Eine Kanadareise der Superlative.

Außergewöhnliche Begegnungen mit drei verschiedenen Kaniden

Die Gesellschaft zum Schutz der Wölfe führte vom 5. bis 16. Februar 1998 zum ersten Mal eine Reise in die kanadischen Rocky Mountains durch. Nach Rückkehr der aus acht Personen bestehenden Reisegruppe überwog dann auch die Skepsis der erwartungsvoll fragenden Leute: Na, habt ihr sie gesehen? Wen gesehen? Was gesehen? Ja, wir haben die Wölfe gesehen. Nicht nur einmal, sondern mehrfach. Aber nicht nur sie. Wir hatten einmalige Begegnungen mit unterschiedlichen Caniden – dem Wolf (Canis lupus), dem Kojoten (Canis latrans) und schlossen zudem diverse Schlittenhunde (Canis lupus f. familiaris) in unser Herz. Doch erst einmal der Reihe nach.

Unser Flugzeug landet pünktlich auf dem Flughafen Calgary und die bestellten Mietwagen bringen uns zum Bestimmungsort Canmore, der, umgeben von einer malerischen Gebirgslandschaft in unmittelbarer Nähe zum Eingang des Banff-Nationalparks gelegen ist. Am nächsten Morgen informieren uns die im Wolfsprojekt der Zentral-Rocky-Mountains arbeitenden Biologen über den derzeitigen Aufenthaltsort eines achtzehnköpfigen Wolfsrudels. Direkte Sichtung: Fehlanzeige. Die Wölfe hatten in der Nacht zuvor einen Wapiti-Hirsch gerissen. Sicherlich vollgefressen verbrachten sie laut Telemetrie-Koordinationsdaten dösend und inaktiv ihre Zeit in einem nicht durchsichtigen Waldstück. Bereits am 7. Februar kommt die Wende. Unsere Gruppe überprüft mittels diverser Ferngläser die Lage auf einem zugefrorenen See. Hier war das Wolfsrudel in den Wintern zuvor mehrfach gesichtet worden. Reiseteilnehmerin Marion ist noch etwas unschlüssig, doch dann beginnt sie, zu zählen: Eins, zwei, acht, zehn, fünfzehn, sechzehn. Nein, es sind keine undefinierbaren dunklen Punkte, denn sie bewegen sich. Wenn auch mehrere Kilometer entfernt, erspähen nach und nach auch die übrigen Reiseteilnehmer die gemächlich durch den Nebel trottende Karawane. Wir haben das Rudel ausgemacht und beobachten es, begleitet von heftigem Herzklopfen, über eine Viertelstunde. Dann ist der Spuk wieder genauso schnell vorbei, wie er begonnen hat. Die erste Begegnung mit Canis lupus in freier Wildbahn hinterlässt zufrieden strahlende Gesichter und innerlich ein unglaublich entspannendes Glücksgefühl. Reiseteilnehmer Martin, dessen 6000 DM teures Fernglas Bemerkungen der Superlative erntet, wird spontan umgetauft: Fortan heißt er nur noch „Eagle Eye“, das Adlerauge.

Ansammlungen von Raben bringen uns auf die Spur der eigentlich schon längst erwarteten Kojotensichtung. Ein Vertreter der zweiten in Nordamerika wild vorkommenden Kanidenform liegt gut sichtbar in der Nähe eines Waldrandes völlig entspannt in einer eigens geformten Kuhle auf einem zugefrorenen See. Es handelt sich um den mir aus Sommerbeobachtungen bestens bekannten Rüden, seine Gattin machen wir denn auch nicht weit entfernt im Wald aus. Bereits nach drei Tagen kann die Reisegruppe beide im Nationalpark frei lebenden Kanidenformen auf der Wunschliste abhaken. Glück muss man haben. Glück nur dem, der es verdient?

Mein kanadischer Freund Steve Wadlow zeigt den interessierten Reiseteilnehmern Hunderte, meist weibliche Wapiti-Hirschkühe (vergleichbar mit unserem Rotwild), diverse Dickhornschafe, unterschiedliche Rehwildarten und Adler. Dazwischen beobachten wir ein Kojotenpaar, das auf permanenter Futtersuche durch den nahe der Stadt Banff gelegenen, still verträumten Golfplatz schlendert. Der Rüde bahnt die Spur durch Tiefschnee, die Kojotin trottet im Abstand von wenigen Metern hinterher. Dieses Pärchen wurde berühmt, weil es während der Aufzucht im Sommer regelmäßig gestohlene Golfbälle zur Höhle trägt, wo die Welpen das neue Spielzeug begeistert entgegennehmen. Familie Kojote hat den mehrere Kilometer umfassenden Golfplatz zum Revier erklärt und erbeutet mitunter sogar kränkelnde beziehungsweise verletzte Wapiti-Hirschkühe. Den mit stattlichen Geweihen ausgestatteten Hirschmännchen geht man lieber aus dem Weg, die Verletzungsgefahr ist halt doch ein wenig zu hoch. Auch in anderen Regionen des Nationalparks beobachten wir regelmäßig Kojoten und bestaunen ihr angepasstes Verhalten.

