13.
Der Boxkampf
Bald nach zwölf an jenem Tag rollte die Kutsche des Squire, von Daniel gelenkt, mit Betsy und mir ihm zur Seite und dem Rest der Gruppe innen verstaut, durch das Lawford-Tor (jedenfalls stand das alte Tor dort mal) und nach Osten in Richtung Kingswood. Vor uns und hinter uns erstreckte sich eine Schlange von Kutschen, Kaleschen, Zweispännern, offenen und geschlossenen Fuhrwerken, Sänften mit schwitzenden Trägern, Damen und Herren zu Pferde — alle durch den Staub, den sie aufwirbelten, nur halb zu sehen.
Der Himmel war hier dunkler, obwohl die Sonne schien, denn über dem Staub hing eine schwere Wolke, die über einer Gruppe von spitzgiebligen Gebäuden hochstieg, wo, wie man mir sagte, das berühmte Bristol-Glas hergestellt wurde. Rund um die Glashütten stießen Eisengießereien, Werkstätten und Gerbereien Abgase und Ruß aus. Doch wir waren schon bald aus dem Dunst heraus und in offenem Gelände; und eine trostlose Gegend war’s, mit gähnenden Löchern in den Gruben und Rinnen, die südwärts, dem Fluß zu das Land durchschnitten. Hier und da standen große, motorengetriebene Pumpen mit Querbalken, deren Steigen und Fallen wie das Nicken riesiger Pferdeköpfe aussah. Wenn der Rauch mir den Magen umgedreht hatte, so füllte dies traurige Keuchen und Knarren mein Herz mit Schwermut. An den Abenden im „Admiral Benbow“ hatte ich den guten Wensleydale wieder und wieder von großen Kräften sprechen hören, die uns alle reich machen und ein Paradies für alle schaffen würden. Wenn das tatsächlich stimmte, dann mußte der Weg dahin durch die Hölle führen, dachte ich.
Jetzt ließen wir das alles hinter und und befanden uns in einem Streifen Heideland, wo die Kutschen und Pferde zur Seite abbogen und in den Hof eines Gasthauses einschwenkten, der so lang und hoch war, daß man den „Benbow“ darin hätte verstecken können. Auf der Vorderseite stand ein langer, ganz und gar weiß gedeckter Tisch, um den Diener schwärmten wie Bienen um einen Bienenkorb. Es müssen mindestens hundert Plätze gewesen sein, alle mit blitzendem Silber und weißem Porzellan gedeckt. Als wir einfuhren, füllte sich der Tisch, und am oberen Ende saß, natürlich, Mr. Argent. Sein Gesicht glühte vor guter Laune, er rief Befehle, winkte und nickte und dirigierte seine Gäste hierhin und dorthin. Doch die Sitze um ihn herum waren freigehalten. Kaum daß er uns gesehen hatte, stand er auf und humpelte zu unserer Kutsche herüber.
„Ah, meine Ehrengäste. Hier entlang, Mr. Trelawney, Sir, Madam“, er bot Lady Alice den Arm, „Dr. Livesey, Sir, und zum — , der Himmel sei mir gnädig, Jim, Junge, ach Verzeihung, Mr. Hawkins, stehe zu Diensten, Sir. Ach es ist, als wär’s gestern, läßt mich wieder jung sein, obwohl“, und er wandte sich um und grinste Lady Alice an, „ich werde nicht nochmal sechzig sein.“
Mir verschlug es die Sprache, und ich schätze, Master Jim ging es nicht anders, als ich sah, wie sie ihre kühle Miene fallenließ und sich wie ein Mädchen auf dem ersten Ball aufführte und zu dem Platz zu seiner Rechten führen ließ. Ich bemerkte noch etwas anderes. Ihr schwarzes Kleid war verschwunden, sie war in Hellblau und sehr hübsch dazu. Oho, dachte ich, weg mit der Trauer und auf in die Arena.
