18.

Manche mögen’s heiß

 

 

Im „Admiral Benbow“ taten wir weiter unsere Arbeit. Das heißt, ich kümmerte mich um das Gasthaus und die Kundschaft; Mrs. Hawkins saß mit Nähzeug und Pistole auf dem Wachposten; und Master Hawkins ging wieder an sein Bleistiftgekaue am Tisch. Er hatte auf die Meinung anderer gehört und das Dichten von Schauspielen aufgegeben. Jetzt war er damit beschäftigt, einen romantischen Abenteuerroman, „Der Prinz der Karibik“, zu schreiben, der, unter uns gesagt, sein altes Stück in Prosa umgeschrieben war. Doch den Gästen gefiel die neue Fassung besser, denn wenigstens zwang er sie abends nicht mehr, am Lesen mit verteilten Rollen teilzunehmen. Er arbeitete allein, und nur dann und wann bat er mich spät in der Nacht zuzuhören, wenn er ein paar Kapitel vorlas. Auch das war mühsam.

Ein paarmal mußte ich mir auf die Zunge beißen, um ihn nicht nach jener anderen Geschichte zu fragen, die er in der Halle der Kaufleute erzählt hatte, oder nach dem vergilbten Stückchen Papier aus der Bibel des Seeräubers, das ich in der Uhrentasche meiner Hose verstaut hatte. Doch da ich das ohne sein Wissen aufgelesen hatte, hielt ich es für besser, den Mund zu halten. Am allerliebsten hätte ich gewußt, wo diese Karte versteckt war. Ein quietschendes Brett im Boden unter seinem Bett erregte meinen Verdacht, aber ich hatte keine Chance, es herauszufinden. Andere Leute waren natürlich auch an der Karte interessiert. Betsy kam zweimal mit einer Einladung zum Essen vom Herrenhaus in die Gastwirtschaft. Der Squire tat alles, was er konnte, um Master Jim zu schmeicheln. Doch der entschuldigte sich. Ihm ginge es nicht gut, Mrs. H. hätte einen Anfall gehabt (das war ein Witz, denn die alte Dame mochte vielleicht nicht wissen, wer ihr Sohn war, aber abgesehen davon war sie gesund wie ein Fisch im Wasser, wie sie uns bald zeigen sollte).

So saß der Squire schäumend vor Ungeduld im Herrenhaus. Und Master Jim saß brütend und an seinem Bleistift kauend im „Admiral Benbow“. Betsy flitzte von einem zum andern, und der Doktor kam dann und wann für einen Schwatz herein und sah etwas abgehärmt aus.

„Zum Teufel mit dem Schatz“, sagte er einmal zu mir. „Er zerstört die Freundschaft, und allein auf Freundschaft kommt es an.“ Ja und Amen, dachte ich, aber ein bißchen Schatz würde denen, die nichts haben, nicht schaden. Zweifellos dachte Mr. Argent das auch. Doch er ließ sich Zeit. Er hielt sich von uns fern oder schien es zu tun. Vielleicht brauchte er auch nicht zu spionieren, da er Betsy hatte, die für ihn ihre Nase in alles steckte.

Wie sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht herausbekommen, wo diese Karte sein könnte. Aus reiner Neugier hätte ich gern wenigstens einen Blick darauf geworfen. Eines Tages, als Master Jim unten in der Bucht war und aufs Meer hinausschaute, durchsuchte ich sein Schlafzimmer, einmal und ein zweites Mal. Aber keine Spur von irgendeiner Karte. Das quietschende Bodenbrett ließ sich nicht bewegen, und ich konnte kein Versteck finden. Das Bündel Papiere mit der Geschichte lag in Segeltuch eingeschlagen unter dem Bett, und das war alles.

Eines Abends, es war ruhig in der Schankstube, saßen wir in der Wohnstube, Master Jim schrieb, Mrs. H. nähte, und ich dachte an dies und jenes, als die alte Dame einnickte. Eine der Pistolen glitt mit dem Nähzeug von ihrem Schoß und fiel mit dumpfem Aufschlag zu Boden. Aber sie ging nicht los, was ein Wunder war, denn Mrs. H. hatte die Angewohnheit, sie gespannt zu haben. Als ich sie aufhob, bemerkte ich, daß sie keinen Ladepropf hatte. Doch bevor ich sie näher anschauen konnte, wachte Mrs. H. auf und schnappte sie mir weg.

