„Mutter, da ist ein Wolf in unserem Camp!“

Ich möchte die wahre Geschichte erzählen, wie ein einziger wilder Wolf unsere Herzen und Gedanken für immer verzauberte. Das Abenteuer geschah im August 1991 auf dem Petawawa-Fluss, im Algonquin-Park, Ontario, auf einem Familienausflug mit dem Kanu. Mein Schwager Jeff Cherry, der schon viele Sommer als Guide und Kanu-Camper auf diesem Fluss verbracht hatte, leitete unseren Ausflug. Meine Familie besteht aus mir, meinem Ehemann Dick und unseren drei Söhnen Graham (12), Eben (9) und Tim (7).

An diesem heißen Augusttag begannen die Erwachsenen gerade, das Camp herzurichten. Jeff und Tim waren dem Wasser am nächsten und sammelten Feuerholz, als Tim ein Tier auf der anderen Flussseite entdeckte. „Dort! Ein Wolf!“, rief er Jeff zu. Wir anderen bauten etwas weiter entfernt Zelte auf, aber wir konnten immer noch das Tier sehen. Dick, nach einem kurzen Blick, versuchte, seinen jüngsten Sohn zu korrigieren: „Das ist kein Wolf, Tim, das muss ein Hund sein.“ Da das Tier ein Halsband trug, schien dies eine logische Erklärung zu sein.

Jeff selber jedoch stimmte Tim zu, dass die Kreatur vermutlich ein Wolf war, aber dass wir dies nie genau wissen würden.

Dick erwog die Möglichkeit, dass wir tatsächlich einen Wolf gesehen hatten, nachdem Jeff erklärt hatte, dass es in unserem Gebiet Wölfe gab, die zur Beobachtung und zum Studium Radiohalsbändern hatten. Während immer noch leichte Zweifel über die Identität des Tieres bestanden, war dennoch die Vorstellung, mit unseren eigenen Augen einen Wolf gesehen zu haben, sehr aufregend für jeden von uns.

Etwa zwanzig Minuten später betrat das Tier von der anderen Seite des Flusses unser Camp und blieb in der Nähe eines unserer Zelte stehen. Es war ein Wolf! Wir alle standen sprachlos still und beobachteten ihn. Ich hielt gerade meine Kamera und knipste schnell nervös ein paar Fotos. Der Wolf schien über den Fluss zu schauen und war mit Sicherheit nicht über unsere Gegenwart beunruhigt. Nach ein paar Minuten drehte sich der Wolf um und verließ langsam das Camp, hielt erneut an, um über den Fluss zu schauen, schlenderte am Flussufer entlang und verschwand dann. Wir nahmen unsere Tätigkeiten wieder auf. Es lag eine unausgesprochene Dankbarkeit in der Luft, dass unsere Wolfssichtung bestätigt worden war, aber es schlich sich auch eine leichte Angst in unser Verhalten. In Wirklichkeit war es sogar ziemlich unheimlich. Dick und ich schauten zur Bestätigung zu Jeff. Er erinnerte uns daran, dass Wölfe keine Menschen angreifen, aber er widersprach auch nicht, als wir unsere Kinder aufforderten, sich von nun an in Sichtweite aufzuhalten. Graham verweigerten wir sogar einen Ausflug in den Wald, um „dem Ruf der Natur“ zu folgen. Wir erklärten dies so, dass, obwohl wir niemals zuvor einen Wolf gesehen hatten, dieser sich ein wenig zu seltsam zu verhalten schien.

