Mit Wölfen in der hohen Arktis

Die Wolfsbiologin Diane Boyd reiste im Sommer 1991 in die Hohe Arktis, um ihren Kollegen L. David Mech und Nora Gedgaudas bei der Beobachtung von Wölfen zu helfen. In diesem Polargebiet folgen die Forscher Wölfen, die relativ wenig Angst vor Menschen haben, vermutlich, weil die Tiere dort niemals bedroht oder bejagt worden sind. Boyd arbeitet seit zwölf Jahren am Wolf-Ökologie-Projekt der Universität von Montana in Missoula. Die scheuen Wölfe im Glacier-Nationalpark, mit denen Diane Boyd sonst arbeitet, stehen in bemerkenswertem Kontrast zu den Wölfen der Arktis, die es Diane nicht nur erlaubten, sich zu nähern, sondern ihr auch ermöglichten, ihre Erfahrungen mit Nahbeobachtungen zu erweitern und überdies ein anderes Land zu entdecken.

Ich bin sechshundert Meilen südlich vom Nordpol und lebe in einer Landschaft, die aussieht wie eine Hybride aus Mond, östlichem Montana und Alaska. Wenn man dort einen Baum umarmen will, tut man es mit Daumen und Zeigefinger, weil die Weidenbäume dort einen Durchmesser von der Stärke eines Bleistiftes haben und nicht höher als zehn Zentimeter sind. Dies ist alter, arktischer Baumwuchs. Die Arktis ist eine Wüste mit weniger als einhundertzwanzig Millimeter Niederschlag pro Jahr.

Die Eisberge sind wahrhaft erstaunlich in Form, Farbe und Ausmaß. Jeder einzelne ist eine unglaublich schöne Skulptur, deren Erschaffung lange vor Michelangelos Geburt begann. Das Eis des Meeres brach in dieser Woche rapide auf und befreite die Eisberge aus ihrer winterlichen Verankerung. Vor mir sehe ich zwei, der eine ist geformt wie ein Schleppkahn und der andere wie das Ungeheuer von Loch Ness. In den letzten zwei Stunden haben sie sich um ein paar Hundert Meter weiter bewegt. Am besten kann man ihre Farben zwischen ein und drei Uhr morgens genießen und fotografieren.

In der Hohen Arktis gibt es in den Sommernächten noch nicht einmal den Anschein einer Dunkelheit. Die Qualität des Lichtes hier ist klar, aber von der pastellenen Qualität nasser Wasserfarben. Zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens nimmt das Licht eine goldene Färbung an und zeigt dabei den Reichtum der arktischen Landschaft. Vom felsigen Unterland her gesehen, scheint dies alles ein Ödland zu sein. Aber man braucht nur über das Meer zu schauen oder die rauen Bergspitzen, eingewoben in Gletscher, oder die baumlose Tundra mit Spuren von Karibus, Moschusochsen und Wölfen.

Die Wölfe – sie sind der Hauptgrund, warum ich hierher gekommen bin. Eigentlich dachte ich noch vor meiner Ankunft, dass sie der einzige Grund für meine Anwesenheit hier seien. Aber mein „einziger“ Grund hat sich ausgeweitet auf dieses gesamte Gebiet der Wölfe. Es ist mein „Seelengrund“ geworden. In diesem so fremden Land scheinen all meine Sinne gleichzeitig an meiner Seele zu ziehen.

Der arktische Mohn richtet seine kleinen gelben Blüten nach der Sonne auf und rotiert auf langen, dünnen Stängeln, um die Sonne einzufangen, die den Himmel in einem Radius von 360 Grad umkreist, niemals untergeht und niemals wirklich hoch steigt. Die Arktis zieht mich an, so wie die Sonne den Mohn anzieht. Und trotzdem fühle ich mich zur gleichen Zeit fehl am Platz, nicht mehr im Einklang mit der Natur, und wundere mich, warum dieses vierundzwanzigstündige Sonnenlicht meine biologische Uhr so durcheinanderbringt, dass ich die ganze Nacht auf bin und tagsüber schlafe. Und selbst dann fällt es mir schwer, zu schlafen, so als ob mein Adrenalinspiegel ständig auf dem Höhepunkt ist. Ich will nicht schlafen, weil ich sonst etwas verpassen könnte.

