22.

Über die Planke

 

 

„Himmel Sakrament, er gibt nie auf!“ Neben mir an der Reling stand der gute Wensleydale, rieb sich den Schlaf aus den Augen und starrte auf Mr. Argent und seine Partner hinab.

„Mr. Somerscale, Sir“, sagte ich. „Daß Ihr ihm die Kugellager weggenommen habt, hat nichts geändert.“

Er sah ärgerlich aus, sagte aber: „Wart’s ab, mein Junge.“

Was ich tat. Es war auch alles, was man tun konnte, wenn es um Mr. Argent ging. Die beiden feindlichen Mächte, die eine an Bord, die andere an Land, waren für einen Augenblick still und schätzten einander ab.

Ich nahm an, daß Squire den Befehl: „Wehrt die Entermannschaft ab!“ geben würde. Doch Jem Morris verdarb die Großartigkeit der Situation, als er Daniel an der Reling erblickte und ihm mit dem Daumen das Zeichen gab: recht so!

„Eigner?“ rief der Squire. „Was soll das, zum Teufel?“

Er drehte sich zur Mannschaft und rief: „Ablegen!“ — „Anhalten!“ brüllte Mr. Argent, und sie ließen die Taue noch einmal sinken. Er hatte etwas an sich, das die Leute zwang zu tun, was er sagte. Mr. Wilton zog ein Papier unter dem Arm hervor und hielt es hoch.„Der Schoner Hispaniola, in Bristol registriert?“

„Das wißt Ihr verdammt gut.“

„Verantwortlich, Kapitän Abraham Gray?“

Käptn Gray beugte sich über die Reling. „Was wollt Ihr, Sir? Wir müssen jetzt ablegen, oder wir verpassen die Flut.“

„Gechartert von Mr. John Trelawney?“ Der Squire konnte es nicht mehr ertragen. „Was soll dieser ganze Blödsinn?“ fragte er und setzte den Fuß auf die Laufplanke.

„Euer Chartervertrag, Sir“, sagte der gute Stilton mit singender Stimme, den Satz von seinen Papieren ablesend, „enthält die Bedingung, Platz für den Eigner und seine Leute zu reservieren, wenn er eine Fahrt auf seinem eigenen Schiff wünscht.“

„Na und?“

„Eigner, John Argent.“

„Er“ — der Squire nahm den Fuß von der Laufplanke und stützte sich auf die Reling. „... das kann doch nicht sein. Davon hat Blandly mir nichts gesagt.“

Argent lächelte und kam langsam und steif auf die Laufplanke zu. „Mr. Blandly ist die Diskretion selbst.“

„Der Lump steht in geheimem Einverständnis mit Euch“, sagte der Squire.

Ich sah den Doktor, der die ganze Szene vom Vorderdeck beobachtete, ein Lächeln verbergen.

„Verdammt nochmal, Silver. Besorgt Euch selbst ein Schiff. Ihr habt die Karte.“ Der Squire hörte sich mehr betrübt als ärgerlich an.

Mr. Argent schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe über diese Karte nachgedacht. Ich erinnere mich, daß mir schon einmal, vor fünfzehn Jahren, ein Mann von Eurer Gruppe eine Karte gab, ein Mann, der sonst die Ehrlichkeit selbst war. Und sie war keinen roten Heller wert. Da hab ich gedacht, ich darf sie nicht nochmal denselben Streich spielen lassen, nicht in meinem Alter. Nun, ich fürchte, wir müssen ein bißchen zusammenrücken und Platz machen. Wir haben unseren eigenen Proviant mitgebracht, keine Sorge. Und als Gegenleistung werde ich mich an der Chartersumme beteiligen, nachdem wir die Silberbarren geteilt haben.“ Während er sprach, stieg er langsam die Laufplanke hoch, wobei sein künstliches Bein ihm einen Streich spielte. Er war auf halber Höhe, als er zu den Worten „Silberbarren“ kam, die auf Squire wie ein Streichholz am Zündloch einer Kanone wirkten. Er eilte die Planke hinab, um Mr. Argent entgegenzutreten und rief dabei: „Ablegen!“ Und sein plötzlicher Befehl bewirkte, daß die Männer die Taue fierten, was zusammen mit der Flut und dem Wind ausreichte, um das Schiff zu bewegen und zu drehen. Gerade als Squire und Mr. Argent Nase an Nase standen, neigte sich die Planke, und sie fielen, beinah Arm in Arm, in zwei Faden tiefes Wasser zwischen Schiff und Mole hinab.

