3.
Der schwarze Kutscher
Ich rannte darum — aus der Werkstatt hinaus, das Gäßchen auf der Rückseite der Häuser hinunter und ins Land hinaus. Als ich loslief, warf der alte John eine Segeltuchjacke über meine Schultern, eine Jacke, wie die Seeleute sie tragen. Sie hing mir bis in die Kniekehlen und verbarg den zerfetzten Begräbnisstaat und die immer noch blutenden Striemen auf meinem Rücken. Meine eleganten Schuhe mit den Silberschnallen schleuderte ich im Rennen fort. Sie sahen gut aus, aber sie zwickten mich an den Zehen. Ich war nicht auf dem Weg zu einem Begräbnis, auch nicht zu meinem eigenen, wenigstens nicht, solange ich es verhindern konnte. In meinem kurzen Leben wäre ich einmal fast beerdigt worden, und ich hatte kein Verlangen, es noch einmal zu versuchen.
Bevor ich merkte, wohin ich lief, war ich zwei Meilen von Oakleighs Haus entfernt und hatte den halben Weg auf der Straße nach Bridgewater zurückgelegt. Es war jetzt dunkel, und die Lichter der kleinen Laternen in den Bauernhäusern, an denen ich vorüberkam, leuchteten wie Sterne in der Schwärze zwischen Himmel und Erde. Die Straße war staubig und trocken, aber zerfurcht vom Rollen vieler Wagenräder. Ich stolperte und strauchelte vor Müdigkeit und verlangsamte das Rennen bald zum Gehen. Dann hielt ich an und horchte. Die Stille war so tief wie die Dunkelheit. Wenn sie mich verfolgten, dann waren sie weit zurück.
Ich verließ die Straße, schleppte mich mühsam über eine Wiese und fand einen Platz zum Ausruhen am Fuß eines Heuschobers. Die Verurteilten schlafen tief, und ich schlief wie ein Mann, der gehängt werden sollte, was mir ja zweifellos bevorstehen würde. Aber ich hoffte immer noch, diese Angelegenheit eine Weile hinauszuschieben. Das Spiel stand schlecht, aber ich hatte keine Eile, die Karten ganz vom Tisch zu fegen.
Ich wachte auf, als es weiß über den Wäldern dämmerte. Mein Rücken brannte wie Feuer, und der Magen drehte sich mir um. Doch ich gelangte auf die Straße und ging so schnell ich konnte. Bridgewater liegt an der Postkutschenstrecke von Exeter nach Bristol, deren Häfen vollgestopft mit Schiffen waren, die in alle Richtungen des Kompasses strebten. Wenn sie mich nicht henkten, dann würden sie mich deportieren. Doch ich gedachte ihnen zuvorzukommen und Abschied vom guten alten England zu nehmen, sobald ich konnte. Wohin ich auch segelte, dachte ich, dort starben Leute und brauchten Särge. Nicht daß ich ein vollausgebildeter Sargtischler war, beileibe nicht. Aber ich war geschickt mit dem Besen und Bierkrug. Ich konnte in schwarzem Samt ernsthaft dreinschauen oder süß bei einer Feier singen. Ich legte einen Schritt zu und kam auf dem Marktplatz in Bridgewater an, als die Postkutsche eintraf. Ohne Zeit zu verlieren, sprang ich neben dem Kutscher auf, als er anhielt. Er warf einen Blick auf mein schmutziges, tränenverschmiertes Gesicht, die Segeltuchjacke und zerfetzten Strümpfe und langte aus, um mich auf die Straße zurückzustoßen. Doch ich schob ihm blitzschnell mein wertvolles Half-Guinea-Stück hin. Er nahm es, ohne mit der Wimper zu zucken und sagte, daß ich in einer Stunde wiederkommen sollte, und er mich nach Bristol mitnehmen werde. Ich setzte an, ihn zu fragen, was ich von einer Half-Guinea rausbekäme, doch er schnauzte mich derartig an, daß ich plötzlich an den jungen Oakleigh denken mußte und rückwärts von der Kutsche hinunterfiel. Ich konnte von Glück sagen, daß ich auf beiden Füßen landete.
