9.
Mr. Argent tritt auf
Herbst und Winter vergingen ohne allzu viel Aufregung. Zwei Jahre zuvor war das Brot knapp und teuer gewesen. Es hatte Aufstände gegeben, die Hungernden hatten Getreideschober angezündet und die Türen der Kornspeicher eingeschlagen, Truppen wurden herbeigerufen, und der Henker war der meist beschäftigste Kerl in der Grafschaft. Doch zwei gute Ernten ließen das zur Vergangenheit werden, wenn die Erinnerung daran auch lebendig blieb. Wer auf dem Land oder in der Werkstatt arbeitete, hatte Kleingeld übrig, und das bekam ich in der Schankstube vom „Admiral Benbow“ zu sehen. Ich war beschäftigt, mein Herr war es auch. Sein Stück wurde fertig, was ihn freute und die Stammgäste im „Admiral Benbow“ nicht weniger, die ihre Abende jetzt friedlich verbringen konnten.
Der Frühling kam, bevor wir wußten, wie uns geschah. Frische Winde brachten den Geruch nach grünem Gras und Blumen vom Landesinnern mit. Dann fuhr eines Tages der Junge mit der Post vom Dörfchen herüber, da Old Postie zu betrunken dazu war. Master Hawkins kam im Zustand höchster Erregung in die Schankstube. Mistress Hannah More (er war sicher, daß ich von ihr gehört hatte), eine Förderin des Theaters, und, wie man sagt, eng mit dem Schauspieldirektor Garrick befreundet, hatte sein Stück gelesen und erklärt, er müßte sofort nach London fahren und den großen Mann aufsuchen.
Er schien tagelang wie im Fieber herumzugehen, nicht zum wenigsten vor lauter Nachdenken, wie er seine Mutter überzeugen könnte, daß sie ihn aus ihrer Obhut entließe. Aber er hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Die alte Dame war in den letzten Monaten etwas vergeßlich geworden, ganz zu schweigen von ihrer Kurzsichtigkeit. Sie lebte meist in der Vergangenheit und nannte mich regelmäßig Jim, während sie ihn kaum wahrnahm. Als er ihr nach vielem Zaudern und Zagen sagte, daß er nach London ginge, faltete sie die Hände über der Pistole im Schoß und bat ihn, wiederzukommen und beim nächsten Mal länger zu bleiben. Am nächsten Tag brach er auf. Der Squire lieh ihm Daniel und die Kutsche, so daß er nach Bristol gelangen und dort die Expreßkutsche nach London nehmen konnte. Postkutschen gelangten niemals bis in unseren Teil der Welt. Nicht, daß ich darüber traurig war, abgesehen von dem Verlust fürs Geschäft. Ich zog meine Ungestörtheit vor. Der kleine Tom Carter schien in der Nachbarschaft wohlgelitten zu sein, und niemand stellte Fragen. So blieb ich mit der Verantwortung für das Gasthaus zurück, die ich ja ohnehin hatte, das machte also keinen Unterschied. So saß ich am Abend meist mit der alten Dame zusammen oder trank einen Schluck mit dem Doktor, wenn er seine Pfeife rauchte, und das war sehr angenehm. Niemand erwähnte die Vergangenheit, die Gegenwart war gut genug.
Doch eines Morgens hörte ich eine Kutsche in den Hof rattern, und ich sah durchs Fenster, daß es ein offener Wagen mit drei Herren war, einem großen, einem kleinen und einem breiten oder dicken, könnte man sagen. Der Große und der Kleine stiegen aus und vertraten sich die Beine, während der Dicke blieb, wo er war. Vielleicht waren sie auf der Durchreise, weiß Gott wohin. Ich stellte eine Flasche und drei Gläser auf ein Tablett, strich meine Schürze glatt und ging hinaus, um sie zu begrüßen.
Kaum hatte ich die ersten beiden Schritte auf meine Kunden zu getan, als ich plötzlich von hinten gepackt wurde, und Tablett, Flasche und alles herumflog.
„Was zum...?“ schrie ich. Mein Angreifer schwang mich herum, und ich glotzte wahrhaftig die beiden Prämienjäger an, denen ich im letzten Sommer entwischt war. Sie mußten mir hinter der Gasthaustür aufgelauert haben.
„Der kleine Tom Carter, soviel ist sicher“, sagten sie und grinsten dreckig übers ganze Gesicht. Als ich mit meinen Häschern rang, kamen zwei der Männer von der Kutsche herüber. Der Größere, der in der offenen nördlichen Art und mit sehr ernster Miene sprach, sagte:
„Nicht so wild, Sir, laßt den Jungen los. Was hat er Euch getan?“
„Uns getan, Sir?“ sagten sie. „Nun, er ist ein fortgelaufener Lehrling. Er muß zu seinem Meister zurückkehren.“
„Die Vernunft legt nahe, daß Arbeitsverhältnisse frei sein müssen. Solche Formen von Leibeigenschaft legen die Industrie des Landes in Ketten“, sagte der große Mann besonnen.
