31.
Die Silberbarren
(Bericht von Dr. Livesey fortgesetzt)
Zwei Stunden später erreichte unsere Gruppe voll bewaffnet den Strand und drang mit einer gewissen Vorsicht in den Wald vor. Wir hatten Josh Hall, den Maat, Ben Gunn und Daniel an Bord zurückgelassen. Da sie den langen Neunpfünder und die kleinere Drehbasse hatten, war das genug, um das Kapern des Schiffes hinter unserem Rücken zu verhindern. Obwohl wir das Gefühl hatten, daß die Meuterer, von denen keiner steuern oder einen Kurs berechnen konnte, das nicht versuchen würden.
„Ich schwöre“, sagte der Squire, „daß die Schufte sich in der Palisade verkrochen haben und vorhaben, uns dort Widerstand zu leisten. Was sagt Ihr? Sollen wir den Platz stürmen?“
Silver äußerte Bedenken.
„Es sind zu viele. Schwerwiegender, wir wissen nicht, was für Waffen sie haben. Noch schwerwiegender, wenn wir zu viele von ihnen töten, wer holt uns die Silberbarren rauf?“
Das zeugte von gesundem Menschenverstand, und Kapitän Gray stimmte zu. Zuerst, sagte er, müssen wir den Schatz sichern, eine stark bewaffnete Wache dort aufstellen und dann das Schiff zurückgewinnen und Mittel und Wege ersinnen, um die Bergleute und Schwarzen zum Gehorsam zu bringen.
Ein Schuß aus dem langen Neunpfünder sollte diesen Zweck erreichen, meinte der Squire. Silver nickte dazu, und wir brachen ohne weiteren Verzug auf, die beiden Ältesten unseres Trupps an der Spitze, der Squire mit seinem Stock, den rechten Fuß in einem Hausschuh. Silver unterstützte sein künstliches Bein (die Kugellager waren von Somerscale wieder eingesetzt worden) mit seiner Krücke.
Anfangs wurde unser Vorwärtskommen sehr durch den zähen, morastigen Boden und die verfilzten Sumpfpflanzen verzögert. Doch nach und nach wurde der Hügel steiler und steiniger und ) der Wald lichter.
Silver führte uns, und ich bemerkte, daß er das „Fernrohr“ deutlich linker Hand liegen ließ. Ich nahm an, daß er die Stelle vermied, wo Flint das Gold vergraben hatte, und der Boden mit alten Knochen und traurigen Souvenirs von seinem letzten blutigen Versuch, sich den Schatz anzueignen, übersät war.
Er schien mir, mit Trelawney wetteifernd, seine Schritte zu beschleunigen, bis wir weit über die Stelle hinaus waren, wo das alte Versteck des Schatzes östlich von uns lag und die Palisade mit den zusammengewürfelten Meuterern westlich von uns.
Um zehn Uhr vormittags, als wir nach meiner Berechnung etwa drei Meilen gegangen waren, und das „Fernrohr“ ein Stückchen hinter uns lag, ordnete Gray eine Pause an. Als Silver und Squire protestierten, teilte er ihnen trocken mit, daß er keine Leute hätte, sie den ganzen Weg zum Schiff zurückzutragen. So machten wir auf einer kleinen Hochebene inmitten dichter Gruppen grüner Muskatnußbäume halt, den weit ausladenden Schatten der Kiefern zwischen uns und der zunehmenden Sonnenhitze. Und hier bekamen wir den ersten von mehreren Schocks.
Als wir dabei waren, uns ins Gras zu setzen und unsere Vorräte auszupacken, stieß Silver einen Schrei aus und zeigte auf den Boden, sein Gesicht war so bleich wie Talg. Ein paar Yards weiter lag ein wirrer Haufen blutgefärbter Federn, als ob ein Fuchs hier kürzlich sein Mahl verlassen hätte.
„Das war Nanny“, murmelte Silver.
„Was?“ drängte Squire ihn, „was gibt es zwischen Euch und Nanny? Welche alten Sünden spüren Euch auf?“
Doch Silver biß die Zähne zusammen und sagte nichts weiter. Doch er war nicht bereit, sich zu setzen, bevor Gray unseren Rastplatz um gut hundert Yards verlegt hatte. Dort ruhten wir aus, aßen und tranken. Es gab guten Wein, was mich an den armen Tom denken ließ, unseren einzigen Unfall bisher. Jim Hawkins war auch in Gedanken versunken, und ich zog ihn damit auf. Er seufzte.
„Ich denke an Dick Johnson und Tom Morgan und den anderen, die wir vor fünfzehn Jahren aussetzten.“
„Ha“, spottete der Squire, „längst Gespenster. Ich bezweifle, ob sie einen Monat überlebten bei dem Rum und der Malaria.“
„Die Vernunft beweist“, bemerkte Somerscale, „daß Gespenster eine materielle Unmöglichkeit sind. Ein Ding ohne Substanz kann keine Existenz haben.“
„Würdet Ihr die Existenz Gottes leugnen?“ brüllte der Squire. Doch Somerscale ließ sich nicht einschüchtern.
„Wäre die Zeit geeigneter, würde ich gerne debattieren. Aber ich glaube, es gibt andere Dinge, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen.“
„Man braucht nicht an Gespenster zu glauben“, bemerkte Henry King weise, „um sich vor ihnen zu fürchten.“
„Es liegt in der Natur des abergläubischen Gemütes“, sagte Somerscale, „sich vor dem zu fürchten, was es nicht versteht.“ Und in dem Augenblick ließ er das Fleisch sinken, das er in der Hand hielt, und schnappte nach Luft.