Ich ging durch die Stadt, damit die Zeit verstriche, was nicht klug war. Ich wußte bald, daß ich beobachtet wurde, und wahrhaftig, als ich über die Schulter zurückschielte, erhaschte ich einen Blick von zwei Männern, die hinter mir herschlenderten. Einer zeigte auf mich. Ich wandte mich nach links, ging ein Gäßchen hinunter und versteckte mich in einem Hauseingang. Sie kamen durch denselben Torbogen. Es stimmte zu genau, um Zufall zu sein. Da sie mich zuerst nicht sahen, beschleunigten sie ihre Schritte und eilten an meinem Versteck vorbei. Ich gönnte ihnen meinen Anblick nicht zum zweitenmal, sondern flitzte wieder zur Straße und lief zum Gasthaus am Marktplatz zurück. Die Kutsche war keineswegs abfahrbereit, so daß jede Hoffnung vergebens war, mich zwischen dem Gepäck zu verstecken, das auf dem Dach aufgetürmt wurde. Ich duckte mich und wartete hinter einer Ecke. Meine Verfolger kamen in flottem Trab zurück, standen da und blickten um sich. Ich kauerte mich in den Schatten. Einer steckte den Kopf in die Gasthaustür und rief nach Bier. Als der junge Kellner es brachte, hörte ich den einen sagen:
„Hast du hier irgendwo ‘nen Jungen gesehen — sieht aus wie ‘ne Vogelscheuche, alte Jacke, schwarze Strümpfe?“
„So einer hing hier grad eben um die Kutsche rum und wartete darauf, nach Bristol zu fahren. Wer sucht ihn denn?“
„Die Rechtsprechung, Mann. Er hat seinen Meister halb umgebracht und ist dann weggelaufen. Er wird am Seil des Henkers baumeln, oder wenn er Glück hat, nach Virginia verfrachtet.“
„Eure Rechtsprechung kann mir den Buckel runterrutschen“, spottete der Kellner. „Ihr wollt nur eine Belohnung ergattern, wenn Ihr ihn einfangt. Prämienjäger seid Ihr. Der Teufel soll mich holen, wenn ich einen Jungen an den Galgen verkaufe.“ Einer der Männer schob dem Kellner etwas in die Hand. Dessen Benehmen änderte sich.
„Vielen Dank, Sir. Ja, ich erinnere mich, ich sah ihn zum Fluß gehen, dort lang.“
Als die beiden sich davon machten, sagte der Kellner über die Schulter: „He, du da, hinter der Ecke. Verdrück dich. Ich weiß, daß du dort bist.“
„Ich hab für die Kutsche nach Bristol bezahlt“, flüsterte ich.
„Dann bedeutet es Bristol Newgate für dich, Freund, wenn du den Fuß in diese Kutsche setzt. Geh erst durch die kleinen Seitenstraßen und halte dich dann nach Westen. Sie werden nie darauf kommen, dir dorthin zu folgen. Wart ein wenig.“
Er lief in die Wirtschaft zurück und kam mit einem halben Brot wieder und gab es mir.
„Viel Glück!“
„Warum hilfst du mir?“
„Nun, die Welt war’ halt besser, wenn alle Meister einen auf den Schädel kriegten. Lauf jetzt!“
Und das tat ich. Eine Stunde später versteckte ich mich unter einer Hecke westlich von der Stadt und schlug mir den Bauch mit dem frischen Brot voll. Ich war so hungrig, daß ich alles mit einem Dutzend Bissen aufaß. Ich Dummkopf! Es war die letzte gute Mahlzeit für fast eine Woche. An jenem Nachmittag jedoch, als ich die Straßen verließ und über die Felder hastete, wo das Gras meinen fast nackten Füßen Wohltat, kam ich schnell voran. In jener Nacht schlief ich draußen, denn die Luft war warm und der Himmel voller Sterne. Ich träumte vom alten Oakleigh und der kleinen Tilly, und gerade, als ich meine Arme um sie schlang, wachte ich auf und umarmte mich selbst. Mein Rücken schmerzte an den Stellen, an denen die Lumpen festklebten, und keine Tilly war zu sehen. Mir war furchtbar schwindlig, als ich auf die Füße kam.