Meine Wahrnehmungsfähigkeit ist ebenfalls gestört, mit weit entfernten arktischen Kaninchen, die wie Eisbären aussehen, und einer Bergkette, die aussieht, als sei sie eine Halbtagswanderung entfernt, für die ich aber doch nur eine Stunde benötige, um sie zu erklimmen. Mein Geruchssinn sehnt sich nach dem Geruch von Leben, sei es nun eine Pflanze, ein Tier, Bakterie oder auch ein Pilz. Dies ist wirklich ein steriler Ort für eine menschliche Nase. Sogar das Meer erschlägt einen nicht mit seinem vorherrschenden Strandduft von Seetang und Salzwasser. Es gibt keinen Unterschied im Geruch zwischen dem Fjordstrand, den Felsen und den grünen Hügeln von Tundrapflanzen.

Die Möglichkeiten für Wanderungen sind unbegrenzt in so unterschiedlichem Gelände, wie man es sich nur erträumen kann: felsige Bergketten, versteckte Täler, schneebedeckte Gipfel, sanfte, hügelige arktische Prärie und Küstenstrände. Es ist alles da. Die einzige Konstante ist der Wind. Er ist ebenso ruhelos wie die helle Sonne, wenn man schlafen will.

Meine Zeit ist aufgeteilt in drei Aktivitäten: schlafen, Wölfe beobachten und Erforschung des Landes – aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Die Wölfe sind dem menschlichen Eindringling gegenüber tolerant; und es ist ein Eindringen, wie sehr die Tiere sich auch bemühen vorzugeben, dass ich nicht da bin.

Aber sie nehmen meine Gegenwart hin und benehmen sich so, als ob ich nicht da wäre. Sie schlafen, spielen, jagen, füttern ihre Jungen, schlafen, gähnen und legen sich wieder anders hin, schlafen, spielen mit den Jungen, schlafen. Und ich habe den einzigartigen Einblick in das Leben von Wölfen in diesem Rudel. Von ihnen als Teil ihrer Umwelt akzeptiert zu werden, ist so ein Privileg! Es ist so selten, Wölfe in den Rocky Mountains zu sehen, wo ich lebe und arbeite, viel seltener noch, sie täglich und so nah zu beobachten, wie ich es hier kann.

Ich glaube wirklich, dass nichts Anbetungswürdigeres atmet als ein sechs Wochen altes Wolfsbaby. Vergeben Sie mir. Diese objektive Forscherin und Wissenschaftlerin fällt zurück in ein total unwissenschaftliches Kauderwelsch. Selbst die hartgesottensten Biologen konnten derartige Anfälle der „Süßen“ nicht verhindern, wenn sie beobachteten, wie diese tollpatschigen Fellknäuel verschmitzt herumtollten. Keine Versuchung, einen dieser Welpen zu halten und zu umarmen – mich schüttelt es bei dem Gedanken, wie ein solcher Welpe mein Gesicht mit wütenden, nadelspitzen Zähnchen zerkratzen würde. Ich denke an ihre erstaunlich ernsthaften Schrammen, die sie schon in jungen Jahren bei Kämpfen ums Futter erhielten, und wie wenig sie in diesem Zusammenhang mit Haushunden gemeinsam haben.

