Ein ganz besonderer Wald
Die Schlagzeile war kaum zu übersehen: Wolf jagte Spaziergänger: „Er kam genau auf mich zu!“ In großen, fetten Lettern prangte sie von Tausenden von Kiosk-Wänden, Zeitungsregalen und Drehständern im ganzen Land. Selbst unter den Titelblättern der übrigen Boulevardzeitungen stach sie noch hervor, denn die durchdringenden Augen des Wolfes, dessen Bild man daneben platziert hatte, schienen einen grimmig anzustarren.
Sie verkaufte sich gut; für einen Tag, an dem es nicht viel zu berichten gab, sogar außergewöhnlich gut. Das einfache Rezept war wieder einmal aufgegangen.
Bald schon kannten unzählige Menschen die Geschichte von Paul H., 58, der auf seinem gestrigen Spaziergang durch den Wald etwas gesehen hatte, das ihn in Angst und Schrecken versetzte. Ein großer, schwarzer Wolf sei es gewesen, der da hinter einer Biegung aufgetaucht sei. Er habe ihn angestarrt und sei dann in ein Gebüsch am Wegrand gesprungen, sicherlich, um sich durch das Unterholz anzuschleichen. Als er sich von seinem Schrecken erholt habe, sei er deswegen auch sofort weggelaufen und ihm gerade noch einmal entkommen.
Ja, man habe einen Mann schreiend aus dem Wald rennen sehen, bestätigt ein anderer Spaziergänger, und ein älteres Ehepaar meint noch, etwas im Unterholz rascheln gehört zu haben.
Der örtliche Förster hält es durchaus für möglich, dass es ein Wolf gewesen sein könnte. Zwar sei der letzte hier schon vor über hundert Jahren geschossen worden, und viele Leute würden in ihrer Panik einen wildernden Hund mit einem Wolf verwechseln, aber man habe ja bereits in den Nachbarländern die Erfahrung gemacht, dass Wölfe sich nicht an Grenzen hielten. Und im Osten gebe es ja schließlich noch einige Wölfe. Vielleicht stamme das Tier aber auch wieder aus einem Zirkus oder irgendeiner privaten Haltung, so wie der Panther, den man erst vor Kurzem zur Strecke gebracht habe.
Ein kurzer Steckbrief über Wölfe rundete den zweigeteilten Artikel ab.
Man sprach darüber. In den Büros, den Cafés, auf der Straße oder im Plausch mit den Nachbarn. Ganz besonders in der Nähe des kleinen Waldes, in dem Paul H. spazieren zu gehen pflegte. Manche nahmen die Sache nicht sehr ernst, andere wiederum machten sich große Sorgen um ihre Kinder und verboten ihnen, draußen zu spielen. Die Jäger und Förster streiften vermehrt durch ihre Reviere, allzeit wachsam und schussbereit, und die Polizei hatte ihre liebe Not, die unzähligen verängstigten Anrufer zu beruhigen und die vielen Vorschläge und Hilfsangebote dankend abzulehnen. So manche Wolfsgeschichte machte ihre Runde, und in einigen Fällen schlössen sich kleine Gruppen mit Gewehren und Pistolen zusammen, um den Wolf zur Strecke zu bringen. Doch weder im Rundfunk noch im Fernsehen wurde darüber berichtet, und auch die seriösen Zeitungen brachten keine einzige Zeile zu dem Vorfall.
So ging der Freitag vorüber, und obwohl manche des Nachts in die Stille hinein lauschten, ob denn nicht das Heulen eines Wolfes zu hören wäre, deutete nichts darauf hin, dass hier nach über einem Jahrhundert wieder ein Wolf durch die Gegend streifen könnte.
Die Samstagsausgabe der Boulevardzeitung schwieg sich zum Thema Wolf aus, und auch die Sonntagsblätter wussten nichts darüber zu berichten.
