8.

Der Schauspieldichter

 

 

Ich wachte mit der Dämmerung auf, das Geräusch der Brandung auf den Felsen in den Ohren. Einen Augenblick lang konnte ich nicht sagen, wo ich war, dann erinnerte ich mich. Das Gasthaus „Zum Admiral Benbow“, Schwarzberg-Bucht, dem ich nach dem Frühstück mit einem Shilling in der Hand auf Wiedersehen sagen sollte. Ich schwang mich aus der Hängematte und ging in die Küche. Im Handumdrehen hatte ich ein Feuer im Herd brennen. Ich durchstöberte die Speisekammer, fand einige Reste und setzte etwas Speck in der Pfanne auf. Als ich auch ein paar Eier fand, kam mir die Idee, ein Omelette auf französische Art zu machen. Bis die alte Dame ihren Weg nach unten fand, hatte ich den Tisch in der Gaststube gedeckt, Teller, Becher und alles, und das Essen war kochend heiß. Sie machte große Augen, sagte aber nichts und haute rein wie ein Viehhändler am Markttag. Als Master Jim nach unten kam, mußte ich eine zweite Portion machen, und weg war alles Eßbare — kein Frühstück für den kleinen Tom. Noch war kein Wort gefallen außer „Guten Morgen“, und ich war unsicher, wie ich die Unterhaltung hinausdehnen könnte, um die Haw-kins-Familie dazu zu bewegen, ihren Entschluß, mich vor die Tür zu setzen, noch einmal zu überdenken.

Doch genau in dem Augenblick zog ich ein As. Draußen auf dem Weg rumpelte ein Brauereiwagen heran. Ohne Master Hawkins eine Chance zu geben, sich zu rühren — nicht daß er irgendwelche Anstalten dazu gemacht hätte, er war viel zu beschäftigt, seinen Wörtern auf dem Tisch nachzujagen — flitzte ich hinaus und erwischte den Bierkutscher gerade, als er ein Faß hinunterhieven wollte.

„Vielen Dank, heute nichts“, sagte ich.

„Was?“ knurrte er, drehte sich um und stierte mich an. Er hatte Schultern wie ein Schrank, und in seinen Zügen lag etwas Boshaftes.

„Der Wirt sagt, dies letzte Faß konnte man nur zum Desinfizieren der Schafe gebrauchen.“

Er stieß das Faß zurück auf die Karre und ging einen Schritt auf die Schenke zu.

„Ich frag ihn selber.“

„Der Wirt hat zu tun, Ihr müßt mit Mrs. Hawkins reden.“

Das hielt ihn zurück. Er sah verschlagen aus.

„Was soll’s dann sein?“

Ich sprang auf den Wagen. Unter einer Plane lagen vorne noch mehr Fässer.

„Zwei hiervon“, riet ich.

„Die sind bestellt.“

„Eins dann — oder...“

„Oder was?“

„Oder — gar keins.“

Er wollte auf den Kutschersitz zurückklettern, zögerte aber, als ich sagte: „Oder ich erzähl Euerm Meister, daß Ihr sein Bier verpanscht, noch mehr, als er selbst, so.“

Ein Schuß ins Schwarze. Er sagte nichts mehr, sondern hievte ein paar Fässer vom Besten hinunter und beförderte sie in die Schankstube. Ich lief hinein und bat Master Hawkins um das Geld. Der Bierkutscher sah zu, ohne ein Wort zu sagen, aber er musterte mich, als wollte er mir den Hals umdrehen.

Ich wünschte ihm Guten Tag, lief in die Schankstube, zapfte das erste Faß an, probierte, füllte einen zweiten Krug und trug ihn stolz zu Master Jim hinüber. Er hatte sein Frühstück nicht angerührt. Sein schönes Omelette war auf dem Teller zusammengefallen. Er hatte alles zur Seite geschoben und war mit seinen Papieren beschäftigt. Als ich hineinkam, blickte er auf.

„Tom, mein Junge, was hältst du hiervon?...

