Der Wolf am Fenster
Klopf - klopf - klopf! Ein lautes und beständiges Klopfen schreckte uns aus dem Schlaf. Wer kam mitten in der Nacht in unsere verschneite Blockhütte in die Wildnis der Northwoods? Gary griff sich die Taschenlampe und eilte in die Küche. Als er feststellte, dass das Geräusch von der Veranda kam, richtete er den Lichtstrahl auf das bis zum Boden reichende Fenster im Wohnzimmer. Als ich ihn sah, stand er wie festgefroren.
„Mein Gott, Ellen, es ist der Wolf!"
Sprachlos schauten wir auf das Gesicht, das gegen das Glas gepresst war, auf die feurigen, gelben Augen und die breite Halskrause eines erwachsenen Timberwolfes. Dieser Wolf war uns nicht fremd. Ich hatte ihn zum ersten Mal eine Woche zuvor gesehen, zusammengerollt neben einem Rehkadaver auf einer Lichtung am Fuße unseres Berges.
Während der kältesten Wintermonate versorgte uns das Minnesota Department of Natural Ressources mit überfahrenem Rehwild, um dies als Wildfutter zu nutzen. Wir ziehen die Kadaver mit Schlitten zu einer Lichtung, etwa 200 Meter entfernt und mit vollem Blick auf unser Haus. Es ist ein Ort, wo die wilden Tiere Nahrung finden und sich sicher fühlen können, eine Meile von der Straße entfernt und vom Superior National Forest umgeben.
Den ganzen Winter über ernähren sich hier Vögel, Füchse, Marder und Wiesel. Wölfe halten selten an, und wir sind glücklich, wenn wir sie heulen hören oder ihre Spuren finden. Obwohl dieser Teil des Staates ihre Hochburg im ganzen Land ist, sieht man sie sogar hier nicht oft. Ihre Zahlen verteilen sich spärlich über Tausende von Quadratkilometern Land. Ihre Scheu bedeutet, dass ein Blick auf einen Timberwolf sehr selten und die Gelegenheit, einen zu beobachten, ein besonderer Leckerbissen ist.
Als ich zum ersten Mal den Wolf am Rehkadaver sah, beobachtete ich ihn aufgeregt vom Wohnzimmerfenster aus und schrieb in mein Tagebuch, als er aus seinem Schlaf erwachte, seine Pfoten leckte, aufstand und sich ausstreckte:
8. Dezember
„Der Wolf ist endlich aufgestanden, und ich kann sehen, dass er ziemlich dunkel ist, sein Haupthaar grau mit schwarzen Spitzen, mit hellen Augenbrauen und Wangen und rötlichem Fell hinter den Ohren. Seine lohfarbenen Beine scheinen spindeldürr über diesen großen Pfoten. Und er hat ein Radiohalsband an. Ich wusste nicht, dass in diesem Teil des Waldes irgendjemand Wölfe studiert.
Ein Wolf verzaubert den Ort, an dem er sich befindet. Hier ist die gleiche bekannte Szene, die dunkle Kontur des Waldes, der auf den weißen Schnee der Lichtung trifft, die großen Fichten im Vordergrund und die vertikalen Linien der jungen Espen, die sich im Osten verdichten. Aber jetzt ist der Wolf da, und es gibt eine Konzentration von größter Wichtigkeit. Die eingefrorene Szene ist plötzlich mit Leben erfüllt.“
Aber meine große Aufregung, ihn hier zu haben, wurde bald gedämpft. Ich schrieb:
„Dies ist ein verletzter Wolf. Er hält seine rechte Pfote hoch und humpelt. Ein paar Mal ist er im weichen Schnee auf dem Weg zwischen dem alten Kadaver am Wald und dem neuen Kadaver auf der Lichtung hingefallen. Sein Schwanz ist fest eingeklemmt, außer wenn er Raben jagt, dann hält er ihn leicht aufrecht.
Seine Bewegungen sind steif und unbeholfen. Er ist sehr dünn. Wenn er sich von mir weg dreht, sieht sein Körper schmaler aus als sein Kopf. Und er scheint von all dem nicht begeistert zu sein. Er ist schlapp, unentschlossen und unglücklich.