„Ihr mögt recht haben“, sagte der eine Schurke, „aber wir kennen das Gesetz.“
„Tatsächlich?“ sagte der kleinere Herr und tat seine Meinung kund. „Ich spreche Euch das Recht ab, diese Person zu ergreifen, ohne daß ein positiver Beweis von einem stattgefundenen Vergehen vorliegt. Wenn gegen das Habeas-Corpus-Gesetz in den letzten Jahren auch häufig schwer verstoßen worden ist, so wird es auf diesen Inseln trotzdem noch heilig gehalten.“
Der Mann, der mich beim Hemdkragen hielt, antwortete: „Das Habeas-Corpus-Gesetz mag sein, wie es will, Sir. Aber wir sind es, die den Körper tatsächlich haben, und der Besitz macht neun Zehntel des Gesetzes aus, wie ich gehört habe.“
Damit dirigierten mich die Prämienjäger an meinen Möchtegern-Helfern vorbei und führten mich hinter der Kutsche entlang und auf die Straße zu, als der dicke Mann, der ein liebenswürdiges breites Gesicht hatte, rot wie die untergehende Sonne, laut und deutlich sagte: „Kommt näher, meine Freunde. Laßt mich Euch einen Vorschlag unterbreiten.“
Bei dem magischen Wort drehten sie sich um und gingen auf die Kutsche zu, ohne mich loszulassen.
„Mein Vorschlag, Freunde, ist, daß Geld sowohl Gesetz als auch Sitte als auch natürliche Gerechtigkeit außer Kraft setzt und Gesetz und Begründung in sich selbst trägt. Stimmt Ihr zu?“
Wenn sie ihm auch nicht bis ins Detail zu folgen vermochten, so verstanden sie doch, worauf er hinauswollte und nickten.
Ich gebe Euch fünf Guineen, wenn Ihr den Jungen loslaßt und Eurer Wege geht. Ich schätze, das ist mehr als Ihr bekommen würdet, wenn Ihr ihn aushändigt.“
Sie sahen einander an, dann trat der eine vor. Der Dicke händigte ihm einen kleinen Geldbeutel aus, und er ging zurück. Dann sagte der andere, der mich noch festhielt: „Ich nehme doch an, fünf Guineen jeder, Sir.“
Der Dicke musterte ihn liebenswürdig und antwortete dann: „Ich bitte Euch, laßt den Jungen los und tretet näher.“
Das tat dieser, und ich stellte mich hübsch auf die andere Seite der Kutsche. Jetzt trat der Prämienjäger mit ausgestreckter Hand auf die Kutsche zu. Schnell wie der Blitz zog der Dicke da eine Pistole und hielt sie dem Schurken dicht unter die Nase. Seine Stimme, die einen schmelzenden, beinah rührseligen Klang hatte, wurde plötzlich härter.
„Ich kümmere mich nicht um Eure Rechnung, Sir. Preist Euch glücklich, daß ich nicht die ersten fünf Guineen zurückverlange. Anker gelichtet und ahoi!“
Bei diesem seemännischen Befehl schoben sie ab und rannten los. Der Dicke lächelte freundlich, steckte die Pistole ein und begann, langsam von der Kutsche herunter zu klettern. Ich trat vor, um ihm zu helfen, aber er winkte ab. Als er in den Hof trat, schien er ein wenig zu humpeln, aber er war energisch genug, wie ich ja gesehen hatte. Er war bestimmt ein beachtlicher Mann, obwohl sein Gesicht breit und unscheinbar war. Er hatte stechende, tief in den Höhlen liegende Augen und sah aus wie ein Geschäftsmann, wie ein Überseekaufmann.
Ich dankte ihm herzlich. Doch er schüttelte den Kopf.
„Nichts zu danken.“
„Mein Name ist Tom Carter, Sir, ich bin Mr. Hawkins Junge.“
Ein breites Lächeln erhellte das Gesicht des dicken Herrn.