„Was war das?“
„Ach nichts, Mann“, erwiderte Gray, der etwas irritiert über den Verlauf des Gespräches war. Er befahl uns, zu packen und ohne noch mehr Aufhebens zu machen, weiterzugehen.
Mit Somerscales Gehör war jedoch nichts verkehrt. Ein paar Augenblicke später kamen wir aus den Bäumen heraus und in offeneres Gelände, und Silver zeigte triumphierend auf einen dunklen Hügel etwa anderthalb Meilen vor uns.
„Der Schwarze Felsen!“ brüllte er und raste im Sturmschritt davon, der Squire dicht hinter ihm. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirn und hatte ihre Mäntel durchtränkt. Doch der Rest der Gruppe, jung oder alt, hatte Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Unvermittelt hielt Silver inne und warf die Hände in die Luft. „Psst. Was war das?“
Wir hielten. Es hatte keinen Sinn, zu behaupten, daß wir nichts hörten, denn es war unmißverständlich. Mitten in den Bäumen zu unserer Rechten stimmte eine hohe zittrige Stimme das allen bekannte Lied an:
„Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kist’,
Yohoho, und ‘n Buddel mit Rum.“
Ich habe niemals so furchtbar erschreckte Männer gesehen. Wie von Zauberhand wich die Farbe aus allen Gesichtern. Silver wand sich am Boden. „Es ist Käptn Flint, beim...“
Gray, sein Gesicht aschgrau, rief: „Das gibt es doch nicht! Alles klar zum Wenden. Das ist ja verrückt. Jemand spielt uns einen üblen Streich. Jemand Lebendiges, darauf könnt ihr euch verlassen.“
„Die Vernunft legt nahe“, sagte Somerscale zitternd, „daß Geisterstimmen kein Echo haben können, aber dieser Stimme folgte ein ganz deutliches Echo.“
Wie um diesen Punkt zu beweisen, erklang das Lied noch einmal, weiter links von uns, aber ganz deutlich.
„ Allmächtiger Himmel“, brüllte Silver, „das ist Ben Gunn.“ Andere in der Gruppe nickten, aber dieser Trost war ihm nicht lange gegönnt.
„Ihr Narren“, schnauzte der Squire. „Wir haben Ben Gunn an Bord gelassen.“
„Verflucht und zugenäht“, japste Silver. „Das haben wir getan. Kein Zweifel. Doch glaubt mir, Kameraden, diese Stimme ist uns vertraut. Ist jemand, den wir kennen.“
Wie um uns zu helfen, ertönte die Stimme noch einmal in einem schwachen fernen Klageton und hallte in den weit entfernten Gipfeln wider.
„Darby McGraw“, wimmerte sie, „Darby McGraw. Hol den Rum von achtern, Darby.“
„Das langt“, sagte einer, „laßt uns gehen.“
„Stehenbleiben“, sagte Silver, und seine Stimme ließ Trelawneys Augen weit vor Entsetzen werden. „Das ist nicht Ben Gunn. Das ist Dick Johnson, den Ihr hier ausgesetzt habt. Dick Johnson, so wahr ich lebe!“
„Aber Dick ist tot“, sagte der Squire, und alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Jetzt stand die ganze Gruppe wie am Boden festgewachsen, denn eine andere Stimme war zu hören, jünger und tiefer, gleich nach der ersten.
„Alle Menschen, die auf Erden leben!“ sang sie. Jetzt waren sowohl Trelawney wie Silver aschfahl bis in die Lippen.
„Das ist der kleine Tommy Carter, den wir — der über Bord fiel!“ schrien sie.
Jetzt erwies sich Kapitän Gray als Führer. Er richtete sich zu voller Höhe auf, befahl, mit höchster Geschwindigkeit weiterzugehen, und stob mit so rasanter Geschwindigkeit in Richtung des Schwarzen Felsen los, daß wir ihm folgen mußten. Das traurige Singen hallte noch einmal hinter uns und zu unserer Rechten wider, dann herrschte Stille, und alles, was wir hörten, war das Schurren von Füßen auf Steinen und Erde.
Trelawney und Silver hatten jetzt alles Entsetzen vergessen und übernahmen die Führung, sie stürmten um die Wette voran und stießen einander sogar fort, wenn der Weg sich verengte. Die Augen brannten ihnen im Kopf, ihre Füße wurden schneller und behender, und ihre ganze Seele war von dem Reichtum erfüllt, von einem ganzen Leben voller Reichtum und Vergnügen, das am Ende dieses Weges auf sie wartete.
Sie humpelten in wilder Entschlossenheit voran, Silver auf seine Krücke, Squire auf seinen Stock gestützt, mit geblähten und zitternden Nasenflügeln. Sie fluchten wie verrückt, wenn die Fliegen sich auf ihren Gesichtern niederließen und stürmten weiter, bis wir geradewegs am Fuß des Schwarzen Felsens waren.
„Hurra, Kameraden, alle miteinander!“ schrien sie.
Plötzlich sahen wir sie keine zehn Yards entfernt halten. Wir hörten einen leisen Schrei: Silver verdoppelte die Geschwindigkeit und grub mit dem Fuß seiner Krücke wie ein Verrückter.
Im nächsten Augenblick hatten wir sie eingeholt und standen totenstill. Vor uns sahen wir die Spuren einer gewaltigen Ausgrabung. Dicht daneben lag ein Brett auf dem Boden, in das mit einem glühenden Eisen der Name von Flints Schiff „Walroß“ eingebrannt war. Aber das Loch war mit Steinen und Felsblöcken gefüllt, zehn Fuß hoch aufgetürmt wie von einem riesigen Erdrutsch.
Nichts war klarer: Ohne die Hilfe von Ned Barker und seinen Männern — und Frauen — würden wir das Silber nie zu Gesicht bekommen.