 

,Oh, hör mein Gelöbnis grausiger Rache,

Meinen Schwur, mein Versprechen der Leidenschaft hör.“‘

 

Ich stand da und starrte ihn an. Ohne zu überlegen nahm ich einen kräftigen Zug von seinem Bier und sagte: „Kann man nicht ,Schwur’ und ,Gelöbnis“ vertauschen, Sir?“

Er schob die Lippen vor, zuckte mit den Achseln und begann dann, mit langen Schritten auf und ab zu schreiten.

 

„Oh, hör meinen Schwur grausiger Rache,

Mein Gelöbnis, mein Versprechen der Leidenschaft hör.“

 

Ich ging auf Zehenspitzen zurück in die Schankstube, leerte meinen Bierkrug, nahm den Besen und begann, den Boden zu fegen. Als Mrs. H. später am Morgen hereinkam, war ich dabei, Korn und Malz abzumessen. Sie lächelte grimmig und ging fort.

Um zwölf Uhr kam sie zurück, schnitt mir etwas Brot und Fleisch ab und unterhielt sich mit mir über meine Familie. Das war im Nu geschehen. Als sie hörte, wie ich zur Welt gekommen war, schüttelte sie den Kopf und ging fort.

Am Nachmittag kamen ein paar Arbeiter mit ihren Krügen vom Feld. Ich füllte sie mit Bier von den Fässern, gab jedem ein Freibier zum Probieren, beobachtete sie beim Fortgehen und rieb mir die Hände.

An diesem Abend war die Schenke voll, am nächsten auch, und Tom Carter blieb. Wenn Master Jim sich daran erinnerte, daß er gestern etwas über den kleinen Tom auf der Landstraße gesagt hatte, dann sagte er jetzt nichts weiter darüber. Das einzige, was ihn interessierte, war das verdammte Stück, das er schrieb, „Der Prinz der Karibik“. Ab und zu, wenn ich mir in der Schankstube die Füße abwetzte, kam er herein, mit wildem Haar, Papier und Bleistift in der Faust, packte mich beim Arm und deklamierte etwas wie:

 

„Verderben sollst du, ruchloser Herrscher!“

 

Ich sagte ihm ehrlich meine Meinung, und weg war er und überarbeitete es. Es war offensichtlich, daß die Kundschaft, die ich ihm zuführte, die volle Schenke und der Brauereiknecht, der mir fast die Hände küßte, ihm piepegal waren. Doch dem Schuft gab ich den Laufpaß, sobald unser eigenes Bier gebraut war, und ließ Weine von einem anderen Betrieb aus Bristol kommen, so daß wir noch einen Handelszweig aufbauen konnten.

Master Jim dachte nur an sein Stück und die Chance, es in Bristol auf die Bühne zu bringen, wo sie gerade ein Theater eröffnet hatten, in dem ein junger Kerl wie er selbst Direktor war, und wo, wie ihr vielleicht erraten habt, Lady Alice ein regelmäßiger Besucher war, wie ich bald durch Betsy herausfand.

Betsy kam ein paarmal mit einem Auftrag vom Herrenhaus herüber. Der Squire hielt es für günstig, seinen Portwein und die „Bristol milk“ durch meine guten Verbindungen zu beziehen. Sie steckte mir einen Shilling mit der Bemerkung zu, daß jeden Monat einer fällig wäre, wenn ich „die Augen offenhielte“. Ich sagte ihr nicht, daß ich zwanzigmal so viel verdienen könnte, wenn ich meinen Herrn betröge. Statt dessen steckte ich den Shilling ein, blinzelte ihr zu und sagte „Ausgezeichnet“. Sie pflegte ab und zu in die Schankstube zu schlüpfen, wo ich mit dem Besen hantierte. Manchmal erwischte sie mich, wenn ich mich bückte und kniff mich in den Hintern. Doch wenn ich Gleiches mit Gleichem vergelten wollte, entwischte sie und gaffte mich an.

Doch Kneifen und Shillinge beiseite, ich hielt die Augen offen. Es gab seltsame Dinge zu sehen und zu hören.