„Und wie geht es meinem guten, guten Freund Hawkins, den ich nicht das Vergnügen hatte, diese vielen langen Jahre zu sehen?“
„Gut, Sir. Aber außer Hause. Er ist geschäftlich in London.“
„Aha, ein Geschäftsmann, wie?“
„Nein, Sir, ein Schauspieldichter.“
„Ein Schauspieldichter. Du lieber Himmel. Habt Ihr das gehört?“
Er sagte zu seinen Freunden: „Mr. Hawkins ein Schauspieldichter.“
Er wandte sich mir zu. „Master Carter, meine Name ist Argent. Kann ich Euch Tom nennen? Da Ihr Mr. Hawkins als Wirt vertretet, laßt uns ein Glas von jenem edlen Südwein trinken, das Euch diese Schufte aus der Hand geschlagen haben.“
„Die ist leider zerbrochen, Sir.“
„Gewiß, und ich werde für diese Flasche und eine weitere zahlen. Doch, doch, das möchte ich.“
Wir gingen hinein und machten es uns in der Gaststube gemütlich. Mrs. Hawkins hütete das Bett, sie hatte sich die letzten Tage nicht ganz wohl gefühlt, und so hatten wir den Platz für uns. „Also, Tom, dies“, sagte Mr. Argent und zeigte auf den Langen, „ist Mr. Somerscale, und er ist, wenn’s beliebt, ein Planer, oder wie manche es heute nennen, ein Erfinder. Er plant, ob Ihr es glaubt oder nicht, eine Kutsche mit Hilfe von Dampf, solchem Dampf wie er aus einem Kessel kommt, auf Schienen laufen zu lassen. Könnt Ihr so etwas für möglich halten?“
„Die Vernunft legt nahe“, sagte Somerscale, seinen Südwein schlürfend, „daß, wenn Dampf einen Kolben durch das Entstehen eines Vakuums hinabziehen kann, dann kann er ihn ebenfalls durch eigene Kraft hinaufschieben...“
„Das legt die Vernunft Euch nahe“, unterbrach der Dicke, „aber mir sagen dringende Gründe der Wirtschaftlichkeit, daß Ihr Euch darauf beschränkt, den Dampf zu zwingen, unsere Bergbaupumpen besser anzutreiben.“
Nachdem er Mr. Somerscale gebührend fertiggemacht hatte, wandte Mr. Argent sich dem Kleinen zu.
Dies ist Mr. Wilton, der, wie Ihr bemerkt habt, Anwalt ist und als solcher weiß, wann er sich friedlich verhält.“
Was Mr. Wilton tat, zufrieden, seinen Wein zu trinken und seine kleinen zusammengekniffenen Augen durch den Raum wandern zu lassen. Als er freilich später hinausging, wie ich dachte, um einen gewissen Ort aufzusuchen, fand ich ihn, wie er die Treppe beäugte, die zu Master Hawkins Zimmer führt. Er sagte nichts, sondern dankte mir, als ich ihn zur Rückseite des Hauses führte. Nun, wir verbrachten eine angenehme Stunde zusammen, bis die Leute anfingen hereinzukommen und bedient werden wollten. Als er sah, daß er kaum mehr mit mir reden können werde, nahm Mr. Argent Abschied, und seine beiden Assistenten folgten ihm wie Hunde an der Leine.
Am nächsten Tag kam er wieder, obwohl ich ihm gesagt hatte, daß Master Jim mehrere Tage fort sein werde. Diesmal aß er mit Mrs. H. und mir zusammen, bezahlte für alles und zahlte sehr anständig. Alles in allem fand ich seine Gesellschaft angenehm, und die Unterhaltung über große Taten, Verträge, Maschinen und Projekte, die sich zwischen ihm, dem Erfinder und dem Anwalt abspielte, war eine Quelle ständigen Verwunderns für mich. Es war eine Welt, die über die, die ich kannte, die Welt des Bauernhofes und der Werkstatt, hinausreichte, eine Welt, in der Geld und Macht ohne Grenzen schienen.
Zuerst fand ich die Namen seiner Begleiter verwirrend. Aber schließlich ordnete ich sie im Geist als Wensleydale und Stilton ein. Der Erfinder mit seinem kräftigen Körper und käsigem Gesicht ließ mich an Stiltonkäse denken, und der Anwalt mit seinem braunen, krustigen Gesicht erinnerte mich an das Wensley-Tal. Doch diese jungenhaften Vorstellungen behielt ich für mich. Sie kamen ein drittes Mal, am Abend, und standen im Haus herum. Es war ein Jammer, dachte ich, daß weder Dr. Livesey noch Ben Gunn da waren, denn die hätten das Trio ebenso bemerkenswert gefunden wie ich.
Das Seltsamste war jedoch, daß Master Hawkins am Tag nach ihrem letzten Besuch nach Hause kam, und als ich ihm von Mr. Argent erzählte, verneinte er, diesen Herrn überhaupt zu kennen. „Der Name sagt mir nichts!“
Ich schob das auf die Aufregung seiner Reise nach London, oder besser auf die Enttäuschung. Der große Mr. Garrick schien ihm gesagt zu haben, er hätte eine literarische Zukunft, aber in Prosa, nicht im Blankvers.
In der Nacht hörte ich ihn in seinem Schlafzimmer herumwühlen, als suchte er etwas. Und am nächsten Tag fragte er mich: „Tom, ich hatte etliche Papiere, ein ganzes Bündel. Nicht mein Stück. Hast du sie gesehen?“
„Nein, Mr. Hawkins“, sagte ich, was die Wahrheit war, so wie er die Frage gestellt hatte.
Er schüttelte den Kopf. „Nun, das ist erstaunlich. Ich hatte sie unter dem Bett aufbewahrt. Jetzt sind sie fort. Seltsam.“
Seltsam, in der Tat. Wie seltsam jedoch, sollten wir bald erfahren.