Als er zuerst aufwachte, betrieb er ein wenig Körperpflege, aber ansonsten blieb er liegen, entweder eng zusammengerollt, oder er beobachtete mit leicht zurückgestellten Ohren die Raben. Die Raben wurden mutiger, und er konnte es kaum aushalten, sie bei dem Rehkadaver zu sehen. Sie fielen aus den Bäumen auf das jeweilige Reh herunter, an dem er gerade nicht war, und er musste sich beeilen, um zu ihnen zu kommen und sie hoch zu scheuchen. Sie versammelten sich auf dem anderen Reh, und wieder musste er los.“
10. Dezember
„Der Wolf ist immer noch bei dem Reh. Falls er es jemals verlässt, muss das wohl in der Nacht sein. Er scheint schwächer und hat den älteren Kadaver schon den Raben überlassen. Nun ist seine einzige Möglichkeit, den jetzigen Kadaver zu verteidigen, sich auf ihn zu legen. Dennoch schleichen sich die Raben näher. Der Wolf, der sie mit dem Kopf auf den Pfoten beobachtet, kräuselt seine Lippen. Plötzlich schießen die Raben wieder mit aufgeregtem Geflatter auf. Der Wolf hat wohl geknurrt. Aber eine Minute später sind die Vögel wieder da.
Ich beobachte Gary, wie er den Schneeschuhpfad hinunter geht, außer Sicht, aber nicht außer Gehör. Als er den Fuß des Hügels erreicht, steht der Wolf auf und beobachtet ihn aufmerksam, die Ohren aufgerichtet. Aber einen Augenblick später entspannt er sich und legt sich wieder hin.“
12. Dezember
An diesem Morgen, dem fünften Tag, war es Zeit, ihm noch ein Reh zu bringen. Er scheint nicht mehr so viel Energie wie vorher zu haben. Aus der Art und Weise, wie er sich schüttelt und streckt, nehme ich an, dass er nicht mehr so viel Kraft hat. Die meiste Zeit verbringt er liegend und manchmal sieht es aus, als ob er hustet. Selbst wenn an dem alten Kadaver noch Fleisch übrig ist, ist dies sicher für ihn zu schwer zu erreichen.
Bis jetzt hatten wir immer noch versucht, außer Sicht zu bleiben, damit er sich bei dieser leichten Futterquelle wohlfühlt. Nun stand ich vor dem Haus, wo er mich sehen konnte, und hoffte, dass er sich irgendwie an uns gewöhnt hätte. Während der letzten Tage hatte er sicherlich schon einige Gerüche von uns aufgenommen und uns kurz gesehen. Aber nein, er stand sofort auf, eilte in den Wald und schaute über seine Schulter nach mir zurück. Ich legte das Reh hin und verschwand. Aber er kehrte nicht zurück.“
13. Dezember
Der Wolf ist wieder da. Er hat ein wenig gegessen, aber dann die meiste Zeit des Tages damit verbracht, zwischen den zwei Kadavern in der Mitte der Lichtung zu liegen. Er gibt sich keine Mühe mehr, die Raben wegzujagen. Sie sind überall auf den beiden Kadavern.“
Beim Sonnenuntergang desselben Tages war er verschwunden. Zehn Stunden später wurden wir mit seinem Gesicht konfrontiert, das sich gegen unsere Scheibe presste. Als wir dorthin starrten, zu erstaunt, um irgendetwas zu tun, sahen wir noch einmal die Nase des Wolfes hart gegen das Glas stoßen, bevor das Gesicht sich aus dem Lichtschein zurückzog. Wir hörten knirschende Schritte im Schnee an der Ecke des Hauses – dann Ruhe. War er fort? Wir kratzten ein Loch in das Eis vom Südfenster und fanden uns wieder mit dem Wolf Blicke austauschend. Das Dach von unserem hügelartigen Gewächshaus lehnt genau mit dem Südfenster an das Haus. Der Wolf war eine Schneewehe hinauf auf das Gewächshaus geklettert und saß nun an das Fenster gelehnt, während er über seine Schulter zurück nach uns schaute.