Doch am frühen Montag schmückte wieder das Bild eines Wolfes eine Titelseite: Förster: „Ich sah den Wolf!“, lautete diesmal die Schlagzeile. Dem folgte, neben dem Bild eines stämmigen Mannes, der irgendwohin deutete, sowie einigen wenigen zusammenfassenden Zeilen, ein längerer Artikel auf der letzten Seite. Hans M., 41, von Beruf Förster, habe den Wolf gesehen, nicht weit von der Stelle, an dem Paul H. ihn entdeckt hatte. Es sei ein großes Tier mit dunklem Fell, wahrscheinlich ein Einzelgänger. Er sei direkt vor ihm über die Lichtung gelaufen, als er auf seinem Hochsitz Ausschau gehalten habe. Leider habe er nicht mehr schießen können und dann auch seine Spur verloren. Daran schlössen sich noch einige Aussagen von vermeintlichen Augenzeugen und verschiedenen Fachleuten an, ergänzt durch eine Reihe von Zitaten besorgter Anwohner. Das Spektrum reichte von „Ich traue mich schon gar nicht mehr aus dem Haus ...“ bis zu „Man sollte ihn sofort abschießen, bevor noch etwas passiert!“
Diesmal fanden sich auch in vielen anderen Blättern Artikel über den Wolf. Schlagzeilen wie: Die Wölfe sind wieder da! kontrastierten mit schlichten Überschriften wie: Wolf gesichtet!, Furcht einflößende Archivfotos mit nüchternen Hintergrundinformationen und ausgedehnte Artikel mit Kurzmeldungen. Am Abend konnte man dann im Fernsehen eine Reihe von Interviews sowie Bilder von den beiden Schauplätzen sehen. Auch die obligatorischen Aussagen der Anwohner und der besorgten Bürger fehlten nicht. In einer der Sendungen kam dann sogar jemand zu Wort, der die Anwesenheit des Wolfes ausdrücklich begrüßte. Einige Kanäle beschränkten sich aber lediglich auf eine Kurzmeldung in der Rubrik „Inland“ oder „Verschiedenes“.
Während der nächsten Tage wollten immer mehr Menschen den Wolf entdeckt haben. Die Berichte kamen von überall her, selbst Hunderte von Kilometern entfernt schwor ein Jogger, den schwarzen Wolf gesehen zu haben. Menschen mit Gewehren begaben sich ebenso auf die Suche wie solche mit Fotoapparaten, Ferngläsern, Videokameras oder der schlichten Hoffnung, einmal einen lebendigen Wolf in Freiheit zu sehen.
Mittlerweile war auch eine breite Diskussion in Gang gekommen, und man stritt sich öffentlich und privat, vehement und zurückhaltend, verängstigt oder erfreut um das Für und Wider von Wölfen in einer dicht besiedelten Gegend, die sich ihrer schon vor langer Zeit entledigt hatte. Man stellte verschiedene Theorien auf, woher er wohl gekommen sein konnte und wohin er gehen würde.
Es wurden Stimmen laut, die die Zusammenstellung einer Einsatztruppe aus Polizei, Jägern, Förstern und Experten forderten, um den Wolf unverzüglich zur Strecke zu bringen. Schließlich stellte er ja eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Andere wollten erfahrene Wolfsjäger aus dem Ausland einfliegen lassen. Manch einer machte Vorschläge, wie man den Wolf fangen oder betäuben könnte, um ihn an einen Zoo zu übergeben oder ins Ausland zu fliegen. Man verwies auf das Tier- und Artenschutzgesetz, zeigte sich besorgt wegen der Menschen in den betroffenen Gebieten, appellierte an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren, oder versuchte darzulegen, dass der Wolf keine blutgierige Bestie sei und keine Menschen angreifen würde. Einige wenige Stimmen brachten auch ihre Freude über die Rückkehr der Wölfe zum Ausdruck und forderten dazu auf, ihnen endlich ihren angestammten Platz in diesem Lebensraum wieder zuzugestehen.
Selbst ernannte wie tatsächliche Experten meldeten sich zu Wort, verschiedene Organisationen und Vereine, beunruhigte und verängstigte Bürger, Beamte und Behörden. Schafhirten und Bauern forderten Ersatz für Tiere, die der Wolf gerissen haben sollte, Anwohner beschwerten sich über die vielen Menschen, die durch den Wald trampelten, und so mancher herumstreunende, große, schwarze Hund hatte alle Mühe, einer Kugel oder Schrotladung zu entkommen, mit der jemand dem verhassten Wolf den Garaus bzw. sich selbst berühmt machen wollte.