„Mann über Bord!“ rief Mr. Hall, der Maat, was genaugenommen nicht ganz stimmte. An Bord und an Land fingen Männer an, hin- und herzulaufen. Lady Alice schrie auf.

Wem ihr Schrei galt, weiß ich nicht. Aber sie wurde nicht ohnmächtig wie eine normale Dame, sondern krempelte die Röcke hoch und kletterte wie ein Matrose in den Wanten hoch, um nichts von dem Spaß zu verpassen, gerade als zwei große Wasserfontänen neben dem Schiff hochschossen. Daniel und Ned Barker waren schon ins Wasser gesprungen, der eine vom Schiff, der andere von der Mole, und jetzt tauchten sie zu viert auf und gingen wieder unter und wühlten den Schlamm auf.

Der Squire kam hoch, hatte eine Mütze von Schlamm auf dem nackten Kopf, spuckte Wasser und brüllte: „Ablegen!“ Er ging unter, und rauf kam Mr. Argent mit seinem Ruf: „Anhalten!“ Ned Barker schoß hoch und hielt Argents künstliches Bein in der Hand, das sich in dem Durcheinander gelöst hatte. Er schleuderte es voller Ekel fort und tauchte wieder unter. Daniel kam mit dem Squire in den Armen hoch, rettete ihn nicht nur, sondern hielt ihn auch davon ab, Mr. Argent zu erwürgen. Doch der Squire machte sich los, gerade als Ned Barker und Mr. Argent auftauchten. Jetzt hatten sie alle freie Bahn, Mr. Argent und Squire rangen miteinander, und Daniel und Ned Barker zerrten sie auseinander. Ich weiß nicht, wie lange es noch hätte weitergehen können, doch jetzt übernahm Kapitän Gray das Kommando, ließ ein Ladenetz hinab und fischte sie wie übergroße Makrelen auf. Er ließ sie mitsamt rinnendem Wasser und Seetang aufs Deck plumpsen — Mr. Argent hielt sein künstliches Bein in der Hand und Squire seine Perücke.

Keinen Augenblick zu früh beorderte Kapitän Gray sie alle unter Deck, ließ Wolldecken und Brandy bringen, gebot denen an Land sich zu beeilen und mit ihrem Kram an Bord zu kommen und gab Befehl, ohne Verzug abzulegen. Diesmal gab es keine weitere Verzögerung, und dank britischer Seemannskunst und Erfahrung erwischten wir noch die Flut und stachen fröhlich in See.

Ich ging hinunter für den Fall, daß ich gebraucht würde. Die Schwimmer hatten sich umgezogen. Squire und Argent waren in Wolldecken gehüllt und hatten eine halbe Flasche Brandy verputzt. Gute Laune war die Losung des Tages, ob ihr’s glaubt oder nicht.

„Wenn wir dort ankommen, John, ich kann Euch doch John nennen, ja“, sagte Mr. Argent, „werde ich mit Euch um die Wette zu den Silberbarren laufen.“

„Hmm. Ihr habt ein künstliches Bein.“

„Gewiß. Aber mein Mechaniker ist zu Euch übergelaufen.“

„Was hat mir der bisher schon genützt.“

„Ha, John, es braucht mehr als ein paar Kugellager, um mir altem Seebären Einhalt zu gebieten.“

Ich überließ sie ihrer Unterhaltung und ging an Deck. Bei gutem Wind war das Land bald außer Sicht, und der Schoner hob und senkte sich mit jener regelmäßigen Bewegung, die einem den Magen umdreht, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Es gibt nur ein Mittel gegen Seekrankheit, hatte der alte John, der Geselle, der in der Marine gedient hatte, mir gesagt, und das ist Beschäftigung.

