Was weißt du über sie?
Irgendetwas in dem wohldurchdachten Gebilde aus Metall, Keramik, Gummi und Kunststoff funktionierte nicht mehr so, wie es sollte. An irgendeiner Stelle der komplizierten Maschinerie lief etwas gründlich schief. Es war nicht zu überhören. Das seltsame, unheimliche Geräusch war plötzlich und ohne Vorwarnung aufgetreten.
„Oh nein!“, dachte sie. „Nicht jetzt! Und vor allem nicht ausgerechnet hier!“
Sie überflog die wenigen Überwachungsinstrumente, die das altmodische Armaturenbrett bot, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Alle Zeiger standen dort, wo sie während der letzten zweihundertdreißig Meilen auch gestanden hatten, und auch keine der eingestaubten Warnlampen war aus ihrem Dämmerschlaf erwacht. Und doch schien der Motor, der bisher klaglos seinen Dienst verrichtet hatte, nun einen Teil seiner nicht unerheblichen Kraft darauf zu verwenden, sich selbst zu zerstören. Das ständig lauter werdende Geräusch ließ daran kaum einen Zweifel. Man konnte es jetzt auch riechen.
„Halt durch! Wenigstens noch ein paar Meilen!“
Sie trat das Gaspedal ein wenig weiter durch, um die abfallende Motorleistung auszugleichen. Doch das Resultat war nur noch mehr Krach und Gestank. Einen kurzen Moment lang war das Kreischen gequälten Metalls zu hören, dann erschütterte ein dumpfer Schlag die gesamte Karosserie. Noch ehe sie sich von dem Schreck erholt hatte, begann der schwere Wagen sich über die blockierenden Vorderräder hinaus aus der Kurve zu schieben. Sie hatte keine Gelegenheit mehr zum Gegenlenken. Es hätte auch nichts genutzt. Unerbittlich verschwanden die letzten Meter des schneebedeckten Forstweges unter der dampfenden Motorhaube. Die Zeit schien sich zu dehnen, als der Wagen einen kleinen Schneewall durchbrach und sich dem steil abfallenden Hang dahinter zuneigte. Sie schaffte es gerade noch, einen Schrei des Entsetzens auszustoßen und die Arme vor dem Gesicht zu verschränken, bevor ein mächtiger Stamm die herabstürzende Masse angerosteten Blechs abrupt zum Stehen brachte.
Das Erste, was sie spürte, war schneidende Kälte. Und die Schmerzen. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf eine grotesk anmutende Komposition aus verbogenem Metall, Glassplittern, Schnee, Holz und Dampf, der irgendwo weiter vorn zischend aus den Überresten des Motors herausströmte.
Noch immer benommen versuchte sie sich zu erinnern, was eigentlich geschehen war.
Sie hatte ihren Vater besuchen wollen, der abseits jeglicher Zivilisation in einer Art Blockhütte wohnte. Vor fünf Monaten, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, hatte er sie mit dem Plan überrascht, der Großstadt den Rücken zu kehren und in irgendeinem abgelegenen Teil des Landes ein – wie er sagte – „natürliches“ Leben zu führen. Er hatte seinen Job gekündigt und war in den Norden gefahren, wo er ein kleines Stück Land gekauft und die Hütte gebaut hatte, in der er seither lebte. Allein, denn es war ihr nicht im Traum eingefallen, diesen Schwachsinn mitzumachen. Sie wollte auf den Komfort ihrer Apartmentwohnung ebenso wenig verzichten wie auf das Stadtleben.
Ihr liefen bereits bei dem Gedanken an diese unbarmherzige Wildnis Schauer über den Rücken. Und doch hatte sie sich einen Wagen gemietet, um ihn zu besuchen. Seine Briefe klangen in letzter Zeit so seltsam, so verändert. Sie machte sich ernsthafte Sorgen um ihn.
Sie hatte ihn überraschen wollen, um einmal nach dem Rechten zu sehen. Es war nicht schwierig gewesen, dem Plan zu folgen, den er ihr bereits vor einiger Zeit geschickt hatte. Sie hatte die Forststraße problemlos erreicht und auch die kleine Abzweigung in das Gebiet gefunden, das er zu seiner neuen Heimat erkoren hatte. Auf der Landkarte war es nur ein namenloses Stück Wald in den Bergen, weit ab von jeder menschlichen Siedlung. Doch er bezeichnete es in seinen Briefen als „einmalig“ und machte seltsame Andeutungen darüber, wie faszinierend es dort sei. Sie hatte bisher nicht die Zeit gefunden und auch nicht die rechte Lust aufgebracht, seine Einladung anzunehmen. Doch diese Veränderung im Wesen ihres Vaters beunruhigte sie. Nach seinem Plan führte ein lange nicht mehr benutzter Forstweg bis auf zwei Meilen an seine Hütte heran. Es waren nur noch rund zehn Meilen bis dorthin gewesen, als es passierte.