Und nichts war seltsamer als Master Jim und sein Stück. Während es langsam Szene um Szene entstand, fing er an, es abends in die Schankstube zu bringen.

Dann spendierte er jedem ein Glas und zwang die Runde, der Szene zuzuhören, die er gerade zu Ende gebracht hatte, oder gar ihm zu helfen: sie mit verteilten Rollen vorzulesen. In dieser Stimmung war er der rücksichtsloseste Kerl, den man je gesehen hatte, er schlug mit der Hand auf den Tisch, um ringsum Ruhe zu haben, er brauste in leidenschaftlichem Zorn auf, wenn jemand eine Zeile falsch vortrug oder sein Stichwort verpaßte, oder wenn er meinte, daß die Runde der Handlung nicht folgte. Er erlaubte auch niemandem fortzugehen, ehe die Probe beendet war. Einmal wagte ein Landarbeiter nach einem solch anstrengenden Abend dreist herauszuplatzen: „Master Jim, dies ist ja gut und schön für die oberen Zehntausend, dies hier. Aber ich hätt’ lieber ‘n richtiges Seemannsgarn. Lies uns doch deine Geschichte über den Schiffskoch vor.“

Master Hawkins fuhr ihn an.

„Welche Geschichte? Ich kenne keine solche Geschichte.“

Der Junge war verlegen, ließ aber nicht locker.

„Doch, Master Jim, du weißt schon, diese Papiere, die du oben in deinem Zimmer hast, was der Squire und Dr. Livesey dich über die Schatzinsel aufschreiben ließen.“

„Ja, ja“, fielen die anderen im Chor ein, „Die Schatzinsel“, und einer murmelte: „Und zum Teufel mit dem ,Prinz der Karibik’!“ Master Jim bot ein schreckliches Bild in seinem Zorn. Er ging auf den unglücklichen Jungen zu, der sich voller Angst verzog. Aber er besann sich eines Besseren und stampfte aus dem Raum. An jenem Abend sahen wir ihn nicht mehr in der Schankstube und an manchem kommenden auch nicht.

Doch als ich in jener Nacht mit den Schlüsseln hinauf in sein Zimmer ging, fand ich ihn auf dem Bett sitzen, eine Kerze neben sich, ein Bündel Papiere auf den Knien; er starrte ins Nichts, und sein Gesicht war leer und jungenhaft. Ich sprach ihn an. Er hörte nicht ein Wort. Ich legte die Schlüssel neben ihn und ging zu Bett. In der nächsten Woche war Dr. Livesey zufällig in der Gaststube. Er kam einmal, um zu sehen, wie es der alten Dame ging, und zum andern, um den neuen Madeira zu probieren, von dem ich eine Kiste vom Hafen erhalten hatte. Ich trug ihm die Angelegenheit vor. Warum wurde mein Herr so leidenschaftlich, wenn das Wort „Schatzinsel“ geäußert wurde? Alle Männer erzählten aus ihrer Vergangenheit, Soldaten und Seeleute erzählten von Kriegen und Reisen, warum hütete Master Hawkins seine Vergangenheit so geheimnisvoll? Um ehrlich zu sein, ich hoffte, nicht allein etwas über Master Jim, sondern auch über andere Dinge zu erfahren.

Aber der Doktor blickte grimmig drein und sagte: „Als Jim in deinem Alter war, sah er Männer wie Fliegen sterben. Er hat einen Mann umgebracht und wäre beinah selbst dafür umgebracht worden. Er möchte vergessen, und ich bin nicht derjenige, der ihn erinnern wird.“

Ich dachte nach — ich hatte beinah einen Mann getötet. Aber ich sagte nichts. Ich hatte eine geheimnisvolle Vergangenheit wie mein Herr und hatte weder den Wunsch, selbst darin herumzustochern, noch wollte ich, daß andere es taten.

Doch es sind nicht unsere Wünsche, die die Welt regieren. Meine nächsten Karten enthielten kein As, sondern einen Joker. Meine Vergangenheit holte mich ein.

Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
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