Argent ließ Master Jim mit gleichem Zeremoniell auf der anderen Seite von Lady Alice Platz nehmen, schnippte einen Diener mit den Fingern herbei und sagte: „Sorgt dafür, daß Mr. Hawkins Rosinen auf dem Glasteller hat und den besten Madeira.“ Master Jim schwieg, und ich konnte sehen, daß Mr. Argent eine harte Aufgabe vor sich hatte, wenn er ihn in gute Laune versetzen wollte. Aber war er beleidigt? Kein bißchen. Während er Mr. Trelawney und den Doktor zu ihren Plätzen führte, spaßte er mit ihm. „Ihr fragt Euch wohl, wie es Käptn Flint geht, he, Jim? Ich darf Euch doch noch Jim nennen? Ja, der alte Papagei lebt noch, glaubt’s oder nicht, dreihundert Jahre alt. Aber nicht mehr so lebhaft wie früher und geneigt, zu Hause zu bleiben. Ihr Herr jedoch kommt gern herum, o ja.“
Auf eine Art, die unschicklich, wenn nicht geradezu unverschämt war, wandte er sich zu Lady Alice und schob seinen weißen Strumpf herunter, um ihr sein künstliches Bein zu zeigen. „Es ist eine Nachbildung, seht die Gelenke und Schrauben, ist es nicht beachtlich? Aber das übrige ist so, wie Gott es gemacht hat“, kicherte er und stieß sie leicht mit dem Ellbogen an. Sie tat, als wäre sie verlegen, wurde rot und schlug ihm mit dem Taschentuch auf die Hand. Ich wußte nicht, wohin mit meinem Grinsen, aber nach einem Blick auf Master Jims bleiches Gesicht fand ich es nicht mehr so witzig.
Dann war ich gut beschäftigt, ich half Daniel, die Pferde zur Weide zu bringen und machte den Mundschenk.
Es ist kaum zu glauben, der Squire hatte ein Dutzend Flaschen von dem Rotwein mitgebracht, den ich ihm vom „Admiral Benbow“ raufgeschickt hatte. Mit einer sehr zuvorkommenden Geste bot er diese bei Tisch an, und Mr. Argent akzeptierte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Zehn Minuten später machten sie einander Komplimente und brachten Trinksprüche aus. Wenn ich nicht gesehen hätte, was sich an eben diesem Vormittag in der Halle der Kaufleute abgespielt hatte, hätte ich niemals gemerkt, daß sie Todfeinde waren. Aber, ich hab’s ja schon gesagt, Männer von Format machen ihre eigenen Gesetze. Oder heckte der Squire selbst etwas aus?
Noch etwas erregte meine Aufmerksamkeit. In der Mitte des Festes, als ich mit den Flaschen hierhin und dorthin eilte, kam ich am oberen Ende des Tisches vorbei und sah, daß Mr. Argent nicht an seinem Platz war. Daran ist nichts Ungewöhnliches, ein Mann muß seinen Geschäften nachgehen, wenn er Gäste bewirtet. Aber als ich zur Kutsche ging, um Nachschub an Wein zu holen, sah ich aus den Augenwinkeln etwas Weißes vorüberhuschen. Dort drüben stand Betsy halb verdeckt an der Ecke der Gasthausveranda. Sie redete mit jemandem — ernsthaft, sie scherzte nicht mit einem anderen Diener. Sie trat dann zur Seite, und hinter ihr sah ich niemand anderen als Mr. Argent stehen. Nun, das war komisch. Nein, im Grunde gar nicht komisch. Alles war klar. Betsys Herumspionieren und Fragen, und wie Mr. Argent alles zu wissen schien, was im Gange war. Er beobachtete uns alle durch sie, schon seit Monaten. Wer weiß, vielleicht hatte er sie in den Dienst des Squire geschleust. Aber bedeutete das, daß Blandly mit ihm unter einer Decke steckte? Ein aalglatter Bursche war das. Es gab mehr herauszufinden, wenn ich die Augen offenhielt. Es war Zeit, meinen monatlichen Shilling zu verdienen, wer auch immer ihn bezahlte.
Inzwischen klirrten hundert Bestecke in der Sommerluft unter den Bäumen beim Gasthaus. Außer dem Lärm der Gäste bei Tisch konnte ich ein anderes Geräusch hören, stärker und tiefer, wie die Brandung auf den Felsen der Schwarzberg-Bucht. Ich sah hinter die abschirmenden Büsche rund um den Gasthausgarten und war aufs höchste erstaunt.
