25.

Das geheimnisvolle Wrack

 

 

Die Tonne war — wie ich bald durch Erfahrung lernte — ein völlig sicheres Fahrzeug für eine Person meiner Größe und Schwere, schwimmsicher und seetüchtig, jedoch ein Floß von einer derartigen Widerspenstigkeit und Schlagseite, daß sie fast nicht zu steuern war. Ich konnte tun, was ich wollte, sie trieb ständig ab und war ganz groß darin, sich pausenlos um sich selbst zu drehen. Schließlich mußte ich meinem Floß seinen Willen lassen. Über mir war dunkle Nacht, unter mir die gewaltige See, doch das Land konnte eigentlich nicht so weit entfernt sein. Ich konnte wenig sehen und nichts tun. So rollte ich mich zusammen, so gut es ging und versuchte zu schlafen.

Bevor ich einnickte, gingen mir die Ereignisse der vergangenen Wochen wie eine Kaspervorstellung durch den Kopf. Leute tauchten auf und verschwanden wie Puppen, schoben sich nach vorn und wurden wiederum zurückgeschoben. Was würden Tre-lawney und Argent jetzt tun, da sie gemeinsame Sache machten? Was mochte aus meinen anderen Freunden werden? Warum hatte Mr. Argent Angst, in Kingston zu landen? Angst zu haben war nicht seine Sache, doch zweifellos gab es etwas oder jemanden in diesem Hafen, der ihm Angst einjagte. Das mußte jemand ganz Besonderes sein. Was würde Squire mit seinem Anteil an dem Silber machen? Lady Alice mit einem weiteren nutzlosen Ehemann versehen? Oder sich selbst in uraltem Portwein ersäufen? Würde Master Jim nie von seinen beiden Leiden kuriert werden, dem Schreiben und der Liebe zu Lady Alice? Und Betsy, die herrlich braune, streitsüchtige Betsy, die allen nachspionierte, wer war sie? Was heckte sie aus? Wie mochte all dies Intrigieren und Verschwören enden? Eines war sicher, diesen Kuß würde ich nie bekommen, nicht einmal, wenn ich zwei von drei Würfen gewänne.

Schließlich schlief ich ein und träumte vom alten Oakleigh, dem Leichenbestatter, dem einen festen Punkt in meinem ganzen wechselvollen, turbulenten Leben. Ich hatte seine Lektion gut gelernt. Das Leben war ein Spiel mit guten oder schlechten Karten. War das Ende des Spieles nahe für mich? Ein Seemannsbegräbnis war ehrenhaft, dachte ich im Traum. Mein Sarg war fertig, wenn auch ohne Deckel. Doch kein Abschiedskuß.

Ich wachte auf, blauer Himmel über mir, hohe, aber gleichmäßige Wellen unter mir.

Durch das Astloch, das dicht neben meinem Kopf war, entdeckte ich in geringer Entfernung zwei niedrige Hügel am Horizont, etwa eine halbe Meile voneinander entfernt und südwestlich von ihnen einen dritten, höheren Hügel.

Er war die Schatzinsel.

Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich meine düstere Stimmung in Aufregung. Als ich achtlos aufsprang, kenterte mein Fahrzeug, und ich fand mich im Wasser wieder. Ich kämpfte mich nach oben. All diese Gedanken, daß das Spiel des Lebens zu Ende wäre und die Karten vom Tisch gefegt würden, waren vergessen. Laut und deutlich verlangte ich neue Karten. Und mit einer Art taumelndem, packendem Sprung gelangte ich rittlings auf die Tonne und ritt darauf wie auf einem fetten Holzpferd. Vor mir öffnete sich die niedrige Küstenlinie zwischen den beiden Hügeln und gab eine enge Bucht mit Bäumen am Ufer oder auch eine Flußmündung frei.

Sich selbst überlassen schien die Tonne südwärts über die Mündung der Bucht und auf eine Stelle zutreiben zu wollen, wo ich gewaltige Wellen an den Felsen brechen sah. Ich hatte genügend größere Schiffe als meines an den Klippen der Schwarzberg-Bucht zerschellen sehen, als daß ich diese Richtung nehmen wollte. Ich gebrauchte die Hacken, als wäre die Tonne ein Pferd, und zwang sie so, sich in der Richtung fortzubewegen, die ich einschlagen wollte.