Jetzt erinnerte sie sich wieder an das Geräusch, den dumpfen Schlag und das grässliche Gefühl der Hilflosigkeit, während der Wagen von der Straße abkam und den Abhang hinunterstürzte. Sie blickte ihren Körper hinab und versuchte, Arme und Beine zu bewegen. Trotz der heftigen Schmerzen, die die eine oder andere Bewegung verursachte, schien nichts gebrochen zu sein. Ein paar kleine Schnittwunden, etliche Prellungen und ein verstauchter Knöchel – als Krankenschwester hatte sie einen Blick für so etwas. Die niedrige Geschwindigkeit, bedingt durch die Steigung der Straße und den Abfall der Motorleistung, sowie der Gurt hatten wohl das Schlimmste verhindert.
Noch immer dröhnte Dampf aus dem zerstörten Motorraum, und es roch nach Benzin. Sie musste hier raus. Sie hatte im Fernsehen gesehen, dass Autos nach einem Unfall oft explodierten!
Die Tür leistete ihrem Fluchtdrang Widerstand, gab aber nach, als sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen warf. Sie fiel in den Schnee und rutschte ein Stück den Hang hinunter. Es war lockerer Neuschnee von strahlendem Weiß, ganz anders als der schmutzig braune Schneematsch, der Bürgersteige in Rutschbahnen verwandelte. Sie richtete sich mühsam auf und versuchte, auf die Beine zu kommen. Der Schmerz, mit dem ihr linker Knöchel diesen Versuch quittierte, überzeugte sie jedoch rasch davon, dass es im Moment besser war, sitzen zu bleiben.
Für sie war diese Wildnis immer ein Gräuel gewesen – und nun saß sie mittendrin. Doch nicht nur das, es war auch noch empfindlich kalt. Sie hatte keinerlei besondere Vorbereitungen getroffen, als sie sich spontan zu diesem Besuch entschlossen hatte. Die wohlige Wärme des Wagens und die Sicherheit, die er vermittelte, hatten sie nicht eine Sekunde darüber nachdenken lassen, dass sie die ihr vertraute Umgebung der Stadt weit hinter sich gelassen hatte. Hier gab es keine Krankenwagen, keine Telefone und keine Hubschrauber. Es gab noch nicht einmal jemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Und der Wagen, allzeit bereites Fortbewegungsmittel und schützende Hülle zugleich, lag zerschmettert ein paar Meter über ihr. Es gab hier nur sie, dieses Wrack, den Wald, den Schnee, die Kälte und ...
Ein lang gezogenes Heulen unterbrach die Stille – ein klarer, traurig klingender Ton, den der Wind den Hang hinuntertrug.
Sie stutzte. Dieses Geräusch kam ihr bekannt vor. Sie hatte es schon öfters gehört, zuletzt vor ganz kurzer Zeit. Angestrengt lauschte sie in die Stille hinein.
Da war es wieder! Diesmal aus einer anderen Richtung, in einer leichten Variation und auch wesentlich näher, wie es schien. Noch ehe der Ton verklungen war, fiel es ihr siedend heiß ein: Es war einer dieser späten Horrorfilme gewesen, in den sie aus Versehen hineingeraten war. Wie war doch gleich der Titel gewesen? Ach ja: „Von Wölfen gehetzt.“
WÖLFE! Ja, es war das Heulen von Wölfen!
Panik stieg in ihr auf. Ein hastiger Blick in das Dämmerlicht des Waldes, der überstürzte Versuch, sich aufzurichten, und das verzweifelte Bemühen, wieder in den Wagen zu kommen, während ihr all jenes durch den Kopf schoss, was sie über Wölfe jemals gelesen, gehört oder im Fernsehen gesehen hatte.
Erst, als es ihr endlich gelungen war, die verzogene Tür wieder halbwegs zu schließen, fiel ihr auf, dass sie den Hang hinaufgelaufen und in das Auto gestiegen war, ohne sich irgendwelcher Schmerzen bewusst gewesen zu sein. Auch jetzt tat ihr Knöchel nicht weh, dafür bemerkte sie aber den Schweiß, der ihr Kältegefühl noch verstärkte.
WÖLFE! Sie suchte nach irgendeiner Waffe. Der kleine Feuerlöscher, der sich aus der Halterung gerissen hatte, fiel ihr ins Auge, und sie griff danach. Sie überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte. Aber weit und breit war kein Mensch zu sehen oder zu hören. Der Zustand der Straße hatte auch keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Reifenspuren die ersten seit langer Zeit waren und es wohl auch lange bleiben würden. Die einzigen Ohren, die sie hören würden, waren wohl die der Bestien.
