14.
Der Sturz des Champions
Die vornehme Gesellschaft — bis auf den letzten Herren und die letzte Dame - verließ die Tische und eilte zum Wettkampf. Man hatte Platz für sie frei gemacht, und die Menge ließ sie gutwillig durch, wenn auch nicht ohne ein paar Bemerkungen über Kleidung und Aussehen. Doch die hörten auf, als ein Mann in leuchtend grünem Jackett durch die Seile in der Mitte kletterte und die Arme hob.
„Meine Lords, verehrte Damen und Herren. Der Meisterboxer der Bergleute fordert alle Anwesenden in zehn Runden heraus, nur zehn Runden, meine Herren, denn er nimmt nicht an, daß irgendjemand länger durchhalten wird. Meine Lords, verehrte Damen und Herren: Jem Morris!“
Ein Beifallsruf folgte dem andern, als Jem Morris in den Ring schlüpfte. Was war das für ein Boxer! Ich hatte nie seinesgleichen gesehen, wie ein Bulle gebaut, graugeschorener Kopf, den massiven Rücken voller Narben, als wäre er mit Eisenketten geschlagen worden. Er stand einen Augenblick in der Mitte und bewegte sich dann langsam und mit schweren Schritten von einer Ecke zur andern und erwiderte die Beifallsrufe seiner Anhänger mit einem königlichen Winken. Alles Anhänger, dachte ich, als ich durch die Menschenmenge schlüpfte, um so nahe wie möglich an die Schlächterei heranzukommen. Gab es hier jemanden, der es wagte, gegen ihn anzutreten?
Ich sprach wahrer, als ich wußte. Das Stimmengewirr aus Schwatzen und Rufen dieser großen schwitzenden Menschenmenge unter der heißen Sonne bekam plötzlich einen anderen Ton, wie bei einem Orchester, wenn der Dirigent seinen Taktstock schwingt. Die Mischung von Beleidigungen, Wutschreien, Buhrufen und Pfiffen ließ mir das Blut gerinnen.
Im Ring sagte der Grünbejackte, daß der Herausforderer, der von Gloucester heraufgekommen war, um gegen Jem zu kämpfen, im letzten Augenblick zurückgezogen hatte.
„Er ist sogar schon auf dem Weg nach Bristol“, fügte der Grünbejackte noch hinzu, „von wo er plant, sich heute nacht nach Virginia einzuschiffen.“
Er erntete Gelächter für diese Bemerkung, aber die Menge war unwillig, die Pfiffe und Hohnrufe dauerten an, und als ich mich zur Mitte durchkämpfte, konnte ich sehen, daß der Grünbejackte aussah, als wäre ihm übel.
Im Augenblick verhöhnten sie noch den Herausforderer, der die Nerven verloren und die Hosen voll hatte. Wer konnte ihm das verübeln? Jem mit seinem häßlichen, verunstalteten Gesicht und diesem Brustkorb wie ein graubemooster Befestigungswall war genug, um jedem Herausforderer das Herz sinken zu lassen. Was würde geschehen, wenn sich niemand anderes fand?
„Alle Anwesenden“, rief der Grünbejackte heiser und etwas schrill, „Jem sagt mir im Vertrauen, daß er gegen zwei Männer zusammen fünf Runden kämpfen wird oder gegen einen Mann zehn Runden mit einer Hand auf dem Rücken. Er wird gegen...“
Ein Erdklumpen kam aus der Menge geflogen und traf ihn mitten im Satz. Ein weiteres Dutzend folgte. Einige der Geschosse flogen über seinen Kopf und regneten auf die vornehmen Leute auf der anderen Seite. Sie landeten da, wo Mr. Argent und seine Gruppe in ihrer ganzen Herrlichkeit saßen. Sollte das Zufall sein? Ich begann mir einen Weg um den inneren Ring der Menge zu bahnen, um näher zu meinen Freunden zu kommen. Ich wollte nicht allein sein, wenn die Menge anfing, Sündenböcke zu suchen. Ich war halb herumgekommen, als mitten in dem Hagel der Erdklumpen etwas Schwarzes und Dreieckiges hoch über die Seile flog, wie eine Krähe niederfiel und zu Füßen des Grünbejackten landete. Er hielt den Hut hoch, so daß alle ihn sehen konnten, und wie durch Zauberkraft hörten die Klumpen auf zu fallen.
„Ein Herausforderer“, kündigte er laut an. „Wer ist der Kühne? Woher kommt er? Welches Irrenhaus hat ihm für den Tag freigegeben?“
Aus einer Ecke des Ringes kam eine Figur über die Seile gesprungen und ragte hoch über dem Grünbejackten auf. Groß und breit, mit spielenden schwarzen Muskeln über seinen blauen Kutscherhosen — es war Daniel.
„Wer seid Ihr, Sir?“ fragte der Grünbejackte. Er schüttelte den Kopf über die Antwort.