Da hat es der Wolf schon schwerer. In unmittelbarer Nähe der Stadt lässt er sich nicht blicken, sodass direkte Sichtungen sehr selten sind. Und dennoch: Am 10. Februar empfängt der Telemetriereceiver starke Signale. Die Wölfe müssen ganz in der Nähe sein. Innerhalb einer zugefrorenen Sumpflandschaft entdecken wir Reste eines Hirschkadavers, der sowohl von einer ganzen Rabenhorde als auch von Stein- und Weißkopfseeadler stark besucht wird. Geduldiges Ausharren auf einer Anhöhe bringt letztlich den erwünschten Erfolg: Gegen vierzehn Uhr sichten wir den Alpharüden. Er schleicht sich völlig lautlos an den Kadaver, verscheucht lästige Raben und legt sich gemütlich zum Fressen nieder. Wie ein Geist tritt die Alphawölfin aus der schützenden Deckung des Waldes, bleibt in einigem Abstand zum Rüden im Schnee liegen und überprüft die Umgebung sehr genau. Sie ist körperlich in ausgezeichneter Verfassung. Es ist die Wölfin Aster, die ich inklusive ihrem jeweiligem Nachwuchs jeden Sommer seit nunmehr vier Jahren beobachte. Es kommt ein beruhigendes Gefühl auf, Aster wohlauf zu sehen. Wir beobachten die Wölfe über mehrere Stunden. Der Alpharüde wälzt sich im Kadaver, uriniert um und auf die Nahrungsquelle. Dann reißt er ein Stück heraus, trottet zur Wölfin und präsentiert ihr schwanzwedelnd dieses Geschenk. Der Rüde nimmt den Liegeplatz ein und Aster läuft zum Kadaver, verscheucht hin und wieder anwesende Raben, frisst ein paar Brocken und wälzt sich genüsslich. Die Aktionen verlaufen ritualisiert und wie aus dem Lehrbuch. Langsam bricht die Dämmerung herein, und wir können die Wölfe nur noch schemenhaft erkennen. Die Reiseteilnehmer sind begeistert: direkte Wolfsbeobachtungen auf einen Kilometer Entfernung.

Mit Hilfe von Teleskop und Fernglas ist es kein Problem, jede Interaktion der Wölfe nachzuvollziehen. Einige Leute probieren ihre Videokameras mit großem Erfolg aus, über ein zweiundvierzigfaches Zoom kann man jede Gestik genau erkennen.

Am nächsten Tag wollen die Wölfe gerade die Untertunnelung der Kanada-Autobahn One aufsuchen, sodass wir den Alpharüden mehr zufällig nur wenige Meter entfernt am Waldrand stehend entdecken. Danach sind die Wölfe wieder für einige Tage verschwunden. Wir freuen uns aber schon auf die Begegnung mit der dritten Kanidenart, den Schlittenhunden. Einen ganzen Tag sind wir mit fünf Schlitten und je zehn Hunden in der kanadischen Wildnis unterwegs und lernen ein wenig, die Schlittengespanne zu lenken. Pure Gaudi ist angesagt. Mittagspause am Lagerfeuer, freundliche Kanadier und völlig entspannte Hunde während der Laufpausen. Hier sehen wir noch Huskies und Alaskan-Malamutes des alten Schlages, keine auf Rennmaschinen hochgezüchtete Nervenbündel. Hier sind die Musher um das Wohlergehen jedes einzelnen Tieres sehr bemüht, überprüfen regelmäßig deren Gesundheitszustand und legen angebrachte Pausen ein. Die Hunde sind von ihrer Arbeit sichtlich begeistert und zeigen immer wieder an, dass sie rennen wollen. Dennoch ist Besonnenheit gefragt, denn auch wenn man es bei winterlichen Außentemperaturen kaum vermuten würde, haben unsere Hunde das Problem, sich wohldosiert ihrer Körperhitze zu entledigen. Sie sind im Gegensatz zum Menschen eben keine Porenatmer. Erfahrene Hunde, wie unser Leithund Willy, teilen ihre Energie je nach Geländeform geschickt ein. Am Ende des unvergessenen Ausflugstages nehmen wir erstaunt zur Kenntnis, dass die Hunde trotz dreistündiger Pause fast fünfzig Kilometer Entfernung überbrückt haben. Wir unterhalten uns noch ein wenig über die Wölfe aus der Region, die die Musher jedoch äußerst selten zu Gesicht bekommen, auch wenn man sie hin und wieder heulen hört. Der Abschied von den Hunden ist angesagt. Die interessiert allerdings nur noch ein warmes und gemütliches Ruheplätzchen.