Nun begann hektische Aktivität: Wir sammelten Hühnerreste, Soße, Butter und heißes Wasser, schlüpften in unsere Parkas und eilten hinaus, um zu sehen, was der Wolf wollte. Gary warf das Huhn auf das Dach des Gewächshauses und schob die Schüssel mit den Soßenresten mit einem Schneeschieber auf ihn zu. Ich stand zur Rückendeckung mit der Taschenlampe hinter Gary. Wir glaubten nicht, dass ein normaler Wolf einen Menschen angreifen würde. Aber dieser Wolf tat etwas, wovon wir noch nie gehört hatten. Wir wussten nicht, was wir erwarten konnten. Der Wolf beobachtete nur. Er schaute wachsam zuerst auf uns, dann auf das Essen.
Nun neue Ungewissheit. War er vielleicht unterkühlt? Wollte er hereinkommen? Konnte er? Wie konnten wir ihn überhaupt hinein bekommen? Diesen Wolf, den wir die ganze Woche beobachtet und uns um ihn gesorgt hatten, konnten wir nicht einfach dort lassen. In dieser stillen, mondlosen Nacht betrug die Temperatur etwa 30 Grad Celsius unter Null. Sicherlich würde es helfen, ihn an einen wärmeren Ort zu bringen. Gary brachte eine Decke, ging langsam entlang der Kante des Gewächshauses hinter den Wolf und warf sie über den Rücken des Tieres. Der Wolf sprang auf und legte sich danach wieder. Wir dachten, wir könnten ihn vielleicht einfangen. Darum ging ich zum Stall, um den Ofen anzumachen. Ich glaubte, dass der Stall vielleicht der richtige Platz für ihn wäre. Gary holte die grüne Decke. Als ich zum Haus zurückging, kam Gary um die Ecke und trug ein in Decken gewickeltes Bündel. Er hatte die Decke über den Wolf geworfen und, als er keine Abwehrreaktion spürte, sie um das Tier gewickelt und ihn über das glatte Dach an die Kante gezogen. Er schaute noch einmal unter die Decke, um zu sehen, wo der Wolf war, und deckte ihn erneut zu. Dann hob er ihn auf seine Arme. Der Stall war vergessen. Ich öffnete die Tür, und Gary trug ihn hinein. Als ihn langsam seine Kräfte verließen, legte er den Wolf sacht auf den Wohnzimmerboden. Er nahm die Decke fort und ging zurück. Der Wolf schaute sich halb betäubt um. Fünfundzwanzig Minuten nach dem Klopfen am Fenster war er in unserem Haus.
Was nun? Zuerst mussten wir Tom holen. Er ist unser Freund und Nachbar, der einzige Nachbar innerhalb von zwölf Meilen, und wir wussten, dass er dabei sein wollte. Auf Schneeschuhen machte ich mich auf den eine halbe Meile langen Weg. Ich war froh über die Gelegenheit, die Ereignisse der Nacht zu überdenken. Im Sternenlicht war der Weg nur vage sichtbar. Die Kälte, die an meinen Lungen zerrte, ließ die Bäume knacken, das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Ein Meteor schoss über den Horizont, wo die dunkle Form von Toms Hütte schimmerte. Tom war durch meine Begrüßung ein wenig überrascht: „Eil dich! Da ist ein Wolf in unserem Haus.“ Und bevor ich eine Chance hatte, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, war er schon zum Abmarsch bereit.
In der Zwischenzeit traf Gary Vorbereitungen für den Fall, dass der Wolf aktiver werden würde. Er legte mehr Holz in den Ofen, teilte das Wohnzimmer so gut wie möglich ab und räumte zerbrechliche Sachen auf die Seite. Als Tom und ich ankamen, waren die kleinen Eisstücke, die das Fell des Wolfes bedeckt hatten, getaut. Wir beobachteten ihn, wie er sich aufsetzte, umherschaute und zu der schmalen Stelle zwischen Sofa und Ofen ging. Dort legte er sich hin, den Kopf und die Schultern gegen das Sofa gelehnt, uns zugewandt.