„Unser Herausforderer spricht kein Englisch.“
Auf der Seite der Vornehmen rief jemand: „Es ist Daniel. Squire Trelawneys Mann.“
Aus der Menge: „Er ist ein Sklave. Jem kämpft nicht gegen Sklaven. Das schickt sich nicht!“ Bravorufe und Buhrufe ertönten. Jem regelte die Angelegenheit, indem er die Faust hob. „Ich werde gegen ihn kämpfen, wer immer er ist. Und wegen dem Englisch, wir sind nicht hier, um zu quasseln, oder, Kumpel?“ Und damit streckte er seine große Pranke aus und schlug Daniel auf die Knöchel.
Fast bevor der Grünbejackte Zeit hatte, sich aus dem Ring zu verdrücken und die Sekundanten ihre Würfel und Karten hinlegen und in die Ecken kommen konnten, waren die beiden schon in Kampfstellung und hieben aufeinander ein wie Hirsche, deren Geweihe sich in den Brunftkämpfen verfangen.
Jem landete den ersten Schlag auf Daniels Arm. Der schüttelte ihn ab und versetzte Jem einen saftigen Hieb auf die Schultern. Jetzt waren sie Brust an Brust, jetzt sprangen sie voneinander fort, der Atem pfiff ihnen aus dem Mund. Jetzt näherten sie sich wieder, hämmerten aufeinander ein; jetzt umkreisten sie einander und suchten nach einem Weg, die lebenswichtigen Organe des Gegners zu treffen. Als die erste Runde zu Ende war, schwieg die Menge. Sie wußte, daß sie einen wirklichen Kampf vor sich hatte. Als die beiden wieder anfingen, nahm ich die Chance wahr, weiter um den Ring herumzukommen und zurück zu meinen Freunden zu gelangen. Rundherum wurden Wetten abgeschlossen.
All die Rivalitäten vom Morgen in der Halle der Kaufleute waren wieder lebendig geworden. Wer für den Squire war, setzte sein Geld auf Daniel, wer für Argent war, setzte seine Guineen auf Jem. Ich begann zu verstehen, warum Squire so liebenswürdig zu Argent gewesen war. Er gedachte, seinen Einsatz zurückzubekommen. Alles gut und schön, dachte ich, wenn Daniel die Strapaze aushalten kann.
Ein Brüllen antwortete, als Jem Daniel mit einem rechten Kinnhaken ins Wanken brachte, aber als er den nächsten Schlag zu schnell folgen ließ, bekam er Knöchelsalat zu schmecken und spuckte Blut. Das rief ein Gellen der Wut von seinen Anhängern hervor, doch die Bravorufe für beide Männer waren lauter. Drei Runden vergingen, vier, fünf, und in der Halbzeit kämpften sie weiter. Das Gras war zertrampelt und glitschig, und sie rutschten wie auf Eis. Beiden standen Schweiß und Blut auf den Schultern. In jedem stillen Augenblick hörte man ihren harten, schnellen Atem.
Runde zehn kam und verging mit dem Ruf „Kämpft weiter!“ Sie kämpften weiter, obwohl ich nicht glaube, daß sie es hörten oder sich darum kümmerten.
Inzwischen schlugen sie einander fast bewußtlos. Aber sie droschen dennoch weiter, Fuß an Fuß gepreßt umschlangen sie einander wie ein Liebespaar, das Kinn auf der Schulter des Partners, den Mund mit Speichel und Blut verschmiert.
Es muß in der einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Runde gewesen sein, daß die beiden zur Wut und Überraschung der Menge voneinander wegtraten und drei Schritte voneinander entfernt standen, beim Atmen ächzten, hin und her schaukelten und auf den Füßen schwankten. Hätte ein Kind sie angestoßen, wären sie wie Säcke umgefallen. Ein Unentschieden in wortlosem Einverständnis. Ich dachte, sie würden beide Beifall ernten. Sie hatten heldenhaft gekämpft, kein Augenausdrücken, kein Treten, keine Nierenschläge. Aber nein, jemand in der Menge warf einen Erdklumpen, und die Buhrufe begannen wieder.
Mit mehr Mut, als ich ihm zugetraut hätte, sprang der Grünbejackte auf und rief: „Ein Unentschieden, ein guter Kampf. Zwei große Boxer, die einander ebenbürtig sind.“
Dafür gab es Bravorufe, aber auch Stimmen „Nein, Jem ist besser!“
Doch Jem und Daniel hörten das nicht. Aneinander gelehnt wankten sie auf die Seile zu und kletterten hinaus, während ein Schauer von Erdklumpen und jetzt auch einige Steine innerhalb der Seile niedergingen. Die Menge begann, wie Meereswellen hin und her zu wogen und den Hügel hinabzuströmen. Ich hörte Mr. Argent dem Grünbejackten etwas zurufen, und dieser Herr, der zweifellos innerlich zitterte, kletterte noch einmal durch die Seile. Neben ihm war diesmal eine Frau, lang und dünn, nur mit einem langen Unterrock bekleidet, den sie in der Taille wie ein Mann zusammengebunden hatte.
„Molly Brindle, Molly Brindle!“ wurde gebrüllt.
„Molly Brindle!“ gellte der Grünbejackte mit gebrochener Stimme.
