Wölfe aus der Sicht des Eskimojägers
Der vorliegende Artikel diskutiert einige Aspekte der Ansicht der Eskimojäger zur Wolfsökologie, die die Meinung der modernen Wissenschaft ergänzen soll. Im Speziellen werden wir die Wolfsökologie aus der Sicht der Nunamiut-Eskimo („Menschen des Landes“) diskutieren, die nun in Anaktuvuk Pass in Alaska leben. Wir werden hier nur die grundsätzliche Betrachtung eines Themas darlegen, das, um wirklich vollständig verstanden zu werden, ein komplettes Wissen der Ethnogeschichte und Kultur der Nunamiut erfordert. Obwohl die Ansicht der Nunamiuts zur Wolfsökologie in vielen Punkten der westlichen Wissenschaft ähnelt, gibt es doch ein paar Unterschiede in der allgemeinen Theorie und viele im Detail der Naturgeschichte. Wir werden später noch darauf zurückkommen.
In den Schreiben der frühen Forscher, Archäologen und Anthropologen gibt es zahlreiche Berichte über das außerordentliche praktische Wissen und die scharfsinnige Wahrnehmungskraft der Eskimos. Die Beziehung zu ihrer natürlichen Umgebung wurde von Nelson (1969) in seiner Studie über die Faszination des Eismeeres und das zoologische Wissen der Alaskanischen Küsten-Eskimos wirkungsvoll erläutert. Nelson berichtet: „Es gibt keinen mystischen, vererbten Keim im Verstand eines Eskimos, der es ihm erlaubt, die Stimmung eines Tieres zu fühlen, die Bewegungen des Ozean-Eises vorherzusehen oder eine Veränderung im Wetter zu spüren.“ Vielmehr habe der Eskimo durch tägliche, funktionelle Interaktion mit seiner Umwelt, von der sein Leben abhängt, einen eindrucksvollen Vorrat an empirisch erreichtem Wissen angelegt. Auf die Erkenntnisse der Nunamiuts hinsichtlich der Tier-Ökologie haben sich Zoologen verlassen und sie hoch gepriesen.
Vor 1949 lebten die Nunamiut ein halbnomadisches Leben. Seit damals ist die Gruppe fast sesshaft geworden, und im letzten Jahrzehnt hat sich die Ökonomie der restlichen einhundertfünfzehn Berg-Nunamiut gewandelt von mobiler Jagd und Fallenstellen zu einer Wirtschaft der örtlichen sporadischen Jagd, Fallenstellen und Gelegenheitsjobs – all dies jedoch innerhalb des ursprünglichen Rahmens traditioneller Nunamiut-Kultur. Früher zogen die Jäger auf der Jagd nach Wild fast täglich über das Land, sogar im Sommer. Die Wintermonate waren und sind immer noch gekennzeichnet durch die Jagd und das Fallenstellen in einem noch größeren Gebiet. Vor der Prämienjagd, die ernsthaft in den späten 1930er Jahren begann und bis etwa 1967 dauerte, waren Wölfe fast ausschließlich im Winter begehrt. Die Prämie führte auch dazu, dass man sich verstärkt bemühte, im Sommer Wolfswelpen zu erhalten. Jedes Jahr Ende Mai machten sich kleine Gruppen von zwei bis vier Jägern auf, um in den langen arktischen Tagen Wolfswelpen zu suchen. Bis Anfang Juli suchten sie in einem Gebiet von 20.700 Quadratkilometern der nordzentralen Brooks Range nach Höhlen.
Die Erfahrungen der Nunamiut in Bezug auf die Zeit, die sie damit verbringen, den Wolf und seine Umwelt zu studieren, sind vermutlich mit keinem anderen Eingeborenen oder westlichen Wissenschaftler vergleichbar. Da in der nordzentralen Brooks Range eine Wolfspopulation lebt, die in ihrer Dichte mit denen in südlicheren Waldgebieten vergleichbar ist, bietet das offene Gebiet ausgezeichnete Möglichkeiten zur Beobachtung. Dies und die anderen erwähnten Umstände ermöglichten es den Nunamiut, die volle Skala des natürlichen Wolfsverhaltens unter praktisch allen Umweltbedingungen zu beobachten. Viele Jäger haben eine bemerkenswerte Fähigkeit demonstriert, auf große Entfernung Wölfe unterschiedlichen Geschlechts und Alters zu unterscheiden und dadurch eine Interpretation ihres Verhaltens zu ermöglichen.