Wieder erklang ein Heulen, noch näher diesmal und kürzer. Sie verstärkte ihren Griff um den Metallzylinder des Feuerlöschers und blickte nervös um sich. Der Wagen bot keinen Schutz mehr, jetzt, wo die Windschutzscheibe zerborsten war. Doch er war allemal besser, als dort draußen im Schnee zu sitzen oder auf einen Baum zu klettern. Letzteres würde sie sowieso nicht schaffen, und hier hatte sie wenigstens die Illusion der Geborgenheit.
Das Heulen hatte aufgehört. Sie wartete.
In der ersten Stunde lockerte sich ihr Griff um den Löscher mehr und mehr, bis sie ihn schließlich auf den Beifahrersitz legte, um ihre steif gefrorenen Finger zu wärmen. In der zweiten Stunde hatte sie die länger werdenden Schatten der Stämme für ein paar kurze Momente aus den Augen gelassen, um sich in die Decke zu hüllen, die auf der hinteren Sitzbank gelegen hatte. Frierend und von Angst gepeinigt hatte sie das Licht schwinden sehen, und genauso hatte sie auch den größten Teil der Nacht verbracht. Irgendwann musste sie einmal kurz eingeschlafen sein, denn ein Rudel Wölfe hetzte sie in einem nicht enden wollenden Albtraum durch tiefen Schnee, bis sie schließlich hinfiel und sie über ihr waren. Gierige, rote Augen und scharfe, weiße Zähne hatten sich ihr von allen Seiten knurrend genähert, und ein würgender Biss in ihre Kehle hatte ihre Schreie erstickt. Sie war schweißgebadet erwacht und hatte voller Panik nach dem Feuerlöscher gesucht ...
Als die ersten Sonnenstrahlen durch den Wald fluteten, stand ihr Entschluss fest. Sie musste versuchen, sich zu dem Blockhaus ihres Vaters durchzuschlagen. Alles andere käme einem Tod durch Verhungern oder Erfrieren gleich, denn niemand würde sie so schnell vermissen, und niemand würde sie gerade hier suchen. Auch ihr Vater nicht. Er wusste ja nicht einmal, dass sie ihn besuchen wollte.
Natürlich könnte sie sich auf die Straße schleppen und dort warten. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand innerhalb einer Woche oder gar eines Monats dort entlang fahren würde, erschien ihr nicht sehr hoch. Andererseits waren es zwanzig Meilen bis zur Abzweigung, und auch die größte Forststraße schien lange Zeit nicht mehr benutzt worden zu sein. Die letzten Reifenspuren waren bereits kurz hinter der Abfahrt nach links abgebogen und danach hatten nur noch ein paar Tiere ihre Abdrücke im Schnee hinterlassen.
Die Blockhütte erschien ihr als die einzige Chance. Entlang der Straße waren es zehn Meilen, dazu noch die zwei bis zur Hütte. Sie studierte die Karte ihres Vaters und schätzte die Entfernung auf dem direkten Weg. Die Kurve, die ihr zum Verhängnis geworden war, war eingezeichnet. Wenngleich sein Hang zu Details ihr oft auf den Wecker gefallen war – in diesem Fall war sie ihm dafür ausgesprochen dankbar. Während der Forstweg in mehreren Serpentinen nur langsam an Höhe gewann, reduzierte sich die Entfernung auf dem direkten Weg den Hang hoch auf vielleicht noch vier oder fünf Meilen. Das waren mit der U-Bahn oder dem Auto ein paar Minuten – aber mit einem verstauchten Knöchel in einem verschneiten, wolfsverseuchten Wald?
Sie versuchte die Panik zu unterdrücken, die ihr bei dem Gedanken an eine Begegnung mit den Wölfen hochstieg. Sie hatte in den vergangenen Stunden alles rekapituliert, was sie über Wölfe wusste – hauptsächlich aus Spielfilmen, Romanen und Märchen – oder was sie jemals über sie gehört hatte. Danach würden sie keine Probleme haben, sie aufzuspüren. Vielleicht wussten sie ja auch schon, dass sie hier war; vielleicht war ihre unfreiwillige Anwesenheit hier auch der Grund für das gestrige Heulen. Sie würden kommen, und sie würden sie finden – früher oder später. Und sie würde gegen sie keine Chance haben.
Sie musste es trotzdem versuchen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und öffnete vorsichtig die Tür. Nichts rührte sich, weder war ein Heulen zu hören, noch eine Bewegung zwischen den Stämmen zu entdecken. Ständig um sich blickend, machte sie sich an die Arbeit.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis der – zum Glück nicht verklemmte – Kofferraumdeckel geöffnet, ihre kleine Reisetasche herausgenommen und sie wieder ins Wageninnere zurückgekehrt war. Ihr Knöchel und ihre Furcht forderten ihren Tribut. Außerdem war der Werkzeugkasten, den sie im Kofferraum entdeckt und ebenfalls mitgenommen hatte, ausgesprochen schwer.
