Kiefern. Es herrschte Stille. „Laßt uns beten“, sagte Kapitän Gray und faltete die Hände. Wir fielen auf die Knie.
„Vater unser, der du bist im Himmel...“
Als er zu den Worten kam „... und vergib uns unsere Schuld“, hörten wir draußen auf See ein dumpfes Krachen, als Silvers Sprengstoffladung die Hispaniola in Stücke riß.