5.

Lady Alice tritt auf

 

 

Als die junge Dame hereinstürmte, stülpte der Doktor sich hastig die Perücke über, in der Eile verkehrt herum, und stand auf. „Lady Alice... ein Vergnügen.“

Aber er wurde nicht für seine Höflichkeit belohnt, sie würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Squire, obwohl sie ihm auch nicht willkommen war.

Er sank in sich zusammen, seine ganzen sechs Fuß, ein schwaches Grinsen auf dem Gesicht.

„Alice...?“

„Ich werde es nicht dulden“, sagte sie.

Der Squire saß mit offenem Munde da. Der Doktor setzte sich. „Es ist ungeheuerlich!“

Ich hatte mich vom Kamin verzogen, bevor sie eintrat, und da sie mich nicht einmal ansah, konnte ich sie unbeobachtet mustern. Schlank und hübsch, ganz in Schwarz, ein französisches Kleid mit schmaler Taille, tief geschnittenem Mieder und Spitzenkragen, eine elegante junge Witwe. Ich hatte solche schon früher gesehen — obwohl immer in Trauer, nicht in Zorn. Ihre Augen funkelten. Ich wartete und beobachtete. Das sah nach noch mehr Aufregung aus.

„Alice, meine...“

Er kam nicht weiter.

„Ihr habt gesagt, Ihr habt es deutlich gesagt, daß Betsy mir persönlich zu Diensten stünde. Und jetzt finde ich, daß sie zu allen möglichen Dingen herangezogen wird, so daß sie nicht da ist, wenn ich sie rufe.“

„Zu allen möglichen Dingen?“

„Allerdings! In der Küche, da wäscht sie irgendeinen Bengel, den der Doktor auf der Straße aufgelesen hat.“

Ich trat in die Ecke zurück, ganz aus dem Kerzenlicht hinaus. „Aber Alice, seid vernünftig“, (schöne Hoffnungen hatte er) „wenn wir so wenig Personal im Haus haben, müssen alle mit zugreifen.“

„Außerdem“, fuhr der Squire fort, jetzt ein wenig verdrießlich, „vergeßt nicht, ich habe Betsy selbst gekauft.“

Lady Alice zupfte ein Taschentuch aus den Spitzen und preßte es gegen die Augen. Das Gesicht des Squire verfinsterte sich. „Wie kann es Euch gefallen, mir meine Armut vorzuwerfen? Und mein armer Mann nicht lange…“ Man hörte ein schwaches Schniefen hinter dem Tüchlein, und der Doktor stand auf und streckte die Hand aus.

Runter kam das Taschentuch.

„Wenn er lebte, brauchte ich mir solche — solche Erniedrigung nicht gefallen zu lassen.“ Sie machte eine Pause. „Überhaupt war Betsy ein vorteilhafter Kauf, den Euch dieser Schuft von einem Agenten, Blandly, in Bristol verschafft hat.“

„Allerdings“, sagte der Squire mit wärmerer Stimme, „und ein guter Kauf ist sie, immer bereit, mit zuzupacken. Noch nicht einmal fünfzehn, aber fähig und willens, alles zu tun, was im Haus nötig ist.“

„Allerdings, zu willig für alles andere, außer dem Dienst bei mir.“ Lady Alice trat ein paar Schritte zur Seite, und ich schlüpfte aus ihrem Gesichtsfeld hinaus.

„Es ist nicht zum Aushalten! Dieser Haushalt wird von einer Köchin, einem Mädchen, einem Diener, einem Gärtner, einem Kutscher und einem betrunkenen Torhüter geführt, und ich muß meine Bedürfnisse für das Vergnügen eines Gassenjungen drangeben.“

„Ihr wißt, wie eng wir den Gürtel schnallen müssen, Alice, meine Liebe“, schmeichelte der Squire. „Wenn auch nicht mehr allzulange, hoffe ich. Ich spekuliere da auf ein paar Dinge.“

Der Doktor blickte überrascht über den Kamin.

„Sagt nichts weiter...“

Was dieser auch nicht tat.