Immer neue Artikel und Statements gingen durch die Medien – blutrünstige, sachliche, hoffnungsvolle, erstaunte, entsetzte, freudige und fragende. Während die meisten eindeutig gegen den Wolf Stellung bezogen oder seine Anwesenheit und Existenzberechtigung dort zumindest infrage stellten, gab es auch eine kleine Minderheit von Menschen, die der Diskussion mit Hoffnung und Bangen folgte und sich für den Wolf einsetzte. Forderungen wurden laut, man möge ihn doch in Ruhe lassen oder in einen der Nationalparks übersiedeln. Die Diskussion wogte hin und her, doch schien sich die öffentliche Meinung ganz allmählich von vielfältigen Klischees und scheinbar uralten Ängsten hin zu mehr Sachlichkeit und Akzeptanz zu verlagern.
Der Wolf hingegen blieb verschollen. Seine Spur verlor sich in einem diffusen Wust zweifelhafter Meldungen. Manche behaupteten, sie hätten ihn erlegt, konnten aber den Beweis dazu nicht antreten. Andernorts munkelte man, er wäre überfahren worden oder gar verhungert, und nicht wenige hofften, er möge wieder dorthin zurückgegangen sein, von wo er gekommen war.
Bald waren es die Medien müde, den vielen Anrufen und Hinweisen nachzugehen, und auch die Leser und Zuschauer wurden des Themas allmählich überdrüssig. Die Diskussionen schliefen ein, andere Nachrichten drängten sich in den Vordergrund und ließen den Wolf nach und nach in Vergessenheit geraten. Bald gaben es auch die letzten auf, ihm aufzulauern oder ihn herbeilocken zu wollen, und die Förster und Jäger gingen wieder zur Routine über.
Der Winter war hereingebrochen, und der erste Schnee sowie das damit verbundene Verkehrschaos sorgten für zahlreiche neue Schlagzeilen.
An einem klaren, kalten Abend – mehr als zwei Monate waren seit dem Tag vergangen, an dem Paul H. den Wolf entdeckt hatte – nutzte ein junges Paar die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu einem Spaziergang durch die weitläufigen Mischwälder, die ihr Heimatdorf umgaben. Ihre Schritte knirschten im Schnee, während sie Hand in Hand einem kleinen, verschlungenen Pfad folgten.
Plötzlich blieb die Frau stehen.
„Da! Sieh doch!“
Der Mann blickte in die Richtung, in die sie deutete. Auf einem Kamm, nicht einmal hundert Meter entfernt, zeichnete sich die Silhouette eines großen Wolfes gegen das Zwielicht des Abendhimmels ab. Er musste sie bemerkt haben, denn er rannte mit einer unbeschreiblichen Eleganz und Behändigkeit einen tief verschneiten Hang hinauf, der in den dichten Laubwald darüber führte. Kurz bevor er das schützende Unterholz erreichte, blieb er stehen, um sich noch einmal nach ihnen umzuschauen.
So, wie er dort stand und auf sie hinunter sah, bot er einen faszinierenden Anblick. Der Schnee, der sich entlang seines Rückens auf das dunkle Fell gelegt hatte, gab ihm den verwegenen Ausdruck eines Ausgestoßenen, der jedem Wind und Wetter trotzte und sich mit viel Geschick, Instinkt und weiser Voraussicht dem Zugriff seiner Verfolger immer wieder entzog. Er mochte vielleicht nicht wissen, dass eine Kugel schneller war als er, doch er schien zu spüren, dass er sich vor Menschen verborgen halten musste. Mit einem schnellen Sprung verschwand er im Gestrüpp.
„Viel Glück“, sagte die Frau leise, immer noch die Stelle betrachtend, an der sie ihn zuletzt gesehen hatte, „du wirst es brauchen ...“
„Und pass gut auf dich auf!“, fügte der Mann hinzu.
Sie sahen einander an und lächelten.
„Jetzt haben wir beide ein Geheimnis“, sagte die Frau. „Wirst du es hüten?“
„Wie meinen Augapfel“, antwortete der Mann. „Ich möchte ihn ebenso gerne wiedersehen wie du.“
Dann drehten sie sich um und gingen zurück
durch den Wald, von dem sie nun wussten, dass es ein ganz
besonderer Wald war – einer, in dem es wieder Wölfe gab
...
(Frank Simon; Wolf Magazin, Sommer
1993)