10.

Die Landkarte

 

 

Nach geheimnisvollem Dunkel nun eine Aufregung und keine allzu angenehme. Es fing alles ganz gut an. Betsy kam vom Herrenhaus herüber, sie ritt hinter Daniel auf einem großen Rotschimmel, mit hocherhobenem Kopf wie eine Dame, doch mit seitlich ausgestreckten Füßen wie der Wildfang, der sie eigentlich war. Sie brachte Master Hawkins eine Einladung, mit dem Squire zu Abend zu essen. An der Einladung hing ein Zettel, auf dem stand „Hinterher Rosinen und Wein in der Bibliothek“, was ich für eine Art alten Brauch oder Scherz zwischen alten Freunden hielt. Sie brachte auch ein paar Zeilen für mich, mit der Bitte, ebenfalls zu kommen und eine Kiste Portwein mitzubringen, ich wüßte schon, welchen. Das wußte ich allerdings, einen, der so alt und so gut abgelagert war, daß es ein Wunder war, daß das Bein des Squire nicht sofort abfiel.

Es war ein angenehmer Abend, wie ich beobachtete. Denn obwohl ich mein Essen in der Küche mit Betsy, Daniel und den anderen einnahm, hatte ich die Aufgabe, die Weine zu wählen und einzuschenken, was bedeutete, daß ich im Speisesaal und danach in der Bibliothek ein- und ausging, und wenn ich trödelte und ein wenig blieb, während sie sich unterhielten, schien das niemand zu merken. Diejenigen, die bedient werden, schenken denen, die bedienen, keine Aufmerksamkeit, außer natürlich, wenn Teller oder Glas leer sind.

Einmal, als ich mit dem Brandy vom Keller kam, entdeckte ich Betsy auf ihrem Lauschposten an der Tür zurr Bibliothek. Ich nutzte die Gelegenheit, sie in den Hintern zu kneifen, der sich so einladend rundete, während sie sich nach vorn beugte. Sie wirbelte herum, packte mein Handgelenk mit eisernem Griff, brachte ihre kastanienbraunen Wangen und Stupsnase dicht an meine und sagte: „Ein Wort des Verrats, und ich beiß dir die Nase ab.“ Sie schnappte mit ihren weißen Zähnen nach mir, dann schwenkte sie ab den Flur hinunter.

In der Bibliothek fand ich den Squire und den Doktor rauchend am Kamin, ich nahm an aus Rücksicht auf Lady Alice, die in einer Ecke des Sofas auf der anderen Seite des Raumes saß und elegant und gelangweilt in schwarzer und weißer Spitze aussah, während Master Jim in der anderen Ecke saß, bleich, streng und gut aussah und sein Bestes tat, sich über sechs Fuß leere Luft hinweg zu unterhalten.

Neben ihm stand ein Teller voller Rosinen, die er zum Wein kaute. Eine seltsame Zusammenstellung, dachte ich, denn ich ziehe Käse zum Wein vor, wenn überhaupt etwas. Doch über Geschmack läßt sich nicht streiten, sagte der Mann, als er den Franzosen Froschschenkel essen sah.

Zwischen den Vieren lag Spannung in der Luft. Ich war mitten in einer Auseinandersetzung hineingekommen. Die Versuchung war zu groß. Ich schenkte den Brandy ein, ging zur Tür, öffnete sie und schloß sie wieder, während ich drinnen blieb und mich in den Schatten außerhalb des Feuerscheines und Kerzenlichtes stellte. Meine List wurde belohnt, wie es manchmal bei einer List der Fall ist, denn warum würden die Leute sie sonst gebrauchen? Der Squire klopfte seine Pfeife aus und begann zu sprechen. „Jim, mein Junge, seht es doch so an. Die Anzeichen stimmen. Ihr wißt, daß unsere Familie in der letzten Zeit ihren Teil Unglück gehabt hat.“ Master Jim blickte voller Mitgefühl zu Lady Alice, aber sie ignorierte ihn. „Ob es uns gefällt oder nicht“, fuhr der Squire fort, „unser Vermögen ist versickert; es ist uns schwergefallen, dieses Herrenhaus so zu unterhalten, wie es getan werden sollte, und Lady Alice...“

„Zur Sache, Sir“, unterbrach ihn sein Mündel.

„Aber jetzt, Jim, mein Junge, scheint das Schicksal uns zuzulächeln. Es gibt Anzeichen. Erstens schickt mir Blandly, der Agent unten in Bristol — Ihr erinnert Euch an ihn? — ein Juwel von einem Dienstmädchen, Betsy. Was schwerer wiegt, sie wurde für einen Appel und ein Ei zu einer Zeit gekauft, als man jemanden wie sie nicht einmal für fünfzig Goldguineen kaufen konnte.