Etwa achtzig Yards entfernt war eine Bodensenke, die aussah wie ein kleines enges Tal oder wie eine flache Schüssel. In der Mitte grenzten Seile ein Stück Rasen ab. Darum herum war das Tal voller Menschen, die wie Gänseblümchen aus der Erde sprießten. Doch es waren keine Gänseblümchen, sondern ein ungebildeter Haufen Leute, Männer in Jacken mit Messingknöpfen und engen Hosen, Frauen in geschmacklosen, glitzernden Kleidern und Häubchen voller Flitterkram und Bänder. Als ich sie beobachtete, verließ eine kleine Gruppe Männer die Menge, stieg den Hang hinauf und kam auf mich zu, der ich mit einer Schürze vor dem Bauch und einem Handtuch über dem Arm dastand. Der Anführer war der größte Mann, den ich je gesehen hatte, gut sechs Fuß sechs groß, schlank wie ein Windhund und mit einem Gesicht, das zur selben Zeit traurig und lustig wirkte. Er sprach mich an, als sie heraufkamen:
„Sag mal, Junge, kennst du Mr. Argent?“
Ich nickte.
„Dann tu uns den Gefallen, ja, und sag ihm, daß Ned Barker und eine Delegation der Kingswood-Bergleute vor dem Wettkampf mit ihm reden möchten.“
Ich ging zurück und fand die Gesellschaft rauchend an den Tischen. Mr. Argent hatte einen langen Stumpen zwischen den Lippen. Er blickte scharf auf, als ich ihm meine Nachricht ins Ohr flüsterte und starrte die Gruppe an, die, die Mützen an die Brust gedrückt, ein paar Yards entfernt Halt machte.
„Kommt an Bord, Mr. Barker“, sagte er.
„Wir sind so frei, Mr. Argent, zu Euch als Hauptteilhaber zu sprechen, da Euer Agent uns nicht zufriedenstellen konnte.“
„Worum geht es?“ Argent war freimütig, aber jetzt nicht so freundlich.
„Mr. Argent. Ihr seid entschlossen, die Maschine in weiteren Gruben einzusetzen?“
„Ja. Die Maschine pumpt das Wasser heraus, Ihr Herren geht tiefer hinab, mehr Kohle kommt heraus, und mehr Geld gelangt in meine Taschen und Eure.“ Er wandte sich zum Squire, wie um dessen Zustimmung zu bekommen. Mr. Trelawney nickte ernsthaft. Der Doktor zog ein wenig die Augenbrauen hoch.
Da sagte Ned Barker: „Einen Punkt habt Ihr übersehen, Mr. Ar-gent.“
„Und zwar?“
„Menschenleben, Mr. Argent. Je tiefer wir hineingehen, um so mehr Männer sind in Gefahr. Wenn Eure Maschinen versagen, und sie werden versagen, verlieren Männer ihr Leben. Man kann zweihundert Fuß unter Tage nicht um sein Leben rennen wie im Geschiebe.“
„Barker“, antwortete Mr. Argent, sah ihm in die Augen und blies kleine Rauchwolken, „ich habe niemals einen Seemann sagen hören: ,Ich will nicht zur See gehen, ich könnte ertrinken.’“
Die Gesellschaft in Hörweite lachte in sich hinein, und auch Ned Barker verzog den Mund ein wenig.
„Gewiß. Aber es wäre richtig, wenn die Mannschaft sich weigerte, in einem lecken Schiff zu segeln.“
„Was soll ich darunter verstehen?“
„Nun dies, Mr. Argent. Wir werden arbeiten, wo die Maschine eingesetzt wird, wenn der Preis stimmt. Stimmt er nicht, dann kann Eure Maschine pumpen, bis sie platzt, sie kann ohne uns Kohle herauf pumpen.“
„Ist das eine Drohung, Mr. Barker?“
„Eine Versprechung, Mr. Argent.“
„Dann könnt Ihr mit Eurem Versprechen zum Teufel gehen.“
„Hört, hört“, sagte der Squire. Jim Hawkins zog die Stirn ein wenig in Falten. Barker antwortete mit einem leichten Hochziehen der Augenbrauen.
„Ich habe Euch gewarnt, Mr. Argent, und das ist nur fair. Euer Schiff steuert auf die Felsen zu. Paßt auf die Böen auf.“
Damit drehten die Bergleute sich um und gingen wieder zu den anderen. Mr. Argent und der Squire blickten zurück und schauten einander an.
Gerade da erhob sich ein großes Geschrei:
„Wer ist unser Mann? Jem Morris! Jem Morris!“
Der Boxkampf konnte beginnen. Mr. Argent sagte: „Was wollen wir wetten, Mr. Trelawney, hundert Guineen auf Jem?“
Der Squire grinste. „Wartet’s ab“, sagte er.