Weitere zwanzig Minuten vergingen, bis sie alles angezogen hatte, was in der Reisetasche an Ersatzkleidung war, und den Rest samt der Autodecke zu einer Bandage für ihren Knöchel, wärmenden Fußwickeln, einem Schal und einer Art Kapuze verarbeitet hatte. Sie betrachtete ihre vermummte Gestalt im Rückspiegel und rechnete sich gute Chancen aus, dass die Wölfe entweder vor Schreck die Flucht ergreifen oder sich totlachen würden.
Sie aß und trank das wenige, was noch von der letzten Rast übrig geblieben war, und durchstöberte den Werkzeugkasten nach etwas, das man als Waffe benutzen konnte. Der Feuerlöscher war zu schwer, um ihn den ganzen Weg mitzuschleppen. Sie fand einen langen Radschlüssel, den man durch einen Aufsatz noch verlängern konnte, sodass sich eine schwere Metallstange von etwa einem halben Meter ergab. Sie machte sich aber keine Illusionen darüber, dass man Reifen damit wesentlich besser zu Leibe rücken konnte als Wölfen.
Dann brach sie auf. Auf allen Vieren kriechend folgte sie der Schneise, die der Wagen gerissen hatte. Als sie die Straße erreichte, betrachtete sie nachdenklich ihre Reifenspuren, die plötzlich in kleine Furchen übergingen und schnurgerade die Kurve verließen. Dazwischen hatte Öl Teile des Schnees schwarz gefärbt.
Sie kroch den gegenüberliegenden Hang hoch, sorgsam darauf bedacht, nicht an Ästen hängen zu bleiben und nicht die Richtung zu verlieren. Zum Glück flachte sich der Hang mehr und mehr ab. Es war eine mühsame, schmerzvolle Plackerei, aber sie vergaß dabei vor lauter Anstrengung immer öfter, sich prüfend umzuschauen und in die Stille hineinzuhören.
Es mochte vielleicht eine Meile gewesen sein, die sie auf diese Weise hinter sich gebracht hatte, als sie seltsame Laute hörte. Panik überfiel sie, und sie griff hastig nach der Metallstange, während sie sich nach einem irgendwie gearteten Schutz umsah. Noch ehe sie Gelegenheit hatte, einen Baum zu erreichen oder gar zu erklettern, sah sie sie.
WÖLFE!
Sie bewegten sich den Hang hinab, langsam, fast schlendernd. Zuerst sah sie nur einen, groß und dunkel gefärbt, mit hellgelben Augen, die sie ansahen. Dann tauchte ein zweiter hinter einem Stamm auf, ein dritter, ein vierter … Sie wartete nicht auf das Erscheinen eines fünften, sondern lief los. Ja, sie lief. Der Schmerz war vergessen und die Richtung egal, irgendwie den Hang hinunter, nur Weg von den Wölfen. Sie stolperte und stürzte, glaubte die Wölfe schon über sich und schlug mit dem Radschlüssel wild um sich. Doch nichts passierte. Kein Knurren, kein Hecheln, kleine blutgierigen Augen, keine blitzenden Zähne.
Atemlos setzte sie sich auf. Sie war allein, von den Wölfen keine Spur. Sollte sie etwa schneller gerannt sein als die Wölfe? Die Metallstange fest umklammert, stieg sie auf einen nahen Baum und wartete auf ihren Angriff. Doch kein Wolf ließ sich blicken. Nur der Schmerz im Knöchel kehrte zurück.
Sie hatte beschlossen, die Nacht in dem Baum zu verbringen. Dazu trug nicht zuletzt der Umstand bei, dass der Wind ihr aus verschiedenen Richtungen wieder dieses unheimliche Heulen zutrug. Es glich einem melancholischen Gesang, einem Chor sich gegenseitig antwortender oder unterstützender Stimmen, die klar und hell durch die Nacht riefen, in fallender Tonlage und sanft ausklingend. Es waren endlose, schlaflose Stunden, doch auch diesmal entkam sie einem Albtraum nicht. Als sie aus ihrem unruhigen Schlaf mit weit aufgerissenen Augen aufwachte, wäre sie fast vom Baum gefallen.
Oh, was war sie wütend auf diese Bestien! Irgendwo hatte sie gelesen, dass einige Wölfe wieder in den Nationalparks aufgetaucht seien. Und dass es sogar Menschen gab, die dies befürworteten und unterstützten. Die sollten jetzt eigentlich an ihrer Stelle hier sitzen! Es hatte schon seine guten Gründe, dass der Wolf fast überall vom Menschen vertrieben oder ausgerottet worden war. Sie hatte schon zwei bewaffnete Banküberfälle überlebt und war einer dieser fast alltäglichen Straßenschießereien nur mit knapper Not entkommen. Aber was war das alles schon gegen dies hier!
Die Wölfe tauchten nicht wieder auf. Dafür wurde es noch kälter, und dunkle Wolken zogen auf. Als ein leichter Schneefall einsetzte, entschloss sie sich, weiterzulaufen. Lieber nahm sie es mit den Wölfen auf, als dass sie hier erfror.
