Wolf und Mensch

Eine lange Geschichte von Freundschaft und Feindschaft

Unter den Tieren ist der Wolf eine Ausnahmeerscheinung. Abgesehen vom Menschen hat kein Säugetier eine größere, natürliche Verbreitung. Von der hohen Tundra im Norden bis in den Regenwald des Südens, im Hochgebirge wie in der Steppe, in den letzten Wildnisregionen unserer Erde wie auch in unmittelbarer Nachbarschaft zum Menschen – überall kommt er zurecht, als Großwildjäger oder Müllverwerter, als Einzelgänger ebenso wie im großen Rudel. Seine Anpassungsfähigkeit steht nur der des Menschen nach, hinsichtlich seiner innerartlichen Variation übertrifft er diesen sogar. Es gibt reinweiße und völlig schwarze Wölfe, rotbraune und eben auch die grauen bei uns in Europa. Es gibt Wölfe, die ausgewachsen keine zwanzig Kilo wiegen und andere, weiter nördlich, die viermal so schwer sind.

In der Tat steht kein Tier in Bezug auf Ernährungs- und Lebensweise dem Menschen näher. Als opportunistischer Jäger besetzt der Wolf die gleiche ökologische Nische wie einst unsere steinzeitlichen Vorfahren. Wie diese lebt er bevorzugt in der Großfamilie mit mehreren Generationen zusammen. Und ebenso verteidigt auch er sein Revier gegen fremde Eindringlinge.

So lebten beide Jäger über lange Zeit neben und wohl zum Teil auch voneinander. Die Wölfe plünderten regelmäßig die Abfallhaufen der Menschen und hielten deren Lager dadurch sauber. Und umgekehrt konnten die Menschen sicher manchmal den Wölfen ihre Beute abtrotzen und so Nahrungsengpässe überstehen. Ein Bündnis auf Gegenseitigkeit, wenn auch der Dominantere von beiden damals schon feststand: der Mensch.

Zum Ende der letzten Eiszeit, vor ungefähr fünfzehntausend Jahren, bekam diese lockere Verbundenheit zwischen Mensch und Wolf auf einmal eine neue Dimension. Irgendwer begann, kleine Wolfswelpen aufzuziehen. Vermutlich war es eine Frau, denn nur sie verfügte damals über die für die Welpen lebensnotwendige Milch. Andere Haustiere gab es noch nicht. So legte sie die Welpen an ihre Brust, zähmte sie und ließ sie danach in ihrer Hütte zusammen mit ihren eigenen Kindern aufwachsen. Aus dem wilden Wolf wurde der Hauswolf und aus diesem viele Generationen später unser erstes Haustier, der Hund.

Damit begann eine lange und erfolgreiche Freundschaft. Bald jagten sie auch gemeinsam, und zwar so geschickt, dass viele Wildtierarten immer seltener wurden. Auf der Suche nach neuen Jagdgründen drangen sie gemeinsam auf neue Kontinente und in immer entferntere Regionen der Erde vor und besiedelten zum Ende der Eiszeit schließlich nahezu die ganze Erde.

Bis auf wenige Ausnahmen gab es seitdem keine menschliche Kultur ohne Hunde. Mehr noch, mit dem Hund als Vorbild wurden vielerorts neue Haustiere domestiziert und damit die größte Kulturrevolution aller Zeiten eingeleitet: die Weiterentwicklung des Menschen vom Jäger und Sammler zum Bauern und Hirten.

Ob dieser folgenschwere Entwicklungsschritt am Ende für Hund und Mensch gut war, wird erst die Zukunft erweisen. Für den Dritten im Bunde jedoch, für den wild gebliebenen Wolf, waren die Folgen fatal. Denn er wurde jetzt zum Konkurrenten für Jäger und Hund um schwindende Beute und zudem für den Bauern und Hirten zum schlimmsten Feind.

Trotzdem dauerte es noch viele Jahrtausende, bis dem Wolf das ganz und gar negative Erscheinungsbild zugesprochen wurde, wie wir es heute kennen, bis zum Verführer kleiner Mädchen mit rotem Käppchen, zum gefräßigen Wüstling, zur gefährlichen Bestie. Bei vielen nordamerikanischen Indianerstämmen galt er als Symbol der Schöpfung und der ethnischen Identität. Auch Dschingis Khan soll nach der „ Geheimen Geschichte der Mongolen“ von einem Wolf abstammen. In der Mythologie der Germanen begleiten zwei Wölfe Odin, den höchsten Gott, und schützen ihn vor allen Gefahren. Und das alte Rom schließlich wurde der Sage nach von Romulus und Remus gegründet, die ihr Leben einer Wölfin verdanken. So gilt in Italien bis zum heutigen Tag die Wölfin als Symbol mütterlicher Liebe und Aufopferung.

Zum Symbol des Bösen wurde der Wolf bei uns erst zu Beginn des Mittelalters. So forderte Karl der Große von seinen Rittern nicht nur den bedingungslosen Kampf gegen die heidnischen Sachsen, sondern auch gegen den Wolf. Und dieser Krieg dauerte länger als der zur Einigung des Reiches. So geht die heute noch bestehende Louveterie in Frankreich auf die vor mehr als tausend Jahren eingeführten Wolfsjäger des Kaisers zurück. Heute haben sie, nach ihrem totalen Sieg über den Wolf, naturgemäß andere Aufgaben übernommen. Doch damals galt es, Wild und Haustiere gegen die Wölfe zu schützen. Denn mit der zunehmenden Entwaldung Mitteleuropas und dem enormen Jagddruck des Adels auf das Wild blieb den Wölfen nichts anders übrig, als sich an den wenigen Haustieren der Bauern schadlos zu halten.

