15.
Den Letzten beißen die Hunde
„Molly ist tot!“ Die Nachricht, wahr oder falsch, ging von Mund zu Mund, und die Masse der Bergleute, Frauen und Kinder war in Bewegung geraten. Wer hinten stand, drängte nach vorn, um zu sehen, was los war. Wer in der Mitte stand, drängte ebenfalls nach vorn, um von denen, die von hinten drängten, fortzukommen. Und wer in der ersten Reihe stand, wurde nach vorn geworfen wie eine Welle bei Hochflut an den Strand. Tausende taumelten in einer gewaltigen Woge über den Rasen.
„Molly ist tot.“
Sie war nicht tot. Sie setzte sich auf und rieb sich den Kiefer. Dann sah sie die gewaltige Menschenmenge durch die Seile brechen und rappelte sich auf. Während Betsy sie am Arm mitzog, rannte sie los, um sich in Sicherheit zu bringen, gerade als der von den Seilen begrenzte Platz sich mit rennenden, stolpernden und fallenden Menschen füllte. In all dem Gedränge konnte niemand sehen, daß sie lebte. Bei all dem Geschrei, daß sie tot wäre, konnte niemand die Stimmen derjenigen hören, die riefen, daß sie es nicht war. Der Grünbejackte, der seine Pflicht der Öffentlichkeit gegenüber getan hatte, gab Fersengeld, stieß Damen und Herren nach links und nach rechts und floh in Richtung auf die „Drei Federn“. Ned Barker erschien plötzlich vor uns, während die Damen und Herren miteinander diskutierten und rief: „Kümmert Euch nicht um die Wetten, rennt um Euer Leben!“ Dann drehte er sich um, hakte seine Kameraden unter und versuchte, die Menge zurückzuhalten. Doch das war, als wollte man eine Flutwelle mit einem Brett aufhalten, dachte ich, als ich auf der Suche nach Betsy zwischen die vornehmen Leute tauchte, die wie Kühe unherirrten. Diejenigen, die hinten standen und das Unheil kommen sahen, waren klug genug, flotten, aber würdigen Schrittes in Richtung ihrer Pferde und Kutschen zu gehen und dabei nervöse Anweisungen wie „Spann an James, wende den Wagen“ zu rufen.
Wieweit das beachtet wurde, kann ich nicht sagen, denn die Diener bewegten sich, wenn sie nicht in dem Durcheinander steckenblieben, auf sicheres Gelände zu. Aus kleinen Schritten wurden große, das Gehen wurde zum Rennen. Die Elite der handeltreibenden Bristoler Gesellschaft fiel in Schritt, Trab und schließlich Galopp, die Rockschöße wehten.
Röcke wurden bis zu den Knien, dann bis zur Taille hinaufgezogen, und gutgeformte Knöchel, Waden und Schenkel wurden zur Schau gestellt, als die Leute wartenden Fahrzeugen entgegenflogen. Sie schnauften und keuchten, sie hatten die Finger krampfhaft um Geldscheine und Münzen gepreßt oder ließen sie in der Aufregung zu Boden rollen, als sie, den wachsenden Tumult der Menge in den Ohren, um ihr Leben rannten.
Vergeblich riefen Ned Barker und seine Kameraden den Bergleuten zu, daß sie anhalten und sich beruhigen sollten. Sie wurden beiseite geschoben, und die Masse strömte weiter. Einmal in Bewegung gesetzt, konnte niemand sie aufhalten. Die Entfernung zwischen ihnen und der fliehenden guten Gesellschaft begann kleiner zu werden. Der Anblick der in die Flucht geschlagenen Elite versetzte die Männer in der vordersten Reihe in Aufregung. „Hierher, Jungs! Dort ist Argent, der Maschinen-Mann! Und da sein verdammter Erfinder!“ — „Wir stopfen sie in den Kolbenzylinder!“ brüllte jemand, und die Antwort kam: „Fangt den Maschinen-Mann!“
„Nee“, schrie ein anderer, „fangt diejenigen, die im letzten Sommer die Zollschranken aufgestellt haben!“ Und die Antwort: „Ja, Ja. Die Zollschranken-Männer!“
Und: „Fangt die, die im letzten Jahr die Getreidepreise erhöht haben!“
„Ja, fangt die Lumpen! Fangt die Ausbeuter!“
Mit jedem neuen Schlachtruf begann die Menge sich in einzelne trampelnde Gruppen aufzuspalten, ein Manöver, das phantastisch anzusehen war. Ich beobachtete es von einer Ecke der „Drei Federn“, die ich erreichte. Der kleine Tom zu sein, hatte seine Vorteile.