Darüber hinaus gibt mir dieser vorzügliche Bursche Nachricht, daß er von einem Spekulationsunternehmen weiß, an dem ich mich, meinem Vermögen entsprechend, mit einem Viertel oder Achtel des Gewinns beteiligen kann. Kupferwaren nach Benin, Neger nach Kingston und Zucker nach Bristol. So sicher wie die Bank von England, schätzt er, und fast so gewinnbringend.“ Master Jim schaute verdutzt drein.

„Ich helfe Euch gern mit dem, was ich habe, Mr. Trelawney, wie Ihr wohl wißt, aber das ist nicht annähernd genug, um derartige Aktien zu kaufen.“

Lady Alice sah meinen Herrn voller Verachtung an.

„Unsinn, Jim, mein Junge“, sagte der Squire. „Paßt gut auf.“ Der Doktor blickte ins Feuer, auf seinem Gesicht lag ein sonderbarer Ausdruck, er schien peinlich berührt.

„Erstens“, fuhr der Squire fort, „muß ich in die .Gesellschaft der Wagemutigen Kaufleute“ hineinkommen. Nun, das ist nicht so schwierig, wie es sich anhört. Blandly kennt ein paar Herren, Leute, die ihrem Land und König treu ergeben sind, keine von diesen verdammten Whigs oder Quäkern, die froh wären, mich bei den ,Wagemutigen’ zu haben, um ihnen den Rücken zu stärken und ein wenig Gewicht in die Debatten zu bringen.“

Die Pfeife des Doktors knackte.

Der Squire starrte ihn an.

„So ist das, und alles, was ich brauche, ist Kapital, mein Junge.“

„Das sehe ich, Mr. Trelawney, Sir. Wie wollt Ihr es beschaffen?“

„Beschaffen, genau darum geht es, Jim“, antwortete der Squire, bewegte in der Erregung sein Bein und zuckte dann vor Schmerz zusammen.

„Nun ja — die Silberbarren. Die Silberbarren. Mit zweitausend kann ich eine Expedition aufstellen. Wenn meine Vermutung stimmt, könnte eine Viertelmillion in dem Versteck liegen, so wie die Marktlage heute ist. Genug, um eine Flotte zu den Westindischen Inseln zu schicken, genug, um uns in Gelde zu wälzen, genug, um damit Steinchen zu schmeißen…“

Der Doktor hob den Kopf: „Trelawney, alter Freund. Vorsicht. Diese Worte sind schon früher gesprochen worden und haben sich als prophetisch erwiesen.“

„Hmm“, murmelte der Squire und nippte an seinem Portwein. „Was würdet Ihr zu einer weiteren Reise sagen, Jim, wenn ich das Geld zusammenkratzen kann? Blandly wird uns ein Schiff besorgen

„Mit Verlaub, Ihr vertraut diesem Schuft zu sehr“, unterbrach der Doktor, aber der Squire beachtete ihn nicht und fuhr fort: „Na kommt, Jim, was sagt Ihr? Eine Partnerschaft. Wir Vier in diesem Raum (ich verdrückte mich tiefer in den Schatten). Wir teilen durch vier, diesmal nichts von diesem Eigners-, Kapitäns-, Offiziers-, Mannschaftsanteil.“

Jim erhob sich vom Sofa, sein Gesicht war bleicher als zuvor. Ob ihm diese Rosinen schwer im Magen lagen, oder ob er sonstwie verstimmt war, war zuerst nicht klar. Seine Stimme war ruhig. „Nein, Sir. Ich kann dem nicht zustimmen“, sagte er.

Der Squire platzte los: „Ich weiß, was Ihr gesagt habt, verdammt, keine zehn Pferde würden Euch wieder hinbringen. Unfug, ein ruhmreiches Abenteuer war’s, und am Schluß siegte das Recht, wie es wieder siegen wird. Kommt, Jim.“

„Nein, Sir.“ Wie Master Jim der Blick entgehen konnte, den Lady Alice ihm über das Sofa hin zuwarf, kann ich mir nicht vorstellen. Sie war hin und her gerissen zwischen Stolz und etwas anderem — dem Wunsch, ihn anzuflehen. Schließlich gewann der Stolz. Sie schwieg.

„Dann Jim, würde ich Euch dankbar sein, wenn Ihr mich die Landkarte zurückhaben ließet. Ihr wißt, wir brauchen sie für die Peilungen, das Ausloten der Wassertiefe und all das. Ihr seid der einzige, der Längen- und Breitengrad kennt, zum Teufel.“

„Diese Karte, Mr. Trelawney, wurde mir zur sicheren Verwahrung gegeben, um andere daran zu hindern, zu dieser Insel zu segeln und jene traurige Geschichte zu wiederholen, nicht damit Ihr, in Euerm Alter, wieder anfangt. Ich muß Euch bitten, mich zu entschuldigen, Sir.“

Mit diesen Worten verbeugte er sich vor Lady Alice, nickte dem Doktor zu und schritt hinaus. Tom Carter war bereits entschlüpft. Hinter uns hörte ich ein Krachen, als der Squire sein Glas in den Kamin schleuderte.

Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
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