Wir drei saßen in der Küche und flüsterten. Wir wollten ihn so wenig wie möglich stören. Wir waren aufgeregt, ehrfürchtig und – zumindest ich – ein wenig besorgt. Was sollten wir tun? Es war 3:30 Uhr Samstagmorgen. Wir beschlossen, bis zum Morgengrauen zu warten.
Unsere kurzen Blicke in das Wohnzimmer wurden vom ständigen Blick aus diesen leuchtend goldenen Augen erwidert. Schließlich wurde die Gegenwart eines Wolfes im Wohnzimmer unwiderstehlich, und wir gingen hinein und setzten uns auf die Fensterbank, einfach nur, um ihm näher zu sein.
Still leisteten wir dem Tier, das für uns immer das Wesentliche der Wildnis repräsentiert hatte, Gesellschaft. Und wir rätselten über die Ereignisse, die dieses Geschöpf in unser Heim gebracht hatten. Sein Radiohalsband schlug eine Antwort vor. Vielleicht hatte er vorher schon Kontakt zu Menschen, mehr als ein einzelnes Treffen mit einem Wildbiologen.
Er machte sicherlich nicht den Eindruck, als ob unsere Gegenwart ihn aufregte. Zweimal stand Gary neben ihm, um mehr Holz in den Ofen zu legen, und der Wolf blieb weiterhin gegen das Sofa gelehnt. Wir wissen, dass Wölfe sehr soziale Tiere sind, die mit Gesichtsausdruck Gestik und Vokalisierung untereinander kommunizieren. Aber diese Wolf schaute sich nur um und schnupperte ein paar Mal interessiert an der Wasserschüssel und den Fleischbrocken. Immer wieder war er fremden, menschlichen Geräuschen gegenüber wachsam. Das Klappern der Pfannen, das brennende Feuer, unsere Gespräche. Wir fühlten uns hoffnungsvoll. Wir hatten wundervolle Fantasien von einem scheuen, aber freundlichen Wolf, der sich bei uns erholte, bis wir ihn wieder in die Wildnis zurückbringen konnten. Wir verbrachten lang Augenblicke damit, ihn einfach nur zu bewundern: die eindrucksvolle Breite seines schönen Kopfes, die üppigen Bündel seiner Gesichtskrause, die diese eindrucksvollen Augen umrahmten, das grauhaarige Fell in luxuriöser Dichte bis zur schwarzen Schwanzspitze. Bis jetzt hatte sich unser Hauptkontakt zu Wölfen darauf beschränkt, ihre Abdrücke entlang unseres Trails oder im Verlauf des Flusses zu sehen. Darum interessierte es uns besonders, die Pfoten des Wolfes von Nahem zu sehen. Zwischen langen, biegsam aussehenden Zehen wuchsen federartige Büschel aus rötlichem Fell. Und nun konnten wir auch sehen, dass er einen Teil seiner Vorderpfote verloren hatte. Hatte er deshalb nicht jagen können? Vielleicht war das sein Problem?
Aber langsam merkten wir, dass sein Atem, der am Anfang ein wenig schnaufend war, sich verschlimmerte. Nach etwa einer Stunde war daraus ein schreckliches, tiefes Gurgeln geworden.
Gary ging zurück zum Sofa und setzte sich darauf hin. Ganz langsam rutschte er näher, bis seine Hand neben dem Kopf des Wolfes war. Dann strich er über seinen Kopf und seine Ohren. Wir konnten keine Reaktion feststellen. Gary schob seinen Finger unter das Radiohalsband und dachte, dass es zu fest war für ein Tier, das Atemschwierigkeiten hatte. Als der Wolf schließlich mit einigen Mühen aufstand und wieder neben dem Ofen flach hinfiel, nahm Gary das Halsband mit der Kombizange ab. Während dies mit ihm geschah, knurrte der Wolf niemals. Er zog weder die Lefzen hoch, so wie er es bei den Raben getan hatte, noch reagierte er ängstlich.
In sein abgetragenes Radiohalsband war die Nummer 6530 und eine Anschrift des US Fisch & Wildlife Service eingraviert. Mithilfe des Halsbandes fanden wir heraus, dass es sich bei dem Tier um einen wirklich wilden Wolf handelte. Aber mehr noch, wir sollten einen faszinierenden Einblick in seine Geschichte bekommen.