Sie wusste nicht mehr genau, wo sie war. Auch hatte sie wohl fast die Hälfte des bereits zurückgelegten Weges auf der Flucht vor den Wölfen wieder verloren. Doch trotz des dumpfen Schmerzes in ihrem Knöchel kam sie gut voran. Das Gelände wurde flacher und felsiger. Einzelne Felsvorsprünge erhoben sich weit über den Boden, und die Vegetation wurde spärlicher. Die Wölfe blieben verschwunden, und auch ihr Heulen war nicht mehr zu hören.
Es konnte nicht mehr allzu weit sein. Ihre Kräfte ließen nach, doch die vermeintliche Nähe der Blockhütte gab ihr neuen Mut. Sie überlegte, ob sie rufen oder schreien sollte, um ihren Vater auf sich aufmerksam zu machen, der ja irgendwo in der Nähe sein konnte, vermied es aber dann in Hinblick auf die Wölfe.
Schließlich erreichte sie einen Einschnitt im Felsen, der nach zwei Seiten offen und zu den verbliebenen Seiten hin durch hohe Vorsprünge abgegrenzt war, die einen guten Ausblick auf die Umgebung boten. Es sah aus wie eine kleine Schlucht und war auch fast so unüberwindlich. Zum Glück verlief ihr Weg entlang der offenen Seiten. Sie hatte gerade die Mitte erreicht, als sie das unangenehme Gefühl befiel, beobachtet zu werden. Sie blieb stehen, wagte aber nicht, sich umzudrehen.
Ihr Ziel vor Augen, hatte sie die Wölfe in den letzten zwei Stunden erfolgreich verdrängt. Jetzt aber schlugen die Wogen der Angst wieder über ihr zusammen. Sie umklammerte die Metallstange und blickte sich um. Nichts – kein Wolf zu sehen. Und doch meinte sie fast spüren zu können, dass sie jemand beobachtete. Sollte etwa …
Sie blickte nach oben – direkt in die Augen eines großen Wolfes. Er stand auf dem Felsvorsprung und schaute sie mit leicht schief gelegtem Kopf an.
„Das war's dann wohl“, dachte sie, als sie sich der Situation bewusst wurde und die Panik etwas nachließ. Einige Sekunden lang starrten sie sich gegenseitig an, dann blickte der Wolf überraschend zur Seite. Ihre Erstarrung löste sich ein wenig, und sie hob den Radschlüssel an, um seinen Sprung damit irgendwie abzuwehren. Doch er sprang nicht. Stattdessen erschien ein weiterer Wolf neben ihm, der kurz auf sie hinunterschaute, bevor er sich dem ersten zuwandte. Auch von dem Felsvorsprung der anderen Seite blickten sie Augenpaare an, und drei weitere Wölfe tauchten auf dem Weg auf, den sie gekommen war.
„Jetzt fehlen nur noch welche auf …“ – bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, war ein hager aussehender Wolf hinter dem bizarr geformten Felsblock hervorgetreten, der den Ausgang der kleinen Schlucht stark verengte. Und dieser Wolf kam näher!
Sie suchte nach einem Ausweg, fand aber keinen. Alle Fluchtwege waren abgeschnitten, Schutz oder Zufluchtmöglichkeiten weit und breit nicht zu sehen. Alles in allem blieben ihr in jeder Richtung nur wenige Meter, bis sie entweder auf eine Felswand oder einen Wolf stoßen würde.
Einen Moment lang war sie bereit, der in ihr aufsteigenden Resignation nachzugeben. Doch dann gewann etwas die Oberhand, das sie aus Spielfilmen als den „Mut der Verzweiflung“ kannte. Der einsame Held völlig chancenlos gegen eine erdrückende Übermacht der Feinde. Sie stürzte auf den einzelnen Wolf zu, wobei sie aus Leibeskräften schrie und den Radschlüssel schwang. Hatte sie nun erwartet, dass die ganze Meute sich auf sie stürzen und sie zerfleischen würde, so geschah etwas sehr Merkwürdiges: Der Wolf, auf den sie einstürmte, schien ihr zunächst einen verdutzten, dann einen geradezu entsetzten Eindruck zu machen und wich in einem überhastet anmutenden Sprung ihrem Schlag mit dem Radschlüssel aus. Der Schwung des mächtigen Hiebes mit der langen Eisenstange brachte sie jedoch aus dem Gleichgewicht, sodass sie stolperte und fiel – fast auf den Wolf, der noch einmal heftige Anstrengungen unternahm, dem, was da auf ihn zustürzte, auszuweichen.
