19.
Wein ohne Rosinen
„Setz dich, Tom. Zum Wohl, Kamerad.“
Ich probierte den Wein, er war gut. Auch die Suppe war nicht übel. Ich hatte Hunger. Die frische Luft hatte meinen Appetit angeregt. Mr. Argent aß nichts. Er redete stattdessen.
„Ich sehe, daß du ein Junge nach meinem Herzen bist, ich wäre stolz gewesen, so einen wie dich zum Sohn zu haben, obwohl ich, soviel ich weiß, keine Kinder habe, was schade ist.“
Soviel ich wußte, hätte er mein Vater sein können, denn der Herr ließ meine Mutter sitzen, gleich nachdem er sie im Bett gehabt hatte. Jeder, der herumlief, konnte mein Vater sein, und damit war ich genauso schlau wie zuvor. Ich aß meine Suppe, der Braten wurde hereingebracht, ein kleines bißchen zu rasch vielleicht, aber Mr. Argent mochte ja wenig Zeit haben.
„Du und ich müssen miteinander reden, die Sache klären und nach Bristoler Art regeln“, sagte Mr. A. Doch obwohl ich die Bri-stoler Art ein wenig kennengelernt hatte, wußte ich nicht ganz, was ich davon halten sollte.
„Vor allem, Kamerad, erinnerst du mich an Jim Hawkins in der Zeit, als wir beide auf der Hispaniola segelten. Verflixt, warum muß man alt werden, Tom? Schau mich an.“ Er zog die Perücke herunter. „Vollständig kahl.“
Gerade da kam der gute Wensleydale herein mit Mr. Argents künstlichem Bein in der Hand. Er nickte mir kaum zu, sprach aber mit aufgeregter Stimme zu Argent.
„Seht Ihr das, Mr. Argent?“
Er hielt das Bein hoch und bewegte es am Knie hin und her, so daß der Fuß vorschnellte und knapp des Meisters Kopf verfehlte.
,Das, Sir, ist ein Kugelgelenk, von mir entworfen und von einem Handwerker am Ort hergestellt. Keine Nachahmung, sondern eine Verbesserung der Natur, Sir. Das Prinzip ist ein Kugellager, massive Metallkugeln in der Art von Pistolenkugeln, die von Fett oder Wachs umgeben sind.“ Er bewegte das Bein wieder ruckweise, wobei er es von Mr. Argent entfernt hielt, so daß der Zeh eine Wasserkaraffe vom Tisch fegte.
„Sachgemäß auf die Bedürfnisse der Industrie angewandt, jawohl Sir, würde dieses Prinzip Antriebskraft umwandeln. Der Gebrauch der Vernunft macht es möglich, daß...“
Argent riß dem Erfinder das Bein aus der Hand und schleuderte es durch den Raum.
„Macht Euch aus dem Staub, Somerscale, ich bin heute abend nicht in der Stimmung für Eure Vernunft“, schnauzte er. Somerscale machte sich aus dem Staub, sah aber verärgert aus. Mir schien, daß Mr. Argent eines Tages bedauern könnte, wie er den Erfinder behandelte.
„Schau mich an, Tom, ein Wrack ohne Mast an einer windgeschützten Küste. Schau den Papagei an, Käptn Flint, der für England gesegelt ist, der Providence, Portobello und die Tortugas gesehen hat, der jedes Wort gelernt hat, höflich oder anstößig, das ein Seemann oder Glücksritter wissen könnte. Schau, in welchem Zustand er sich befindet.“
Bei diesen Worten öffnete der Papagei den Schnabel und kreischte:
„Zehn Prozent, zehn Prozent. Nimm’s an oder laß es bleiben.“ Argent schüttelte den Kopf. „Er hat sich zum Schlechten verändert. Nach all diesen Jahren als Geschäftsmann kann ich kein höfliches menschliches Wort außer zehn Prozent aus ihm herauskriegen. Ach, Tom, mein Junge, ich hab ein schlechtes Leben geführt.“
„Aber das ist Jahre her, daß Ihr die See verlassen habt, Mr. Argent.“
„Nein, Tom, seither, seither. Ich pflegte sie schnell und schmerzlos zu töten, ein Messer in den Bauch, ein Entermesser durch die Kehle. Heute lasse ich sie zu Tode bluten, und sie danken mir dafür.“
„Alle außer Ned Barker und seine Kameraden“, sagte ich.
Er grinste.