Seit mehr als 30 Jahren studiert der Biologe L. Dave Mech Timberwölfe, zuerst auf der Isle Royale im Lake Superior und dann im nördlichen Minnesota. Eine Technik, die er und seine Mitarbeiter bei Wolfsstudien perfektioniert haben, ist Radiotelemetrie. Sie bringt wichtige Einblicke in alle Bereiche der Wolfsökologie, Informationen, die auf andere Art und Weise schwierig zu erhalten wären.
Schauen wir zurück auf Mechs Aufzeichnungen im Dezember 1973: Eine Wölfin läuft durch den Wald östlich der nördlichen Minnesota Iron Range. Sie ist über ein Jahr allein unterwegs und überquert dabei große bewaldete, felsige Seengebiete im Superior National Forest. Ihre Route umfasst etwa 2.400 Quadratmeilen.
Eine Begegnung mit der Falle eines Wildbiologen lässt sie mit einem Radiohalsband zurück, das ihren Standort den Forschern im Flugzeug preisgibt. Ihre Halsbandnummer ist 2473.
Dann trifft sie einen einsamen Wolf und gemeinsam besetzen sie ein Revier. Es reicht für ihre Bedürfnisse aus. Ungestört von anderen Wölfen bieten ihre vierzig Quadratkilometer ausreichend Futter für sie und ihre Jungen. In diesem wenig bevölkerten Gebiet geraten Menschen und Wölfe selten in Konflikt. Im Frühjahr bekommt sie ihren ersten Wurf Welpen. Die Forscher nennen sie das Perch-Lake-Rudel.
Vier Jahre später blüht und gedeiht die Wolfsfamilie. Wölfin 2473 hat eine Tochter, die die neue Leitwölfin der Familie wird. Ihr Partner ist ein Rüde, der hinzugekommen ist, nachdem ihr Vater während der Jagd- und Fallensaison 1974 verschwunden war. Bis 1985 werden diese Zwei die Leitwölfe bleiben. Sie sind auch die Eltern sämtlicher Nachkommen des Rudels, von denen viele von Forschern beobachtet werden.
Drei Welpen, die im Frühjahr 1982 geboren werden, bekommen Radiohalsbänder. So wie die meisten jungen Wölfe verlassen sie schließlich ihr Heimatrevier zu unterschiedlichen Zeiten und entlang verschiedener Routen. Wolf 6441 verlässt das Gebiet im Mai 1983, gerade ein Jahr alt. Acht Monate später wird er von einem Trapper in Ontario, einhundertfünfzehn Meilen nordöstlich, getötet. Wölfin 6443 verlässt ihr Territorium mit eineinhalb Jahren und lässt sich südöstlich vom Heimatgebiet nieder. Sie findet einen Partner, aber ihre Bemühungen, Junge großzuziehen, misslingen offensichtlich. Sie kehrt allein in ihr altes Revier zurück. Und sie bleibt auch hier größtenteils allein.
Ihr Bruder, Wolf 6530, der der Wolf an unserem Fenster werden sollte, bleibt bei seiner Familie, bis er etwa zwei Jahre alt ist. Dann beginnt er abzuwandern. Drei Monate lang erforscht er den Wald im Westen. Schließlich zieht er nach Nordosten, und im August ist er in der Nähe von Alice Lake, etwa fünfunddreißig Meilen von Zuhause entfernt. Die Forscher hoffen, dass er hier eine Partnerin findet und sein eigenes Revier gründet. Aber im Frühjahr 1985 kehrt er zum Perch-Lake-Rudel zurück. Er bleibt zwei Monate bei ihnen, über seinen dritten Geburtstag hinaus. Im Juni ist er zurück in seinem Alice-Lake-Jagdgebiet.