Als sie sich wieder aufrichtete, den Schraubenschlüssel schlagbereit erhoben, blickte sie in zwölf Augenpaare, die Verwunderung auszudrücken schienen – eines davon nicht einmal einen Meter entfernt. Ihr Schlag kam präzise und wuchtig, traf aber nicht, da der Wolf schnell einen Schritt zurück trat. Und ihre Rückhand machte lediglich eine der wenigen Pflanzen nieder, die hier noch wuchsen. Der Wolf war außer Reichweite.
Sie hielt inne. Einige der Wölfe waren näher gekommen, zwei hatten sogar den Felsvorsprung verlassen. Aber sie nährten sich seltsam zögernd, geradezu vorsichtig und misstrauisch – als ob sie nicht wüssten, was sie von ihr, die doch fraglos eine leichte Beute und sichere Mahlzeit darstellte, halten sollten. Sie war mehr als erstaunt. Perplex wäre das vielleicht richtige Wort. Ob es der Radschlüssel war, der sie in Schach hielt? Oder war das so etwas wie ein Ritual oder ein Einschüchterungsmanöver, das den Widerstand brechen sollte? Warum fielen sie nicht über sie her, wie sie es in Filmen gesehen hatte?
Der hagere Wolf nährte sich schnüffelnd und in sprungbereiter Haltung. Kaum dass er wieder in Reichweite war, holte sie erneut zum Schlag aus. Wieder wich der Wolf geschickt aus. Diesmal aber traf der Radschlüssel so heftig auf einen Stein, dass er ihr aus der Hand gerissen und ein gutes Stück weggeschleudert wurde. Sie sah ihm entsetzt nach.
Sofort waren einige der Wölfe zur Stelle, um ihn ausgiebig zu beriechen. Auch der Wolf direkt vor ihr kam wieder näher, misstrauisch jede Bewegung ihrer Hand verfolgend. Sie schrie und trat nach ihm, und er wich zurück. Das wiederholte sich etliche Male, bis sie einfach zu erschöpft war, um noch größere Gegenwehr zu leisten. Einige der Wölfe, die vorher den Schlüssel untersucht hatten, waren ebenfalls näher gekommen, während andere von den Felsen stiegen. Keuchend sah sie die drei Wölfe an, die jetzt so nahe standen, dass sie begannen, an ihren Schuhen zu schnüffeln. Sie schloss die Augen und wartete auf den ersten Biss.
Als sie sie zwei endlos lange Minuten später wieder öffnete, konnte sie den letzten der Wölfe gerade noch hinter einem Felsblock verschwinden sehen.
Sie saß da und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Von irgendwoher drängte sich ihr der Gedanke an einen Schutzengel, der sie bereits den Unfall überleben ließ, in ihr Bewusstsein. Oder war es ein Wunder, eine Vorsehung des Schicksals? Warum lebte sie eigentlich noch??!
Vorsichtig um sich blickend, kroch sie auf den Radschlüssel zu. Das Gefühl des kalten Metalls in ihrer Hand gab ihr wieder ein leichtes Gefühl der Sicherheit. Sie schienen vor dem Ding ja Respekt zu haben. Doch sie musste unbedingt aus dieser Falle raus, bevor die Wölfe wiederkamen.
Sie schlich sich langsam zum Ausgang der Schlucht. Kein Wolf zu sehen. Sie blickte sich noch einmal vorsichtig um, dann rannte sie ungeachtet der Schmerzen über die offene Fläche, die die Felsen von einem dichten Laubwald trennte. Mit dem Rücken an einen Stamm lehnend, hielt sie nach Verfolgern Ausschau. Doch es gab keine. Als sie dann auch noch einen frisch aussehenden Baumstumpf entdeckte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Kein Zweifel, hier war erst vor Kurzem ein Mensch am Werk gewesen, wahrscheinlich ihr Vater. Sie kramte die Karte heraus und suchte darauf den Wald. Tatsächlich, er war eingezeichnet. Die Blockhütte musste direkt dahinter liegen.
Aber wusste er denn nicht, dass es hier von Wölfen nur so wimmelte? Warum hatte er sie nicht gewarnt, als er sie eingeladen hatte? Oder waren die Wölfe vielleicht erst vor Kurzem hier aufgetaucht?
Sie überlegte kurz, ob sie weiterlaufen sollte. Doch die Erschöpfung und die hereinbrechende Dunkelheit hielten sie davon ab. Die Gefahr, sich jetzt noch zu verirren, war einfach zu groß. Zum Glück fand sie einen umgestürzten Baum, dessen Wurzeln zusammen mit der noch daran hängenden Erde eine Art Mulde formten, die nur nach einer Seite offen war. Noch eine Nacht auf einem Baum würde sie nicht überstehen, ganz zu schweigen davon, dass ihr die Kraft zum Klettern fehlte. Und so lutschte sie noch etwas Schnee gegen den nagenden Hunger, legte sich in die Mulde und fiel zum ersten Mal seit dem Unfall in einen tiefen Schlaf.