„Spekulieren“, schnaubte Lady Alice.

„Alles, was Ihr tut, ist über Spekulationen zu reden. Es hat nichts als Gerede gegeben seit dieser Reise vor fünfzehn Jahren mit dem Doktor und — Master Hawkins.“

„Gewiß, und die brachte Euch eine Aussteuer ein.“

„Jetzt werft Ihr mir also die Aussteuer ins Gesicht?“ wütete Lady Alice. „Oh, wenn mein Mann noch... Ich brauchte nicht solche... zu ertragen.“ Sie tupfte sich die Wangen, ihre Augen waren gerötet.

„Wenn Ihr der Mann wäret, der Ihr einst wart, würdet Ihr ein Schiff ausrüsten und aufbrechen und diese Silberbarren holen, von denen Ihr so viel redet..

Der Squire sah bestürzt aus und hob den Finger an die Lippen. „Wenn mein Mann noch lebte, der würde nicht warten, der würde nicht rauchend und tratschend am Feuer sitzen, der würde... Ihr könnt mir nicht den Mund verbieten, Sir.“

Der Doktor sprach besänftigend. „Lady Alice, das war alles vor fünfzehn Jahren, und, wie Ihr sagt, wir sind alle viel älter...“ Sie zuckte die Schultern und erinnerte sich dann, warum sie gekommen war.

„Ich bestehe darauf, daß Ihr Betsy aus der Küche kommen laßt und ihr sagt, wo ihre Pflichten liegen.“

Der Squire nickte mir kaum sichtbar zu. Wie für ein altes, blindes Pferd war das genug für mich. Auf der Suche nach Betsy schlüpfte ich aus dem Raum, und Lady Alice sah mich nicht gehen. Für jemand anderen war ich ebenfalls zu schnell. Als ich die Tür aufriß, sprang Betsy, die sich draußen über das Schlüsselloch gebeugt hatte, mit einem Satz zurück, der ihr weißes Kleid herumwirbelte. Ich grinste sie an.

„Ich soll dich aus der Küche holen, Betsy. Laß uns lieber die Zeit für zehn Schritte abmessen.“

So gingen wir ‘m Flur- auf und ab, während ich bis zehn zählte, dann trat sie ein, schloß die Tür und ließ mich draußen stehen. Eine Dame hat ihren Stolz. Ich war versucht, mich über das Schlüsselloch zu beugen und zu lauschen, aber ich hatte kein Verlangen, wieder auf die Straße gesetzt zu werden. So trat ich zurück und wartete. Wenige Augenblicke später rauschte Lady Alice heraus, sah mich überhaupt nicht, und Betsy winkte mich wieder herein. Der Squire sagte: „Nun, Tom. Laß uns nicht mehr Zeit verlieren. Unser Pförtner wird dir zur Schwarzberg-Bucht leuchten und dich zu Master Hawkins vom ‚Admiral Benbow’ bringen. Der braucht einen Jungen, da er selbst zur Zeit sehr beschäftigt mit anderen Dingen ist.“

Der Squire grinste vor sich hin, und Dr. Livesey runzelte die Stirn wegen dieser Unvorsichtigkeit.

„So, Tom Carter. Betsy wird dir den Weg hinunter zum Pförtnerhaus zeigen, und der Pförtner wird dir auf dem restlichen Weg leuchten. Nein, danke mir nicht. Bedanke dich beim Doktor, der dich auf der Straße aufgelesen hat. Tu einfach deine Arbeit, halte die Augen offen, und wir werden alle sehr zufrieden sein.“

Die Augen offenhalten? Seltsam, so etwas zu sagen. Aber es war insgesamt ein seltsames Haus, in das ich da geraten war, mit diesem Gerede von Schatzschiffen, Silberbarren und heimlichen Spekulationen. Und was hatte die hübsche, dunkle Betsy vor, die an den Türen lauschte?

Alle diese Gedanken und viele andere schossen mir durch den Kopf, als ich mit Betsy losging, meine alte Segeltuchjacke über dem neuen Hemd, die Auffahrt hinunter zum Pförtnerhaus.

Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
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