Die Nunamiut zeigen eine beeindruckende Fähigkeit, das Verhalten von Wölfen vorherzusehen. Indem sie zum Beispiel Wolfsheulen imitieren, rufen die Jäger routinemäßig Wölfe aus einer Entfernung von eineinhalb bis sechseinhalb Kilometern oder mehr in die Reichweite ihrer Gewehre. Außerdem schleichen sie sich an schlafende Wölfe heran. Bei verschiedenen Gelegenheiten sind Jäger innerhalb Gewehrreichweite gekrochen und haben bis zu fünf Wölfe getötet, bevor der Rest entkommen konnte. Durch die Benutzung dieser und anderer Jagdtechniken (einschließlich Stahlfallen) haben einige Jäger in einem einzigen Winter mit hoher Wolfspopulation bis zu vierzig Wölfe getötet. Verschiedene ältere Nunamiut, inzwischen in ihren sechziger oder siebziger Jahren, haben grob geschätzt in fünfzig Jahren der Jagd etwa fünfhundert Wölfe getötet. Einige jüngere Jäger in den Dreißigern und Vierzigern haben zweihundert bis dreihundert Wölfe getötet. Die Fähigkeit der Nunamiut zur Entdeckung von Wolfshöhlen wurde durch das Auffinden von über hundert Höhlen in den letzten dreißig Jahren demonstriert. Im Allgemeinen wurden die Höhlen durch Beobachtung des Verhaltens der erwachsenen Wölfe auf der Jagd, Meilen von der Höhle entfernt, entdeckt, basierend auf der Kenntnis der Jagd-Verhaltensmuster.
Die Nunamiut betrachten den Wolf als ein hochintelligentes Raubtier, das, mit Ausnahme eines gelegentlich tollwütigen Tieres, für den Menschen keine Gefahr darstellt. Über Geschichten von blutrünstigen Wölfen, die am Lagerfeuer des Trappers lauern, können sie sich nur amüsieren. Dennoch gibt es einige wenige Vorfälle, bei denen Wölfe Nunamiut angegriffen haben, die vor der Einführung von Feuerwaffen Ende 1800 allein oder in kleinen Gruppen reisten. Die intelligente und soziale Natur des Wolfes wird von den Nunamiut bewundert. Eines der ersten Dinge, die sie Außenseitern immer wieder klar machen, die sich nach Wölfen erkundigen, ist, dass es sich um sehr kluge Tiere handelt. Es ist sehr lehrreich, festzustellen, dass eine der wenigen noch bestehenden Gesellschaften, die in direkter Nahrungskonkurrenz mit dem Wolf standen und in gewisser Weise immer noch stehen, keinerlei Feindschaft dem Tier gegenüber empfindet. Die Nunamiut missgönnen dem Wolf nicht seine Beute. Auch wenn sie ihn jagen und sein Fell schätzen, so nehmen sie sein Leben ohne den Hass und das Schuldgefühl, das so oft das Töten von Wölfen durch andere Gesellschaften begleitet.
Die Nunamiut erkennen große Variationen in den körperlichen Verhaltensmerkmalen von Wölfen. Einige Variationen hängen mit Geschlecht, Alter und Umweltbedingungen zusammen, aber viele lassen sich zurückführen auf ererbte individuelle Unterschiede in Morphologie und Temperament. Die Nunamiut haben schon vor langer Zeit gelernt, was erst kürzlich von Ayala (1971) festgestellt wurde: „Spezies sind keine gigantischen Wesen, die aus identischen Kopien derselben Erscheinungsform bestehen; vielmehr gibt es bei allen Tierarten, die sich sexuell mit anderen paaren, keine zwei Individuen (mit der Ausnahme von monozygotischen Zwillingen), die genetisch identisch sind.“ Die Nunamiut beziehen sich oft auf den Wolf oder die Wölfe unter diesen ganz besonderen Umweltbedingungen, indem sie das kollektive Wort „Wolf“ sehr viel weniger benutzen als moderne Wolfsökologen. Obwohl den Wissenschaftlern durch Studien an gefangenen Wölfen individuelle Variationen im Temperament bekannt sind, wurde dies nur sehr selten auf Verhaltensinterpretationen von frei lebenden Wölfen ausgedehnt. Vererbte Unterschiede im Temperament sind ein schwer erkennbares Phänomen für das ungeübte Auge, werden aber von den Nunamiut benutzt, um das unterschiedliche Verhalten der von ihnen beobachteten Wölfe zu erklären, einschließlich ihrer Reaktion auf Menschen, ihre Wachsamkeit, Jagdvermögen, Sozialverhalten oder Aggression.