Auf einem Rübenfeld nahm ich mein Frühstück ein, das einem Jungen mit einem Feinschmeckergaumen wie dem meinen schwer auf dem Magen lag. Beim Kauen dachte ich angestrengt nach. Den einen Augenblick war ich ein Lehrling oder doch beinah, mit einem Goldstück im Taschentuch und den Lippen von Meisters Töchterlein auf den meinen, und den nächsten ein barfüßiger Ausreißer, den Bauch voller Rüben und das Genick fix und fertig zum Aufhängen beim nächsten Geschworenengericht. Ich machte mich wieder auf, eh mir die Tränen in die Augen schießen konnten.
Ich wußte nicht, wie weit ich gekommen war, aber ich konnte an der Sonne sehen, daß ich noch nach Westen ging. Ich kam an wenigen Bauernhöfen vorbei und hielt mich aus Angst vor den Hunden in sicherer Entfernung. Meine Eingeweide knurrten, und mir war schwindlig vor Hunger, als ich weiterging. Ich strebte nur danach, so viele Meilen wie möglich zwischen mich und die Prämienjäger zu bringen, die hinter mir her waren.
Eines Tages geriet ich gegen Abend in ansteigendes Gelände, wo man Schafe hält, und erklomm das Gebiet, in dem Sumpfschnepfe und Brachvogel herrschten. Ich sah niemanden und schlief in der Nacht in einer zerfallenen Steinhütte. Am nächsten Tag hing der Nebel tief, und ich wagte mich nicht weiter, weil ich weder Norden, Osten, Süden oder Westen ausmachen konnte. Doch ein weiterer Tag mit Kälte und Hunger zwang mich hinaus, und ich tappte weiter, glitt auf Hügeln aus, fiel in Wasserrinnen und watete einmal knietief in einen Sumpf.
Doch damit nicht genug. Gegen Mittag lichtete sich der Nebel. Aber ich war immer noch in der Nähe der Hütte, ich war im Kreis gegangen. Ich wußte, daß ich aus dem Landstrich der Moore hinauskommen mußte, wenn ich nicht zugrunde gehen wollte. Im Süden und Westen lagen weitere Heide- und Sumpfgebiete. Im Osten waren Bridgewater und die Menschenfänger. Im Norden, wenn ich mich nicht irrte, lag die See. Ich hatte keine Wahl. So schnell ich konnte und solange es hell war, eilte ich seewärts. Die Sonne wärmte mich ein wenig, der Dreck verkrustete an meinen Beinen, und meine Eingeweide knurrten mich an. Mein Kopf fieberte vor Schmerzen meines nicht verheilten Rückens, vor Erschöpfung und Hunger. Ich fing an, Häuser am Horizont zu sehen, die verschwanden, als ich auf sie zurannte; dann sah ich Figuren, die ich kannte, den alten John und Tilly, die lächelten und winkten und sich dann auflösten und mich allein weiterstolpern ließen.
Halb verrückt vor Hunger und Fieber erreichte ich im Zwielicht eine holprige Straße, die von Osten nach Westen verlief. Ich wandte mich der untergehenden Sonne entgegen — meine letzte bewußte Tat an jenem Tag — und trottete weiter, während mir die Sonnenstrahlen voll in die Augen fielen, bis mein Schädel von ihrem roten Licht ausgefüllt zu sein schien. Dann, als der letzte Schein verlosch, hatte ich eine Vision: Riesengroß tauchte etwas am Horizont auf.
Auf der Straße vor mir erschien eine Kutsche, ein großes vergoldetes Ding mit vier tänzelnden dunklen Pferden. Auf dem Kutschbock saß, die Peitsche schwingend, ein riesiger Kutscher in blauem Mantel und Krempenhut.
Das Gesicht darunter war so schwarz wie das Gespann, das er antrieb oder wie der Prinz der Dunkelheit selbst. Voller Entsetzen rannte ich wie ein kopfloses Huhn über die Straße. Das Ende des Peitschenstieles streifte mich am Schulterblatt.
Ich sank nieder, und die ganze Szene verschwand vor meinen Augen.