Wenn auch das Problem von Menschen selbst verschuldet war, der Hass und die Angst vor dem Wolf der damaligen Zeit sind verständlich. Es ging um die Existenzgrundlage ganzer Familien, wenn Wölfe wieder einmal in die Weiler, in Stall und Weiden eindrangen. Und sicher haben sie dabei nicht immer nur Haustiere gerissen, sondern auch mal ein Kind in den Wald geschleppt.

Doch nicht einmal in dieser Zeit war das Bild vom Wolf einheitlich schlecht. In unzähligen Fabeln galt Isegrim vielmehr als tölpelhafter Trottel, der immer wieder von dem kleineren, aber so viel schlaueren Reineke überlistet wurde. Erst Jahrhunderte später wurde er zum wirklichen Handlanger des Teufels, zur Inkarnation des Bösen schlechthin. Es war die unruhige Zeit der Reformation und der Gegenreformation, langer Kriege und vielen Elends auf dem Lande, als unzählige Frauen der Hexerei beschuldigt wurden, und auch sehr viele Männer als überführte Werwölfe ihr Leben auf dem Scheiterhaufen lassen mussten. Wie immer hat man es auch damals verstanden, unliebsame Randgruppen für die Probleme der Zeit verantwortlich zu machen. Und zu diesen Randgruppen gehörten, nach mehr als tausendjähriger Verfolgung, inzwischen auch die Wölfe. Mitte letzten Jahrhunderts waren sie dann aus Mitteleuropa praktisch verschwunden.

So spiegelte unsere Einstellung zum Wolf unsere Beziehung zur Natur allgemein wieder, die wiederum im Wesentlichen durch den Entwicklungsstand unserer Natur beherrscht wird. Deshalb mag es nicht verwundern, dass das Wolfsbild sich in letzter Zeit wieder langsam wandelt. Schon bei Jack London ist der Wolf nicht mehr der rohe Bösewicht der Vergangenheit, sondern König der uns noch verbliebenen Natur weit entfernter nördlicher Wälder. Es war eben die Zeit frühkapitalistischer Ausbeutung und Machtentfaltung als, frei nach Charles Darwin, das Recht des Stärkeren propagiert wurde. Und so verwundert es auch nicht, dass ebenfalls die Nazis den Wolf in diesem Sinne missdeuteten und dem (Rudel-)Führer zusprachen. Und ebenso folgerichtig ist in unserer Zeit wahrlich bedrohlicher Naturzerstörung die neuerliche Wolfsromantik. Der Wolf ist heute „in“. Insbesondere in der Mittelschicht der eingeengten städtischen Grüngürtel. Hier kommt eine diffuse Sehnsucht nach unberührter Wildnis zum Tragen, die Abkehr vom tristen Alltag mit all seinen Beweisen für die Unzulänglichkeit des Menschen. Nur an seinen Wurzeln, in der Natur, sei der Mensch gut. Und an diesen Wurzeln steht eben auch der Wolf – nicht ganz zu Unrecht, wie wir wissen.

Nach beispielloser Verfolgung ist der Wolf heute aus großen Teilen seines einstigen Verbreitungsgebietes in Nordamerika und Europa verschwunden. In den letzten Jahren aber beobachten wir eine erneute Zunahme der Wolfspopulation in einigen seiner verbliebenen Rückzugsgebieten und als Folge davon eine Wiederbesiedelung der Gegenden, die bereits lange wolfsfrei waren: Spanien, die nördlichen Apenninen Italiens, die Seealpen Frankreichs, Mittelschweden und neuerdings auch Deutschland. Erste Wölfe siedeln bereits im Bayerisch-Böhmischen Wald und seit einigen Jahren dringen immer wieder Wölfe aus Polen über die Oder nach Brandenburg ein. Vereinzelt treten auch Wölfe in den Vogesen auf, in Österreich und in den letzten Jahren mehrmals auch in der Schweiz.

Die Ursache für diese erneute Ausbreitung des Wolfes liegt zum einen im Wandel der Land- und Waldnutzung in vielen Regionen Europas begründet, zum anderen aber auch im bereits erwähnten Wandel der Einstellung zum Wolf selbst. Dieser ist eher im städtisch geprägten und ökologisch sensibilisierten Teil der Bevölkerung zu beobachten, während in ländlich-agrarisch geprägten Bevölkerungsschichten weiterhin das alte Angst-Feindbild vorherrscht. Entsprechend kontrovers und heftig sind überall die Reaktionen auf die Wiederkehr des Wolfes.

Für die einen ist der Wolf zum Hoffnungsträger für eine nicht völlig vom Menschen bestimmte Umwelt geworden, zu einem Symbol für das abenteuerlich Unberechenbare in der Natur bis zu einer neuromantischen Zivilisationsabkehr und vermeintlich neuer Spiritualität.

Für die anderen ist seine Wiederkehr ein Rückfall in menschliche Abhängigkeit von der Natur und ihren dunklen Kräften, der Wolf ein Konkurrent des Menschen, Feind und Schädling seiner wirtschaftlichen Interessen.

Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung hängt nicht nur die Zukunft des Wolfes ab. Es sind wir selber, die am Scheideweg stehen.

Entweder wir akzeptieren den Wolf als einen unverzichtbaren Teil unser aller Natur oder wir werden ihm nur um einige Jahre versetzt in den Untergang folgen.
(Dr. Erik Zimen; Wolf Magazin 1/1996)