„Molly Brindle fordert jeden heraus, der mitmachen will.“
Jetzt marschierte Molly Brindle mit erhobenen Armen um den Ring, unter den frechen Bemerkungen derer, die am nächsten standen, worauf sie mit passenden Gesten antwortete. Sie hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief: „Wer wagt es, Mann, Frau oder Weder-Noch? Der arme alte Jem ist fertig. Aber so leicht schlagt ihr Molly nicht!“
Das Abschließen der Wetten, das nachgelassen hatte, als Jem und Daniel sich zurückzogen, setzte jetzt wieder ein, aber hitziger und mit höheren Summen. Aber wo war ein Herausforderer?
Die hagere Molly ging noch einmal langsam um den Ring und gestikulierte wilder, als hoffte sie, jemanden in der Menge so in Harnisch zu bringen, daß er heraufkäme und kämpfte.
„Nein!“
Dieser Schrei kam, ohne daß ich es wußte, von mir. Ich sah das Häubchen durch die Luft segeln und Molly mitten im Fluchen treffen. Und ich wußte, was wenige um mich herum wußten, wem es gehörte.
„Nein — tu’s nicht!“
Doch im nächsten Augenblick hatte Betsy sich bis auf ihr langes rotes Unterkleid ausgezogen, durch die Seile gezwängt und stand mit den Händen auf den Hüften vor Molly.
„Wer bist du?“ fragte der Grünbejackte.
„Ich heiße Betsy!“
„Wem gehörst du?“
„Mir selbst.“
„Oho, dir selbst?“
Molly spuckte aus. „Geh nach Hause, Mädchen, deine Mutter braucht dich.“
Betsy spuckte zurück. „Altes Weib, geh wieder an dein Spinnrad.“
Hin und her flogen die Beleidigungen, und bevor die Menge es begriff, hatten die beiden ihre Unterkleider hochgeschlagen und unter den Gürtel gestopft und legten los. Jetzt wurden die Wetten rasch und hitzig abgeschlossen. Ich hörte Squire ausrufen: „Nun, Silver, meine hundert Guineen für Betsy. Wollt Ihr Eure auf die alte Dime setzen?“
„Abgemacht“, gab Mr. Argent zurück.
Der erste Kampf war bedächtig und kraftvoll gewesen, der zweite war rasch und quicklebendig, und Betsy und Molly tauschten Beleidigungen zwischen jedem Schlag aus. Ich wimmerte, wenn die Schläge trafen und wandte den Kopf ab. Der Gedanke, daß Mol-lys brutale Fäuste Betsys wunderbaren Körper verunstalten könnten, war nicht zu ertragen. Aber ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Betsy war nicht gekommen, um zu leiden.
Sie tänzelte und entschlüpfte, wich aus und duckte sich so behende, daß Molly im Nachteil war. Einmal holte die ältere Frau zu einem so gewaltigen Hieb gegen die jüngere aus, daß er Betsy den Kopf von den Schultern gerissen hätte, wenn er sie getroffen hätte. Aber der Schlag ging daneben, und sein Schwung riß Molly so heftig mit, daß er sie ins Gras streckte, während Betsy um sie herumtanzte. „Altes Weib, du bist müde. Geh schlafen.“
Die Menge murrte. Dies war nicht nach ihrem Geschmack. Können und Behendigkeit waren gut und schön, aber wo blieben Blut und das dumpfe Aufeinanderschlagen von Knochen und Fleisch? Als drei weitere Runden so vergingen, und Molly nur langsamer wurde und schwerer atmete, während sie Betsy an den Seilen entlangjagte, fingen die Pfiffe und Buhrufe wieder an.
„Bleib stehn und kämpf“, kreischte eine alte Jungfer. „Bleib stehn und kämpf!“
Der Schrei pflanzte sich fort, und das Stoßen und Schaukeln fingen wieder an. Die Zuschauer drängten so dicht heran, daß diejenigen, die dem Kampf am nächsten standen, gewaltsam gegen die Seile gedrückt wurden und ihren Kameraden zuriefen, zurückzutreten und ihnen genug Platz zu lassen.
Ich hörte einen Herrn dicht neben mir leise zu seinem Freund sagen: „Wenn das alte Weibsbild nicht bald einen Schlag landet, werden sie Krawall machen.“
Er hatte gleichzeitig recht und unrecht. Betsy führte Molly in einem engen Kreis auf dem flachgetretenen glitschigen Rasen herum. Plötzlich ließ sie die Fäuste sinken. Molly winkelte den Arm an und ging weiter wie ein Sturmbock. Doch Betsy war nicht mehr dort, sondern einen halben Meter weiter rechts. Als Molly vorbeizischte, hob sie die Hand wie eine Rammaschine und verpaßte der älteren Frau einen kolossalen Hieb unters Ohr.
In Totenstille fiel Molly wie ein abgestochener Ochse und lag bewegungslos da, während Betsy über ihr stand.
Die Leute, die nur ein paar Schritte entfernt gegen die Seile gedrückt standen, schrien entsetzt: „Sie hat Molly Brindle umgebracht!“