Das Geräusch schnell ein- und ausgeatmeter Luft ließ sie erwachen. Gegen den hellen Hintergrund des bereits angebrochenen Tages deutlich sichtbar reckte sich ihr etwas entgegen, was einer Hundenase ähnlich sah. Doch es war kein Hund, der da an ihr roch. Sie spürte den warmen Atem des Wolfes in ihrem Gesicht und wurde sich schlagartig bewusst, dass sie nicht mehr alleine war.
Reflexartig schnellte ihr Arm in die Höhe und ließ ihre Faust auf der Nase des Wolfes landen. Noch ehe dieser sich unter Schmerzenslauten zurückziehen konnte, hatte sie auch schon den bereitliegenden Radschlüssel ergriffen. Sich auf den Ellenbogen stützend, schlug sie damit nach dem zweiten Wolf, der ihr Knie berochen hatte und jetzt den Kopf hob. Diesmal traf sie. Der Wolf gab einen erstickten Laut von sich, sprang zur Seite und torkelte benommen zurück zu den andern, die nicht weit entfernt standen.
Es waren fünf. Doch zu ihrer Überraschung machten sie auch jetzt keinerlei Anstalten, sie anzugreifen. Irgendwie hatte sie wieder das Gefühl, lediglich neugierig und misstrauisch beobachtet zu werden. Irgendetwas stimmte hier nicht, warum griffen sie nicht an? Als sie sich aufrichtete und die Metallstange für den nächsten Schlag erhob, erkannte sie den großen Wolf von gestern wieder. Den, der sie von dem Felsvorsprung angesehen hatte. Doch mit seinem unsicheren, torkelnden Gang und der stark blutenden Kopfwunde sah er jetzt weitaus weniger gefährlich aus. Der erste Wolf gesellte sich zu ihm und begann, seine Wunde zu lecken. Sie sahen noch einmal auf sie zurück, wendeten sich dann ab und liefen langsam in die Richtung der Schlucht, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
Sie sah ihnen nach, froh, wieder überlebt zu haben. Doch irgendwo in ihrem Innern nagte der Zweifel über das, was aus unerklärlichen Gründen nicht passiert war. Und irgendwie beschlich sie ein merkwürdiges Befremden, das sie sich nicht erklären konnte. Mit ihren zusammengebissenen Zähnen und dem zum Schlag erhobenen Arm, dessen Hand fest den Radschlüssel umklammerte, kam sie sich … irgendwie … dumm vor.
Die Aussicht auf ein baldiges Ende dieses Horrortrips trieb sie schließlich weiter. Der Wald lichtete sich und ging in eine mit niedrigen Büschen bewachsene Fläche über, die sie schneller vorankommen ließ. Einmal glaubte sie sich wieder beobachtet. Doch so sehr sie sich auch umsah und lauschte, die Wölfe blieben verschwunden. Sollten sie nur kommen, sie würde es ihnen schon zeigen! Jetzt, wo sie ihnen mehrmals entkommen war, ohne einen Kratzer abbekommen zu haben, und sogar zwei von ihnen verletzt hatte, fühlte sie sich etwas sicherer.
Die aus Baumstämmen errichtete Hütte, die schließlich hinter einem Hügel auftauchte, sah einfach wunderbar aus. Es hätte auch eine windschiefe, zerfallene Ruine sein können – der Rauch, der aus dem kleinen Schornstein quoll, war der schönste Anblick, den sie sich im Moment vorstellen konnte.
Noch ehe sie die grob bearbeitete Tür erreicht hatte, schallte ihr auch schon ein freudig-verwundert-ängstliches „Yvonne!“ entgegen. Der Anblick ihres Vaters, der da auf sie zustürzte, war der schönste Anblick, war sogar noch weitaus schöner als der des Rauchs.
„Vater!“, rief sie mit erschöpfter, aber überglücklicher Stimme.
„Mein Gott, Yvonne, was machst du denn hier? Du siehst ja schlimm aus! Was ist passiert?“
„Später, Vater, spät…“
„Meine Güte! Komm erst mal rein und wärm dich! Warte, ich helfe dir!“
Sie stützte sich auf ihn, bemüht, ein wenig zu lächeln.
„Ich freu mich ja so, dass du hier bist!“
„Du glaubst gar nicht, wie ich mich erst freue …“
„Ich habe dir so viel zu erzählen und du doch sicher auch. Pass auf, die Tür. He, was schleppst du denn da für einen Schraubenschlüssel mit dir herum?“
„Später, bitte!“
„Okay, okay, stell dich hier neben den Ofen. Du musst erst mal aus den nassen Sachen raus.“
Irgendwo, nicht weit entfernt, heulte ein Wolf.