Im gleichen Monat – auf einem Kanutrip in der Boundary Waters Canoe Area – sind wir begeistert, frische Wolfsspuren und Kot auf einer Portage zu finden, von der wir später erfahren werden, dass sie nur drei Meilen von dem Punkt entfernt ist, den Forscher für Wolf 6530 aufgezeichnet haben. Schon früher hatten wir Wolfszeichen in dieser Gegend gesehen. Es ist möglich, dass sich Wolf 6530 in dem Territorium, das bereits von einem Rudel besetzt war, nicht willkommen gefühlt hat, und dass er darum seine Wanderschaft fortgesetzt hat. Die Biologen von der Luftüberwachung beobachteten ihn im August, zwölf weitere Meilen südwestlich und im September sehr dicht bei seinem Heimatgebiet.
Aber später in diesem Monat legt Wolf 6530 erneut die Entfernung zum Alice-Lake-Gebiet zurück, wo er sich auch im Oktober noch aufhält. Dann verliert sich sein Signal. Sein Aufenthalt bleibt unbekannt, bis er einen gefrorenen Rehkadaver an unserer Hütte findet, fünfundzwanzig Meilen südöstlich vom Perch-Lake-Rudel.
Der junge, weit gereiste Wolf 6530 lag auf dem Boden und war erschreckend krank. Sein Atem kam mit grollendem Schnaufen. Wieder stand er auf und lehnte sich – schmerzhaft – direkt an den Ofen. Der Geruch von versengtem Haar füllte den Raum, als Gary hineilte, um ihn fortzuziehen. Der Wolf stakste in die Mitte des Zimmers und brach dort zusammen. Dreimal streckte er sich mit heftigen Krämpfen auf dem Boden aus. Nach jedem schrecklichen, rasselnden Atemzug kam ein erschreckender Augenblick ohne Atem. Dann, krampfartig, ein gurgelndes Keuchen. Seine Lippen und Zungen wurden blau. Wir saßen dicht bei ihm und strengten uns mit ihm an, als er nach Atem rang.
Seine Pfoten berührten seine Schnauze. Er versuchte, aufzustehen, was ihm halb gelang. Er lag mit erhobenem Kopf und atmete leichter, aber dann kam eine neue krampfartige Welle. Wir klammerten uns an jeden langen Augenblick zwischen dem Ausatmen und dem keuchenden Einatmen. Aber dann streckte sich einer dieser Augenblicke zu lange hinaus, und Garys Berührung konnte ihn nicht mehr länger bewegen. Während wir neben seinem Kopf knieten, konnten wir sehen, wie sich seine Augen veränderten. Der Mittelpunkt verlor sich, und das Gelbe verschwand, als die Pupillen groß wurden. Wir konnten tief in sie hineinschauen und das Licht des Sonnenaufgangs in einem grünen Schimmer reflektieren sehen.
Wir saßen eine ganze Weile dort und trauerten, und wir schauten ihn uns näher an. Sein dickes Winterfell hatte das Ausmaß seiner Auszehrung versteckt. Unter ihm traten die Knochen hervor. Er wog fünfundfünfzig Pfund, hätte aber mindestens fünfundsiebzig Pfund wiegen müssen. An seiner Unterlippe war ein Riss, eine alte Wunde. Seine Pfoten waren geschmeidig, die Sohlen weich und schwammig unter ihrer schwieligen Oberfläche, und die Fellpolster zwischen seinen Zehen waren seidig. Die rechte Pfote des Wolfes hatte drei Zehen verloren. An der linken Pfote war eine Zehe verkrüppelt. Auch das waren alte Wunden, die schon in Mechs Unterlagen seit 1983 registriert waren. Mech glaubt, dass sie vermutlich entstanden waren, als der Wolf in einer Fuchsfalle geraten war, die Falle freigezogen und sie mit sich herumgeschleppt hatte, bis die Zehen abfaulten, ein Risiko für viele Wölfe Minnesotas während der Fallen-Saison.
Wir gingen hinaus, um zu sehen, was uns die Wolfsspuren über letzte Nacht sagen konnten. Wir fanden heraus, dass, obwohl er in den vorherigen Wochen überall durch die Wälder hinter der Lichtung gelaufen war und sieben Ruheplätze gefunden hatte, letzte Nacht das einzige Mal gewesen war, wo er zu unserem Haus kam. Er war bis an den Anfang unseres Schlittenweges gelaufen, den steilen, langen Hang hinaufgeklettert und dann dem Schneeschuhpfad um das Gebäude herum gefolgt.