Ich sah, wie sie beide in meine Richtung blickten.

„Diese ist nicht geladen, Tom“, sagte Mrs. H. in einem Ton, der bedeutete, ,kümmere dich um deinen eigenen Kram’. Nanu, was hatte das zu bedeuten? fragte ich mich.

Es dauerte nicht lange, bis ich es herausfand.

 

Schon am nächsten Tag, am frühen Abend, bevor wir geöffnet hatten, saß die alte Dame beim Herd in der Küche. Master Jim war oben, und ich war in der Schankstube beschäftigt. Den ganzen Tag hatte sich ein Sturm zusammengebraut, und draußen war der Himmel mit dicken violetten Wolken verhängt. Es war so dunkel, daß ich ein paar Lampen anzündete. Draußen über der See grollte der Donner, und dann und wann leuchtete jäh ein Blitz auf. Wir hatten eine Nacht mit scheußlichem Wetter vor uns, und ich fragte mich, ob der Regen vor unseren Stammkunden eintreffen werde.

Plötzlich blickte Mrs. H. auf und sagte mit seltsamer Stimme: „Was war das, Jim, mein Junge?“

Ich hörte draußen auf der Straße das Tappen eines Stockes. Es kam näher und näher. Die alte Dame schien den Atem anzuhalten, sie stierte vor sich hin. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ mir fast das Herz stocken. Das Geräusch kam näher und näher. Dann klopfte es heftig an der Gasthaustür, und wir konnten hören, wie der Griff herumgedreht wurde und der Riegel rasselte, als jemand versuchte hereinzukommen. Ich ging auf die Tür zu, um zu öffnen, doch sie flüsterte: „Geh nicht, Jim. Laß ihn nicht rein.“

Es war lange still, dann verlor sich das Tappen. Ich ging zum Fenster und linste hinaus. In dem Augenblick zuckte ein Blitz, und der Donner krachte. Der Hof, die Straße und die Klippen lagen plötzlich in hellem Licht. Doch niemand war zu sehen, obwohl ich glaubte, in der Ferne das Geräusch von Wagenrädern zu hören. Jetzt kam der Sturm richtig in Fahrt. Der Regen schoß vom Himmel, klatschte gegen die Fenster und rann in Strömen vom Dach. Wie immer machte ich alles an der Theke fertig und ging dann hinüber in die Gaststube, wo ich mit Master Jim saß und auf die ersten Kunden wartete. Aber niemand kam.

Nach einer Stunde ließ der Regen so langsam wie er begonnen hatte nach, doch der Himmel wurde nicht klar, weil die Abenddämmerung die Dunkelheit verstärkte. In der Stille, die dem Guß folgte, hörten wir alle drei wieder das Tappen. Es kam näher, geradewegs auf die Türschwelle zu. Der Türriegel klickte, und langsame Schritte ertönten in der Gaststube.

„Wer ist das?“ rief Mrs. Hawkins von der Küche. Im selben Augenblick sprang Master Jim auf, der mit aufgerissenen Augen gelauscht hatte, als könnte er nicht glauben, was er hörte, und eilte in die Schankstube.

Jetzt begann eine geflüsterte Unterhaltung. Ich konnte nicht hören, was gesagt wurde, stand auf und ging zum Türvorhang. Hinter dem Schein der Lampe dicht an der Haustür sah ich zwei Figuren: Master Jim und den geheimnisvollen Besucher. Sie stritten sich, und die Meinungsverschiedenheit wurde schlimmer. Plötzlich hörte ich: „Die Landkarte? Ihr werdet die Karte nicht bekommen.“

„Nein, das wird er in der Tat nicht“, kreischte Mrs. H. Ein Schieben und Schurren, ein Tisch wurde umgestoßen. Ich schob den Vorhang rechtzeitig genug zurück, um zu sehen, wie die alte Dame in die Schankstube eilte und dem Eindringling einen großen Topf Erbsbrei über den Kopf kippte. Allerdings kriegte Master Jim auch eine Portion ab und torkelte zur Seite. Mrs. Hawkins rannte an mir vorüber in die Wohnstube und wieder zurück in die Schankstube, wo Master Jim sich aufrappelte, und der andere Mann halbblind durch den Hauseingang taumelte. Die alte Dame hielt die Pistole in der Hand.