Sie erstarrte, entspannte sich aber sofort wieder. Jetzt war sie in Sicherheit, der Albtraum war vorbei. Sie musste ihm unbedingt erzählen, in welcher gefährlichen Gegend er hier lebte. Dass überall diese Bestien herumliefen, und dass sie sie fast getötet hätten. Dreimal hatten sie es ja versucht. Wieso hat er eigentlich kein Gewehr?, dachte sie, als sie ihren Blick über die kärgliche Einrichtung des Zimmers schweifen ließ. Wusste er doch nichts von ihnen?
Der Wolf heulte wieder, und diesmal stimmten andere mit ein.
„Ah, hörst du das? Hörst du, wie sie heulen? Wundervoll, nicht wahr? Es klingt ein wenig traurig, aber wunderschön. Ich muss dir meine Freunde unbedingt einmal vorstellen, wenn du wieder bei Kräften bist! Du als Stadtmensch hast doch bestimmt noch keinen richtigen Wolf gesehen. Kein Wunder, wo man sie praktisch überall ausgerottet hat. Doch hier, hier gibt es noch welche, und ich habe bereits eine Menge von ihnen lernen können. Übermorgen können wir ja einmal zu der kleinen Schlucht hinter dem Wald gehen, wo sie ihre Jungen aufziehen. Das musst du gesehen haben!“
Er wandte sich dem Ofen zu und legte ein paar Holzscheite nach.
„Du glaubst ja gar nicht, was man den Wölfen alles nachsagt. Jeder glaubt, er wüsste über sie Bescheid. Dass sie blutgierige Bestien sind, Menschen verfolgen und töten oder gar in Werwölfe verwandeln, ganze Herden im Blutrausch niedermachen oder Wildtiere ausrotten und was weiß ich noch alles. Welche Ignoranz! Neulich kam sogar einer mit einem Hubschrauber hier an und fragte, ob ich Wölfe gesehen hätte. Er würde mir hundert Dollar für jeden zahlen. Am liebsten hätte ich dem verdammten Kerl sein Gewehr um den Hals gewickelt!“
Das Feuer loderte hell. Er schloss die Ofentür und blickte sich um. Sie stand noch immer regungslos da.
„So, jetzt zieh erst einmal die nassen Sachen aus. Du siehst total durchfroren aus. Dabei sind es doch bloß zwei Meilen von der Stadt bis hier rauf.“
Das Heulen erreichte seinen Höhepunkt, wurde leiser und hörte schließlich auf. Zurück blieb eine fast völlige Stille, nur das Feuer knisterte noch leise vor sich hin. Sie hatte bis jetzt geschwiegen, doch nun war es wohl an der Zeit, etwas zu sagen.
„Vater, ich ...“
„Du hast mir bestimmt viel zu erzählen, aber du musst dich unbedingt erst einmal aufwärmen, sonst wirst du noch krank. Ich mache in der Zwischenzeit was zu essen. Meine Güte, deine Sachen sehen vielleicht aus … Übrigens, warum legst du nicht endlich diesen komischen Schraubenschlüssel beiseite? Wozu hast du den überhaupt mitgenommen?“
Sie sah den Radschlüssel an, den sie immer noch umklammert hielt, und wusste es irgendwie selbst nicht mehr. In ihrem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Es war wohl ein bisschen viel auf einmal gewesen. Doch da war noch etwas anderes: Sie kam sich so dumm vor, so unendlich dumm …
Sie musste an den Wolf denken, der sich blutend und torkelnd zurückgezogen hatte. Er hatte sie nicht einmal angeknurrt.
Und an den Jäger, von dem ihr Vater sprach. Das, was man dem Wolf nachsagte – traf das in vielen Fällen nicht eher auf den Menschen zu?
Sie begann plötzlich zu verstehen, warum sie sich so dumm vorkam. Sie war einem Zerrbild zum Opfer gefallen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Und der Wolf war nun zu ihrem Opfer geworden.
Es bestürzte sie und machte sie wütend – furchtbar wütend. Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie viele Wölfe waren bereits zu Opfern geworden, nur weil andere ähnlich reagiert hatten?
Dagegen musste etwas getan werden. Sie würde ihnen erzählen, wie Wölfe wirklich waren – den Politikern, Drehbuchautoren, Schriftstellern, Märchenerzählern, Nachbarn, Freunden, Verwandten und allen, die es hören wollten. Doch wollten sie es überhaupt hören? Würden sie ihr überhaupt glauben?
Ihre Hand öffnete sich und ließ den Radschlüssel krachend zu Boden fallen.
Sie würde ihr Bestes geben. Das war sie diesem Wolf einfach schuldig. Und sicherlich gab es noch andere, die das Gleiche versuchten. Einen hatte sie schon gefunden …
„Vater?“
Er sah auf und blickte in ihre Augen. Der Tonfall ihrer Stimme sagte ihm, dass es um etwas Ernstes gehen musste, etwas, das ihr sehr am Herzen lag.
„Ja?“
„Die Wölfe … Was weißt du über sie?“
(Frank Simon; Wolf Magazin 3/98)