Ich ging in die Kombüse hinunter. In der Eile des Aufbruchs war niemand zum Koch ernannt worden, und deshalb dachte ich, ich fang’ einfach an. Ich fand Molly Brindle dort unten, und wir kamen prächtig miteinander aus. Sie hatte eine seltene Begabung fürs Grobe, während meine starke Seite mehr die Feinheiten waren. Und wenn während der Reise — wenn das Schiff schlingerte und rollte und die Töpfe und Pfannen hierhin und dorthin rutschten — manchmal etwas verwechselt wurde und das beste Fleisch in die Mannschaftsräume und das Zeug von der Pferdeschlachterei in die Offiziersmesse geriet, dann ist das himmlische Gerechtigkeit, und eine gute Soße kann, wie die Franzosen wissen, eine Menge Sünden verstecken. Kurzum, Molly und ich kamen gut miteinander aus, und jedermann an Bord profitierte davon. Wir lebten uns ein und stellten uns auf eine lange Reise ein. Doch nicht ohne ein paar kleine Probleme. Am zweiten Tag auf See bemerkte Mr. Hall, daß ein paar Leute Waffen und Pulver nach Steuerbord umräumten.

„Halt“, sagte er. „Wer hat das angeordnet?“

„Befehl des Eigners“, kam die Antwort.

Am Nachmittag sah er sie Waffen und Pulver zurück nach Backbord räumen.

„Befehl des Mieters“, war die Losung.

Dann gab es Gerangel und Gedrängel um die Quartiere. Mit sieben zusätzlichen Leuten an Brod und drei Frauen in der Gesellschaft, jetzt mit Variationen von Rasse und Rang, ganz zu schweigen von der Religion, hätte es schon zu Zank und Schlägen kommen können. Doch Abraham Gray duldete das nicht. Er ließ Mr. Argent und den Squire in seine Kabine kommen und bat mich, etwas Wein raufzubringen. Dann rückte er ihnen höflich zu Leibe.

„Zwei Mannschaften, zwei Arbeitgeber. Meine Herren, das geht nicht. Vor allem nicht, wenn beide in den Sechzigern sind und sich wie Schuljungen aufführen.“

Er schlug auf den Tisch.

„Wenn das nicht aufhört, werde ich von meinem Recht als Kapitän Gebrauch machen, in den Hafen zurückkehren und Euch beide an Land setzen.“

Das kühlte die hitzigen Gemüter. Dann gab er seine Anweisungen in Bezug auf die Quartiere. Mannschaft Vorschiffs, Diener und angeheuerte Arbeitskräfte mittschiffs, der Rest achtern. Für die Frauen wurden Segeltuchwände aufgestellt, so daß sie sich ungestört fühlten. Wir ahnten nicht, als wie nützlich sich das später erweisen sollte.

Als das Umräumen beendet war, am vierten Tag auf See, hatten sich alle an das neue Leben gewöhnt — das Schiff an eine gleichmäßige Geschwindigkeit von sechs Knoten, die Mannschaft an ihre Arbeit und alle übrigen daran, ihren eigenen Angelegenheiten nachzugehen.

„Na, Tom“, sagte der Squire, „das haben wir schön hingekriegt.“

„Jawohl, Sir“, antwortete ich.

„Dann auf zur Schatzinsel“, sagte Squire. Doch Ben Gunn traf mich an Deck und murmelte, während er sich mit dem Finger an die Nase klopfte: „Nun, Tom, mein Junge, ich frag’ dich, wie viele sind wir an Bord? Und du sagst, frisch heraus, sechsundzwanzig. Und ich sag’ dir, das sind genausoviele, wie beim letztenmal auf der Hispaniola segelten. Und ich frag’ dich, wieviele kamen zurück? Wieviele kamen zurück, Tom?“

Und ohne auf eine Antwort zu warten, schlüpfte er davon.

Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
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