Ein noch tollerer Anblick: Was die Bergleute teilte, vereinte die Kaufleute. Sie vergaßen, daß sie sich je über Fragen der Politik oder Religion entzweit hatten, und flohen wie ein Mann oder eine Frau — Whigs Seite an Seite mit Torries, Quäker und Methodisten mit Anhängern der High Church, Selbständige und Angestellte, Zollhausbesitzer, Getreidehändler, Glasfabrikanten, Kapitäne, Agenten, Spekulanten, Landgewinnler, Planer, Überseekaufleute — sie alle rannten, dichtgedrängt wie ein Eliteregiment der Kavallerie. Fielen wie Frachtgut auf Kutschen, sprangen durch offene Türen, tauchten mit dem Kopf voran durch Fenster, kletterten wie Affen auf Dächer und Kutschersitze.
Sie stießen Pferdeknechte und Kutscher beiseite, ergriffen selbst die Zügel und peitschten die Pferde wie gewöhnliche Knechte. Aus einem würdigen Rückzug wurde eine verzweifelte wilde Flucht. Es ging im Galopp nach Bristol zurück. Man hatte fast eine Stunde gebraucht, um mittags rauszufahren. In der Dämmerung kamen sie in der hübschen Zeit von zwanzig Minuten zurück. Der erste, der aufsaß und an der Spitze der Fliehenden ritt, war der Stadtrichter, begleitet vom Master der „Wagemutigen Kaufleute“. Unsere Gruppe saß abfahrbereit in der Kutsche, mit Daniel auf dem Kutschbock, voller blauer Flecken, aber erholt, die Zügel in den Händen.
„Wo ist Betsy?“ rief ich ihm zu. Er schien mich nicht zu hören, sondern brachte die Pferde mit einem lauten Ruf und Anrucken des Geschirrs auf die Straße.
„Betsy!“ brüllte ich.
„Tom“, sagte eine Stimme hinter mir, und da war sie in ihrem weißen Kleid und kämmte ihr lockiges Haar aus.
„Betsy, komm!“ schrie ich, ergriff sie bei der Hand und zog sie fort, gerade als die Veranda mit Fußboden und Geländer von stampfenden Füßen zu Kleinholz zertrampelt wurde. Jetzt rannten wir alle zusammen, denn zu halten bedeutete den Tod, und ich fand Dr. Liversey an meiner Seite. Er hatte die Kutsche verpaßt, als er anhielt, um einer Frau vom Gras hochzuhelfen. Dort war Ned Barker mit Jem Morris zur Seite, dessen Gesicht saubergewischt, doch voller Platzwunden und Schwellungen war.
„Rennt woanders lang!“ rief der Doktor ihnen zu. „Ihr habt Euer Bestes getan. Es ist nicht Eure Schuld, was geschehen ist.“
„Nein, Sir“, keuchte Barker. „Ich muß mit den anderen rennen, komme was wolle, um Schlimmeres zu verhüten.“ Und er rannte weiter.
„Der Stadtrichter lief gut!“ rief ich dem Doktor lachend zu. Er schüttelte den Kopf und stieß keuchend hervor: „Schätze den Herrn nicht falsch ein. Der rannte nicht, um seine Haut zu retten, sondern um ein Überraschungspäckchen für die Bergleute vorzubereiten. Ich zweifle nicht, daß ich heute abend gebraucht werde.“
Vor uns tauchten die alten Stadtmauern auf, und dahinter füllte die untergehende Sonne den Himmel mit blendendem Glanz. Doch in der Lücke, wo einst das alte Tor gestanden hatte, sah ich undeutlich Polizisten aufmarschiert, Knüppel in den Händen, den Stadtrichter zu Pferde und den Bürgermeister ihm zur Seite. Als die letzte Dame und der letzte Herr hindurchgelaufen waren und sich in Sicherheit gebracht hatten, füllten die Polizisten die Lücke.
„Er wird die Aufruhrakte vorlesen“, sagte der Doktor.
Das mag seine Absicht gewesen sein, doch kein Wort kam über die Lippen des Stadtrichters, als die Menge die Polizisten samt allem überrannte und den Bürgermeister über eine Hecke fliegen ließ. Schnell wie der Wind eilte der Stadtrichter davon.
Was für ein Mann. Er hatte ein weiteres Überraschungspäckchen in Reserve. Als die Menge durch das Lawford-Tor und in die Straßen stürmte, und die Gute Gesellschaft vor ihnen auseinanderstob, schien die untergehende Sonne auf die Säbel und Musketen der Dragoner, die am Ende eines Platzes aufmarschiert waren.
Betsy und ich packten den Doktor bei beiden Armen und zwängten ihn durch einen engen Torweg in einen Garten, als wir den ersten Befehl an die Soldaten hörten.
Wir waren über eine Mauer auf der anderen Seite des Gartens geklettert, als wir das Krachen der ersten Salve hörten.
Die Lustbarkeiten des Tages waren vorüber.