Eine ganze Weile ging es hin und her, wer das Sagen hatte. Doch nachdem wir eine Stunde gepaddelt waren, kam sie aus dem Gegenstrom heraus, und ich fing an, sie auf die niedrige Küste südlich der Bucht hinzubugsieren. Die Bucht zwischen den Landzungen war lang und eng, und der Strand war auf beiden Seiten von Bäumen umsäumt. Direkt vor mir, tief in der Bucht, sah ich ein Schiffswrack. Es war ein großer Dreimaster gewesen, hatte aber so lange dem Wetter ausgesetzt dagelegen, daß es rundum mit einem Netz von Seetang behängt war. Büsche von der Küste hatten an Deck Wurzeln geschlagen und standen jetzt in voller Blüte. Das Schiff bot einen traurigen Anblick, zeigte mir aber, daß der Ankerplatz sicher war.

Nach einer weiteren halben Stunde hatte ich mich zur Küste vorgekämpft, sprang ins seichte Wasser und sagte meinem Tonnenschiff Lebewohl. Mehr von Neugier als irgend etwas anderem getrieben lief ich an der sandigen Küste entlang. Das Schilfrohr war allmählich den Strand hinab und auf das Wrack zu gewachsen, das mit einer seltsamen Girlande von Büschen und Blumen geschmückt war.

Doch es gab noch Merkwürdigeres zu sehen. Als ich näher an das Wrack herankam — und es saß hoffnungslos auf einer Sandbank fest — sah ich, daß die Blätter und Zweige an Bord mir bekannt vorkamen. Nicht, daß ich wußte, was für eine Art Busch es war, doch sie hatten alle eine regelmäßige Größe und Form, als ob jemand sie wie eine Hecke geschnitten hätte. Das Deckhaus unter einem Baldachin von Moos sah ganz wie die Hütte eines Siedlers aus, die von einem Garten umgeben ist.

Noch merkwürdiger. Eine doppelte Laufplanke mit einem groben Geländer, an dem man sich festhalten konnte, reichte vom Strand zum Schiff. Im Nu war ich darauf und stieg zum Deckgarten hoch, der wirklich einer war. Einmal an Deck, sah ich rund um mich kleine Wiesenstücke und Blumenbeete, die durch säuberliche Pfade getrennt waren. Sie ließen die Dielen des Schiffes, die hier und da grob geflickt waren, hindurchscheinen.

Auf einem Wiesenstück graste ein angepflocktes Tier, eine Ziege mit strotzendem Euter. Milch, dachte ich. Ich sah mich um und siehe da, an einem Zapfen neben der Tür des Deckhauses hing ein Eimer, und darunter stand ein unförmiger, dreibeiniger Schemel. Doch als ich mich der Ziege näherte, um meinem Fasten ein Ende zu machen, war sie plötzlich auf der Hut und fing an, aufgeregt zu meckern, fast als hätte sie ihre wahre Natur vergessen und hielte sich für einen Wachhund. Ich stutzte und wandte mich zur Tür des Deckhauses. Sie stand offen: „Hallo, jemand zu Hause?“ rief ich. Von den Bäumen an der Küste antwortete ein Chor von Vogelstimmen. Doch ich bekam keine Antwort als das Meckern der Ziege.

Ich wünschte, daß ich einen Hut zum Abnehmen gehabt hätte und drängte mich durch den niedrigen Eingang. Drinnen war es düster, doch hell genug, um die getäfelten Wände eines Prunkraums mit einem Tisch und vier Stühlen in der Mitte zu erkennen. Alles war ordentlich und sauber, und es war für drei gedeckt. Doch es gab noch mehr und noch Merkwürdigeres. Denn wenn meine Augen mich nicht täuschten, war das Tafelsilber aufgelegt, das ich in den besten Häusern in Bristol oder im Trelawney-Herrenhaus gesehen hatte.

Ich stand stockstill. Dort saßen zwei Gestalten so tief in die Stühle gesunken, daß ich sie nicht bemerkt hatte.

Ich nahm an, daß sie fest schliefen, da ihre Hüte tief über die Augen gezogen waren. Ich trat näher, aber leise, denn Leute, die zu plötzlich geweckt werden, können unfreundlich sein. Auf den beiden Stuhllehnen war etwas eingeschnitzt. Das eine hieß: „Tom Morgans Platz“, das andere: „Ben Creechs Platz“. Noch leiser ging ich langsam weiter und bückte mich, um die Stühle auf der anderen Seite anzuschauen. Auf einem war „Dick Johnsons Platz“ eingekerbt, auf dem andern stand kein Name.

Ich stützte mich auf die Lehne des vierten Stuhles und blickte auf, um die Herren Morgan und Creech mit sanfter Stimme anzusprechen, um sie nicht zu plötzlich zu wecken.

Es hatte keinen Sinn. Sie würden weder für mich noch für irgend jemanden sonst aufwachen. Ihre Augen waren blicklose Löcher, ihre Gesichter grinsende Schädel und ihre Hände, die aus den geflickten Ärmeln ihrer Mäntel herausschauten, nackte Knochen.

Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
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