„Selbst Ned Barker frißt mir jetzt aus der Hand. Der Schatten des Galgens kühlt die hitzigste Stirn. Aber verdammt, darüber wollen wir doch nicht reden, oder? Tom, mein Junge. Wenn ich nur die Füße an Bord setzen könnte, würde ich mir wieder ein paar Leinen spannen und wie eine Grille herumhüpfen. Weg war’ ich und würde zur Schatzinsel segeln und diese Silberbarren heben. Ach verdammt, es ist nicht der Schatz, es ist die großartige, herrliche See.“
„Ihr tönt grad so wie Squire Trelawney.“
„Ja, das ist ein Gentleman. Leicht erregbar, doch eine britische Bulldogge durch und durch. Wenn er sich an etwas festbeißt, läßt er nicht mehr los. Ich wette, er wär’ fort zur Schatzinsel, wenn er könnte.“
„Ja, das war’ er“, antwortete ich, „wenn er das nötige Geld hätte. Und was hält Euch zurück, Sir?“
„Oho, du bist ein gewitzter Bengel, kleiner Tom, das bist du wahrhaftig. Nein, es ist nicht das Geld; das mich zurückhält. Es ist, nun ja, es ist die Karte.“
„Aber Mr. Argent, Ihr kennt die Insel doch wie Eure eigene Westentasche, mit Liegeplätzen und allem, sagt Mr. Hawkins.“
„Ja schon. Ja schon. Doch wo ist der verdammte Ort, kannst du mir das sagen? Ich kann ein Schiff ausrüsten und gen Westen segeln. Aber ich kann bis ans Ende der Welt segeln und nie dort an-legen. Es sind Breiten- und Längengrad, die mir fehlen, Tom, sonst nichts.“ Er beugte sich zu mir.
„Tom, mein Junge. Mach gemeinsame Sache mit mir. Ich weiß, daß du die Karte kriegen kannst, wenn du dir Mühe gibst.“
Er ahnte nicht, daß er fast ins Schwarze getroffen hätte.
Ich zuckte die Achseln. „Wenn ich Euch jetzt die Karte besorge, teilt Ihr später den Schatz mit mir. Wo ist da das Geschäft?“ Ich wurde kühner. „Seht, Mr. Argent, fünf Guineen Anzahlung und ein Shilling per Monat kaufen mich nicht mit Haut und Haar.“
„Shilling per Monat, Shilling per Monat, was soll der Quatsch?“
Er glotzte mich an. Von wem kam dieser verdammte Shilling denn dann? Jemand trieb ein Doppelspiel mit mir. Er sah gerissen aus.
„Ich kann dir etwas Besseres bieten. Deine Freiheit.“
„Was für eine Freiheit?“
Er schnippte mit den Fingern. Im Eingang erschienen zwei Männer. Ich stöhnte innerlich. Schon wieder die Prämienjäger.
„Die wurden also die ganze Zeit von Euch bezahlt?“
„Nein, Tom, mein Junge. Sie schlossen sich meiner kleinen Gruppe an, weil es sich für sie auszahlte. Und für dich wird es sich auch auszahlen. Ich teile nach Piratenart mit dir, Tom, nicht nach eurer verdammten Gentlemanart. Das bedeutet dreißigtausend Pfund — je nachdem“, fuhr er hastig fort, „welchen Preis Silber auf dem Markt erzielt. Du besorgst die Karte, ich bezahle diese Herren hier, und wir segeln nach Westen.“
„Das ist kein Handel“, protestierte ich.
„Nimm’s an oder laß es bleiben“, krächzte Käptn Flint und streckte seine federlosen Flügel aus. Ich schätzte die Entfernung zur Haustür aus den Augenwinkeln ein. Könnte ich sie vor den beiden Schurken am anderen Ende des Raumes erreichen? „Zum Wohl, Mr. Argent“,Isagte ich, hob mein Glas und kippte es in sein freundliches, lächelndes Gesicht. Als er spuckte, tauchte ich weg. Aber ich hatte Geschwindigkeit und Entfernung falsch eingeschätzt. Einen Meter vor der Tür spürte ich die vertraute Hand auf dem Kragen. Argent wischte sich das Gesicht ab. „Das nehm ich übel, Tom“, sagte er, und seine Stimme hatte einen eisigen Klang. Dieser Mann durchschnitt Kehlen, um sein Ziel zu erreichen. Ich ging zum Tisch zurück, doch die Hand blieb auf meinem Kragen.
„Nun Tom, laß uns nochmal beginnen. Wo ist die Karte?“
Bevor ich antworten konnte, ging die Haustür krachend auf. Im Eingang stand Master Jim mit den beiden Pistolen seiner Mutter in den Händen.
„Hierher, Tom, mach schnell!“ Das tat ich. Ich flitzte zur Tür, während die drei glotzten. Dann bewegte sich einer auf die Türe zu.
„Ich rate ab“, sagte Mr. Argent. Der Schurke blieb stehen. „Jim, mein Junge, kommt an Bord! Das ist hübsch von Euch, uns einen Besuch abzustatten!“
Master Jim sagte nichts, sondern drehte die eine Pistole um. Er nahm sie beim Lauf und warf sie auf den Tisch.
„Die Karte ist innen im Lauf, Silver. Sie gehört Euch, wenn Ihr Euch davonmacht und uns in Frieden laßt. Wenn nicht...“
„Nun, Jim, wenn nicht...?“
Master Hawkins zog die zweite Pistole.
„Dann bekommt Ihr das, was in diesem Lauf ist.“ Er wandte sich zu mir.
„Komm, Tom, mein Junge, laß uns nach Hause gehen.“