Die Wildheit der Jungen wird ihnen viel nützen, wenn sie in diesem Winter mit dem Rudel jagen und versuchen, einen einzelnen Moschusochsen aus der Herde herauszutreiben. Ein Kreis zotteliger, schnaubender, prähistorischer Ungetüme, nur Köpfe und Hörner, während die Wölfe auf sie lospreschen in der Hoffnung, die stehende Formation zu durchbrechen und sie zum Rennen zu bringen, damit sie ein einzelnes, verletzliches Opfer aussortieren können. Äonen alt ist er, dieser Kreis von Räuber und Beute. Es scheint so paradox, dass mickrige Menschen durch die reine Macht ihres Gehirns das ultimative Raubtier auf diesem Planeten geworden sind, und dennoch keinerlei Verständnis vom Verhalten eines Beutegreifers haben. Wir haben endlose Kriege gegen diese Tiere angezettelt und sie zu Millionen getötet. Millionen.

Die ersten Menschen haben vor 500 bis 1000 Jahren die Hohe Arktis betreten. Diese Vorfahren der Inuit, Thulen genannt, lebten an Land und auf dem Meer, jagten Seelöwen, Walrosse, Wale, Moschusochsen und Karibus. Die Lagerplätze der Thulen sind auch heute noch als Gruppen von Steinringen sichtbar, wo ihre Zelte standen. Zerbrechliche, von Flechten bedeckte Tierknochen erzählen uns, was sie aßen und erlauben einen winzigen Einblick in ihr Leben. Während ich durch die Thulen-Ruinen laufe und hinaus in den Fjord zu den Eisbergen schaue, erfüllt mich der Geist dieser Menschen und ihres Landes. Ich versuche mir ihre Kajaks aus Tierhäuten vorzustellen, die auf den Strand gezogen sind, das Lachen der Kinder, die guten und die schlechten Zeiten. Ich gehe hinüber zu einem entfernten Hügel gebleichter Knochen auf einem Berg über dem Fjord und den Steinringen, und ich finde einen Kreis von Moschusochsen-Schädeln, die das Dorf überblicken. Warum wurden sie hierher gelegt? Ich habe meine eigenen Gefühle hierzu. Wie töteten sie die Moschusochsen? Über Tausende von Meilen gab es kein Holz, mit dem man Speere oder Pfeil und Bogen machen kann. An Moschusochsen-Sprünge, wie Büffel-Sprünge zu denken, wie sie die Indianer des Westens benutzten, zu denken, wäre lächerlich. Das Land bietet keine tödlichen Klippen, die von Plateaus abfallen und über die man Tiere treiben könnte.

Waren diese Thulen Opportunisten, die von den Kadavern der Moschusochsen lebten, die von Wölfen getötet worden waren? Wölfe und Thulen – was war ihr Verhältnis zueinander? Während mich diese Gedanken beschäftigen und ich die Ruinen untersuche, werden meine Augen von einer bekannten Knochenform angezogen, die fast gänzlich unter zehn Jahre alter, langsam kompostierender, arktischer Erde begraben ist. Auf natürliche Weise freigelegt ist hier ein Teil der rechten Seite eines Schädels und ein Backenzahn. Ich fotografiere die Teile, bevor ich mit einer vorsichtigen Untersuchung der Knochen beginne. Langsam grabe ich mit meinen Fingern und einer Moschusochsen-Rippe, bis der Schatz nicht mehr länger im Verborgenen liegt. Er hat die Farbe des Alters, aber er ist intakt, und es ist ohne Zweifel ein Wolfsschädel. Meine Seele vibriert vor Energie. Warum liegt dieser Schädel hier in einem Thulen-Dorf? Welche Rolle spielte der Wolf im Leben dieser eingeborenen Jäger? Und wie funktionierte das Mensch-Wolf-Beute-Verhältnis vor so langer Zeit? Vor wie vielen Generationen jagte dieser Wolf und fütterte seine Jungen, so wie die Wölfe, die ich heute beobachte? Äonen alt, dieser Kreis.
(Diane Boyd; Int. Wolf, Sommer 1992, Wolf Magazin 2/96)