Aus buchstäblich Hunderten von Begegnungen mit Wölfen an ihren Höhlen erkennen die Nunamiut beispielsweise Unterschiede in den individuellen Reaktionen von erwachsenen Wölfen auf menschliche Eindringlinge. Mütter zeigen normalerweise ein äußerst ängstliches Verhalten, indem sie zunächst den Eindringling anbellen und dann anheulen und dabei im Umkreis von einigen Hundert Metern zur Höhle bleiben. In einigen Fällen jedoch haben die Weibchen das Höhlengebiet einfach verlassen, ohne Laut zu geben oder sich ängstlich zu verhalten. Wolfsrüden dagegen zeigen sehr viel weniger Angst als Wölfinnen, sie bewegen sich weiter von der Höhle fort, geben weniger Laut und verlassen manchmal das Gebiet vollständig. Einige dagegen haben auf den Eindringling reagiert wie ein „typischer“ weiblicher Elternteil.
Die Nunamiut sind sehr gute Beobachter und haben lange Erfahrung mit dem Wolf. So wissen sie, dass nicht alle Wölfe bei der Tötung der Beute die gleiche Rolle spielen. Sie sagen als Faustregel, dass normalerweise in einem Rudel von fünf Tieren zwei Wölfe die Hauptarbeit bei der Tötung übernehmen, die restlichen Wölfe spielen bei der Jagd eine Nebenrolle. Die sehr jungen und sehr alten Tiere übernehmen bei der Tötung von großer Beute selten einen aktiven Teil.
Die Nunamiut betonen auch, wie wichtig es ist, eine Art „höheres“ Verhalten von Wölfen zu erkennen, beispielsweise Einsicht, Zweckmäßigkeit und enorm große Lernkapazität. Ein unangenehmes Erlebnis wie zum Beispiel die Begegnung mit einem Jäger ist ausreichend für einen Wolf, um ähnliche Situationen in Zukunft zu meiden. Von erwachsenen Wölfen, die bereits Erfahrungen mit Fallen gemacht haben, weiß man, dass sie sich kaum noch in Fallen einfangen lassen. Sie erlauben auch ihren Welpen nicht, einen Kadaver aufzusuchen, den Menschen berührt haben. Die meisten Nunamiut sind sich darüber einig, dass es fast unmöglich ist, einen erfahrenen Wolf zu fangen. Sie kennen viele Beispiele für ein hohes Ordnungsverhalten bei Wölfen und haben dies in verschiedenen Verhaltenszusammenhängen beobachtet. Der Gebrauch eines sorgfältig ausgearbeiteten „Hinterhaltes“ bei der Jagd ist ein bemerkenswertes Beispiel. Ein anderes ist die Reaktion eines Jährlings oder erwachsenen Wolfes auf die Anwesenheit von Menschen beim Rendezvous-Platz. So beobachteten zwei Nunamiut einen Jährling, der zum Rendezvous-Platz eilte und einen Wurf Welpen fort führte, nachdem er etwa eineinhalb Kilometer von den Welpen entfernt Jäger entdeckt hatte. Bei der gleichen Gelegenheit, kurz bevor sie die Wölfe entdeckten, beobachteten die Jäger zwei erwachsene Wölfe, die den Rendezvous-Platz zur Jagd verließen. Als ein Welpe ihnen folgen wollte, führte ihn das Weibchen der erwachsenen Wölfe zu den anderen Welpen zurück und ging dann erneut in die Richtung, in die der andere Wolf gelaufen war. Nach etwa neunzig bis hundert Metern jedoch legte sie sich plötzlich für eine halbe Stunde nieder, stand dann auf und folgte dem Pfad des anderen Tieres. Die Nunamiut nahmen an, dass das Weibchen gewartet hat für den Fall, dass ihr der Welpe erneut gefolgt wäre.