Dort hatte er gestanden, sich dann umgedreht und war die Lichtung hinunter gelaufen. Später hatte er sich unter einem großen Fichtenbaum zusammengerollt, lange genug, um einen leichten Abdruck im Schnee zu hinterlassen. Dann war er erneut auf den Hügel geklettert, den ganzen Weg diesen steilen Hügel hinauf, mit kleinen Schritten, aber ohne sich hinzusetzen, bis er wieder hinter dem Haus war. Dort hatte er Zweige und Nadeln aus dem Fell geschüttelt, war auf die Terrasse getreten und hatte sich zwischen einer Bank und dem Haus hindurchgequetscht, wo heute noch ein Büschel wolliger Wolfshaare an einem verborgenen Nagel hing. Und dann war er am Fenster aufgetaucht, mit diesem uns verfolgenden Wolfsgesicht und diesem eindringlichen Klopfen.
Wir rätselten mehr denn je, was den Wolf zum Besuch bewogen hatte. Er hatte dabei so viel Energie verbraucht, dass nur noch wenig übrig geblieben sein musste. Wenn es eine zufällige, irrationale Tat gewesen sein sollte, dann wäre es logischer für ihn gewesen, in jede andere Richtung zu gehen, statt steil bergauf. Wir liefen in unseren Schneeschuhen zur Straße und fuhren in die Stadt, um Dave Mech anzurufen und einige Fragen zu stellen.
Mech wusste genau, worüber wir sprachen. Die Wanderungen von Wolf 6530 hatten ihn sehr interessiert, und diese Informationen über die letzte Reise des Wolfes und seinen Tod würden eine wertvolle Ergänzung seiner Unterlagen sein. Eine Autopsie ergab später, dass der Wolf an einer Lungenentzündung gestorben war, und Mech konnte so eine natürliche Todesursache feststellen, die bisher bei wilden Wölfen unbekannt war. Wolf 6530 musste auf irgendeine Art und Weise unter Stress gestanden haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er unterernährt. Beutetiere sind im Winter schwer zu reißen, besonders für einen einsamen Wolf, der zudem noch unter dem Schmerz einer alten Verletzung leidet.
Die Geschichte des Perch-Lake-Rudels faszinierte uns. Und sie half uns, mehr über Wolf 6530 zu erfahren. Wir hatten während dieser kurzen, intensiven Zeit ein tiefes Gefühl für ihn entwickelt. Durch seine Geschichte erfuhren wir mehr über ihn.
Mech konnte etwas über das große Geheimnis sagen, warum der Wolf zu unserem Haus gekommen war. So unglaublich es auch aussehe, sagte er, sei es nicht ungewöhnlich für hungernde, wilde Tiere, in die Nähe menschlicher Behausungen zu kommen. Wölfe, Waschbären, Luchse und Bären hätten sich alle schon vor ihrem Tod Menschen genähert. Dennoch passen diese Erklärungen nicht ganz auf unseren Fall. Das Haus ist zu weit von der Lichtung entfernt, als dass er hätte Wärme fühlten können. Und was das Essen anging, so war noch genug Fleisch am Rehkadaver übrig – sowie Aussicht auf mehr.
Wir werden niemals wissen, was ihn dazu
motiviert hat, zu uns zu kommen. Ich kann nur sagen, dass ich Wolf
6530 dankbar bin, dass er die letzten, verzweifelten Momente seines
Lebens mit uns geteilt hat. Das gab uns ein Gefühl der
Verbundenheit mit seiner Welt, das wir sonst niemals gehabt hätten.
Unsere Verpflichtung und Verantwortung, in Harmonie mit dieser Welt
zu leben, war gestärkt worden. Wir werden das lebendige Bild des
Wolfes am Fenster immer in uns tragen.
(Ellen Hawkins; International Wolf, Spring
93, Wolf Magazin Sommer 93)
Buchtipp:
Über die Arbeit der Forscher in Minnesota berichtet mein Buch:
„Wolfsküsse. Mein Leben
unter Wölfen“
Elli H. Radinger, Rütten & Loening, 2011
www.elli-radinger.de/html/wolfskuss.html