Fünf Minuten später rief der zwölf Jahre alte Graham, der etwa sieben Meter hinter einem großen Zelt war, mit kontrollierter, aber beunruhigter Stimme: „Mom, der Wolf ist direkt neben mir!“

Im gleichen Moment sagte Eben, der an unserer Feuerstelle in der Nähe des Wassers war: „Dad, da auf der anderen Seite des Flusses steht ein Reh.“ Der Wolf war eindeutig dabei, ebenfalls das Reh zu beobachten. Er hielt nur kurz an (neben Graham) bevor er durch das Camp schoss, von Fels zu Fels und dann direkt in den Fluss sprang. Wir bemerkten die einzigartige Art des Wolfes zu laufen, die uns bestätigte, dass es sich nicht um einen Hund handelte. Der Wolf durchquerte den flachen Teil des Flusses und verschwand im Wald, aber nur für etwa eine Sekunde. In der Zwischenzeit hatten wir uns am Ufer versammelt, circa dreißig Meter von dem Drama entfernt, das wir beobachten würden.

Plötzlich kehrte dort, wo der Wolf den Wald betreten hatte, das Reh zurück mit dem Wolf, der sich an seinem Schwanz festhielt. Es sprang sofort in den Fluss. Der Kopf des Wolfes tauchte ins Wasser, sodass er gezwungen war, loszulassen. Das Reh schwamm weiter flussaufwärts, und der Wolf paddelte hinterher. Nach etwa zehn Metern schien der Wolf aufzugeben und schwamm auf die entfernte Seite des Flusses, erklomm einen Felsen und beobachtete, wie das Tier flussaufwärts auf die andere Seite des Flusses zu schwamm, nur einige wenige Meter von uns entfernt.

Das Tier stand still im Wasser und schaute für einige Sekunden nach dem Wolf zurück. Wir dachten alle, dass es um sein Leben rennen sollte. Die Jungs glaubten in diesem Augenblick sogar, dass das Reh noch entkommen könnte. Aber Jeff sagte: „Passt auf!“

Dann sprang der Wolf in den Fluss und schwamm herüber. Das Reh begann nicht eher fortzulaufen, als der Wolf fast aus dem Wasser kam. In einem flachen, felsigen Teich neben dem Fluss machte der Wolf einen kurzen Sprint. In Sekundenschnelle sprang er auf den Nacken des Tieres und riss es hinter einem Felsen nieder. Obwohl der Wolf weiterhin den Nacken des Tieres schüttelte, schien es sehr schnell zu sterben, denn es gab fast keine Anzeichen eines Kampfes.

In dem Augenblick, als der Wolf das Reh tötete, waren beide nur wenige Meter von uns entfernt. Ich hatte meine Kamera Dick gegeben, der den Tieren näher gefolgt und schließlich für bessere Sicht auf einen Baum geklettert war. Jeff und ich blieben bei den Jungs und kümmerten uns um ihre reichlich verwirrten Gefühle. Dick kam nach ungefähr zwanzig Minuten vom Baum herunter. Wir beobachteten weiter die Szene und schätzten, dass der Wolf etwa fünfundvierzig Minuten bei dem Reh blieb und sich seinen Weg durch das Tier fraß. Der Wolf hob ab und zu seinen Kopf und schaute nach uns, während er jedoch weiter fraß.

Später erwähnte Jeff, dass er gehofft habe, dass wir während dieses Ausflugs das Heulen der Wölfe hören würden, aber er gestand, dass er daran gezweifelt habe. Und er hatte recht, auf diesem Trip haben wir kein Heulen gehört, aber ich glaube, wir waren uns alle einig darüber, dass unsere Begegnung mit diesem einsamen Wolf ein einmaliges Erlebnis war, das wir niemals vergessen würden.

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Dr. David Mech bestätigte, dass Wolf-Reh-Interaktionen wie diese üblich sind. Der einzig ungewöhnliche Aspekt war, dass das Geschehen von Menschen beobachtet wurde. Es ist nicht ungewöhnlich für einen einzelnen Wolf, ein Reh zu töten (oder sogar einen Elch und andere Beute). Wenn Wölfe eine Beute angreifen, sind sie sogar manchmal so auf diese Aufgabe konzentriert, dass sie mögliche Gefahren, wie Hufe oder Hörner ihrer Beute, steile Klippen oder sogar Menschen, ignorieren.
(Patty Pingree; International Wolf, Winter 1995; Wolf Magazin 2/96)