Wenn es darum geht, Huftiere verschiedenen Geschlechts, Alters und unterschiedlicher körperlicher Verfassung zu jagen, dann ist laut der Nunamiut eines der wichtigsten Elemente für den Ausgang einer solchen Jagd die Entschlossenheit des Wolfes, das Tier zu töten. Bei den Karibus sind sich die Nunamiut-Jäger darin einig, dass Wölfe eine große Zahl schwächerer Tiere töten und dadurch für eine gesunde Karibupopulation nützlich sind. Sie sind außerdem unerschütterlich der Auffassung, dass ein erfahrener, erwachsener Wolf in halbwegs gesunder Verfassung praktisch jedes Karibu töten kann, das er will – mit Ausnahme von einem Tier, das sich ins tiefe Wasser flüchtet. Wenn im Sommer und Winter die in der Brooks Range lebende Karibupopulation zurückgeht, zeigt der Wolf am ehesten seine Fähigkeit, selbst die gesündesten Beutetiere zu fangen. Während der letzten Monate haben wir erfolgreich Jagden über eine Entfernung von sieben und dreizehn Kilometern aufgezeichnet. Bei beiden waren ein Wolf und ein Karibu beteiligt, wobei es nur wenige Karibus gab. Bei einer Begebenheit folgten Ahgook und ein anderer Nunamiut-Jäger einer frischen Jagdfährte von einem Wolf und einem Karibu über die Berge nordöstlich des Anaktuvuk-Passes. Beide, Wolf und Karibu, liefen zehn Kilometer über Tundra und gepressten Schnee. Als sie ein drei Kilometer langes Gebiet mit weichem, fünfundsiebzig Zentimeter tiefem Schnee erreichten, verlangsamten beide Tiere ihre Geschwindigkeit. Bei der Durchquerung dieses Areals veränderten sie ihre Geschwindigkeit alle neunzig bis hundert Meter alternativ vom Rennen zum Gehen. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass der Wolf das Karibu auf diesem Gelände töten wollte, stattdessen versucht er einfach, dieselbe Geschwindigkeit beizubehalten. Als das Karibu den tiefen Schnee verließ und einen frei gewehten Hügel herunter rannte, holte der Wolf es ein und tötete es nach einer kurzen Siebzig-Meter-Jagd. Die gesamte Jagd überbrückte dreizehn Kilometer. Dieses Beispiel zeigt, über welche Entfernung die Wölfe Karibus jagen, wenn nur wenige gesunde Tiere zur Verfügung stehen. Es zeigt auch, wie sie absichtlich ihre Verfolgung unterschiedlichen landschaftlichen Bedingungen anpassen. Die Nunamiut haben sogar noch längere Jagden beobachtet.
Diese Beobachtungen unterscheiden sich sehr von den kurzen Jagden über wenige Hunderte Meter, die oft als Beweis für die Unfähigkeit des Wolfes herhalten müssen, andere als „schwache“ Tiere zu jagen. Die meisten dieser Beobachtungen wurden gemacht, als es relativ viele Karibus gab, während ihrer Wanderungen im Frühling und Herbst. Die Nunamiut sind davon überzeugt, dass Wölfe, besonders die jüngeren, kraftvollen Tiere, sich nicht immer den Karibus nähern, um sie zu töten. Es sind viele Fälle beobachtet worden, insbesondere in Zeiten des Überflusses an Karibus, bei denen es den Nunamiut so schien, als ob die Wölfe „spielten“. Sie beobachteten oft einen Wolf, der genau in dem Augenblick, in dem er eine gute Chance hatte, seine Beute zu fangen, von der Jagd auf ein Karibu abließ, nur um ein anderes Karibu zu scheuchen.
All dies zeigt, dass aus der Sicht der Nunamiut
das Wolfsverhalten aus der Interaktion vieler unterschiedlicher
Verhaltensmuster besteht, und zwar im Zusammenhang mit einer
sozialen Ordnung, mit Umweltbedingungen und dem ständigen Erlernen
von modifiziertem Verhalten. Jedoch interpretieren die Nunamiut das
Wolfsverhalten in einem breiteren, komplizierteren Rahmen als die
moderne Wissenschaft. Ihr tiefes Wissen, das sie aus geduldiger,
bodenständiger Beobachtung gewonnen haben, hat sie gelehrt, dass
die Anpassungsfähigkeit und Dehnbarkeit des ererbten
Wolfsverhaltens mit dem der Menschen wetteifert.
(Robert O. Stephenson, Alaska Department of
Fish and Game, und Robert T. Ahgook, Anaktuvuk Pass, Alaska; Wolves
& Related Canids, Winter 1991, Wolf Magazin 2/1994)