„Nicht schießen, Mrs. Hawkins“, rief ich, aber das war nicht ihre Absicht. Statt dessen drückte sie mir die Pistole in die Hand. Aufgrund des Gewichtes wußte ich, daß es die leere war.

„Nimm sie, Tom, mein Junge. Lauf damit zum Squire oder Dr. Livesey. Sie sollen sie nicht haben.“

Ich eilte an dem Fremden mit seiner Kopfbedeckung aus warmem Erbsbrei vorbei und lief zur Straße und zu der kleinen Brücke hinunter, die über den nahen Bach führte. Jenseits der Hügelkuppe konnte ich das Hufgetrappel galoppierender Pferde hören. Als ich fortrannte, hörte der Eindringling auf zu brüllen und stieß die Worte hervor: „Hilfe! Jim! Tom! Laßt mich nicht allein!“ Es war der Squire. Die Stimme kannte ich selbst durch zwei Pfund Erbsbrei hindurch. Ich kletterte gerade zur Straße zurück, um ihm entgegenzueilen, als er zum Bach hinuntergetaumelt kam. Doch in dem Augenblick erreichte der Hufschlag den Gipfel der Anhöhe, und vier oder fünf Reiter tauchten im Mondschein auf und fegten in gestrecktem Galopp den Abhang hinunter.

Der Squire bemerkte seinen Irrtum, drehte brüllend um und rannte geradewegs auf den Bach zu und fiel hinein. Doch in einer Sekunde war er wieder auf den Beinen, stürzte erneut los, jetzt völlig verwirrt, und direkt unter das erste der herankommenden Pferde.

In diesem Augenblick streckte der Reiter einen Fuß aus und gab ihm rasch einen Tritt, so daß er Hals über Kopf zurück in den Bach fiel. Zur gleichen Zeit sagte mir eine Stimme ins Ohr: „Spring auf, Tom.“

Ich wurde beim Gürtel gepackt, hochgezerrt und saß im Nu rittlings hinten auf dem Pferd. Mein Sitz war alles andere als sicher, ja lebensgefährlich, und ich klammerte mich an den Mantel meines Vordermannes, denn wir ritten in scharfem Tempo davon. Eine halbe Meile weiter fand ich meine Stimme wieder. „Wohin reiten wir?“

„Halt den Mund!“ kam die hilfreiche Antwort. Der Trupp verlangsamte sein Tempo nicht für mehr als zwei Meilen, dann bogen alle auf einen engen Weg ab, ritten ein paar hundert Yards über Gras und blieben vor einem großen einsamen Haus stehen. Ich wurde unverzüglich vom Pferd hinabgezerrt, durch die Eingangstür nach drinnen und eine breite Treppenflucht hinaufgestoßen. Dabei fuhr meine Hand über das Treppengeländer. Es war dick mit Staub bedeckt. Oben wurde ein Tür geöffnet, und ich wurde in einen großen, hellerleuchteten Raum geschoben.

In der Mitte stand ein Tisch mit einem weißen Tischtuch und zwei geschmackvollen Silbergedecken. Wir kamen genau zur rechten Zeit an, denn die Suppe stand dampfend auf dem Tisch, und der erste Wein war eingeschenkt. Hinter dem Tisch, zwischen den beiden höchsten Kerzenständern stand ein großer, kräftig gebauter Mann in blauem, weitem Mantel mit einem Dreispitz auf dem Kopf. Auf seiner Schulter saß ein räudiger, alternder güner Papagei. Der Mann lehnte sich leicht auf eine Krücke, die seine andere Schulter stützte. Als ich den Tisch erreichte, hüpfte er geschickt nach vorn, nahm gewandt Platz und legte die Krücke beiseite. „Komm an Bord, Tom“, sagte Mr. Argent.

Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
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