Mein Freund Steve stimmt uns schon einmal auf das nächste Ereignis ein. Ein Besuch im Reservat der Stoney-Indianer und besonders in deren Schule ist keine Selbstverständlichkeit. Nur weil Steve die Stoneykinder hier mehrere Jahre lang unterrichtete, erhielt unsere Gruppe eine Sondergenehmigung, unter anderem auch am Unterricht teilnehmen zu dürfen. Wir merken sehr schnell, dass jegliches Bild einer in Deutschland vorherrschenden Indianerromantik mit der Realität nichts gemein hat. Die Kinder schwanken zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen, ihr Inneres unterliegt einem deutlichen Zwiespalt: Stoney-Sprache und -Kultur auf der einen, Konsumwelt auf der anderen Seite. Die Vermittlung indianischer Kunst soll nun helfen, zukünftige Perspektiven aufzuzeigen. Die Instabilität der Stoney-Schüler hinterließ in uns Westeuropäern ein Gefühl von Traurigkeit und Wehmut. Ein alter Klanchef, Leiter der Gesamtschule, informierte tief betroffen über die Geschichte und die zu erwartende Zukunft seines Volkes. Hoffnung gaben dann jedoch wieder jene Schülerinnen, die uns mit leuchtenden Augen einige Grundbegriffe der Stoney-Sprache vermitteln wollten und sich anschließend über unsere merkwürdige Aussprache amüsierten. Innerhalb des Reservates trifft man auf Horden von halbwilden Straßenhunden, die ein hartes Leben führen. Ständig auf der gezielten Suche nach Nahrung und geschützten Unterkünften zur Reproduktion, zeigen die meisten Dorfhunde starkes Meideverhalten gegenüber Menschen. Der harte Überlebenskampf findet außerhalb menschlicher Hausstände statt und gestattet dem Hundenachwuchs nur restriktive Verbreitungsmöglichkeiten. Unser kanadischer Begleiter Steve hat zwei Tiere aus Indianerreservaten aufgenommen, die inzwischen alle Privilegien von modernen Haushunden genießen.

Zurück zu den Wildkaniden. Mehrere Sichtungen diverser Kojoten unterstreichen die Tatsache, dass diese Tiere perfekte „Abstauber“ sind, da sie geruchlich zielgerichtet weit verstreute Kadaver finden und somit im Naturkreislauf eine wichtige Rolle spielen. Wiederum sind es Raben, die den Kojoten als „erhöhte Augen“ dienen und deren Gezeter um verendete Huftiere als hervorragendes Signal genutzt wird. Canis latrans nutzt im Banff-Nationalpark alle ökologischen Nischen, die sein großer Verwandter Wolf wegen seiner großen Scheu vor dem Menschen nicht besetzen kann. Kojoten wissen zudem, dass sich die regionale Hirschpopulation während des langen und harten kanadischen Winters um die Stadt Banff konzentriert. Jahreszeitlich begrenzt rotten sich zuweilen mehrere Tiere innerhalb eines Rudels zusammen und greifen durchaus erfolgreich geschwächte Wapitikühe oder junge, unerfahrene Hirschbullen an.

Bis zum 13. Februar haben wir keinerlei Kontakt zu den Wölfen. Am nächsten Morgen empfangen wir endlich wieder vielversprechende Signale, die hochgradig motivierend wirken. Im fünfzehn-Minuten-Takt überprüfen wir den Standort der Wölfe, der sich jedoch nicht um ein Grad verändert. Nun ist Geduld gefordert. Die Wölfe nutzen sicherlich den sonnigen Vormittag, um sich – von uns unbemerkt – auszuruhen. Von einer Anhöhe aus haben wir einen optimalen Blick über die vor uns liegende Seenlandschaft. Wir warten und warten, Stunden vergehen. Dann ist es endlich soweit.

Genau um siebzehn Uhr tritt die Alphawölfin aus dem nur fünfhundert Meter entfernten Waldrand und trottet ohne jegliche Hast gemütlich über den zugefrorenen See. Es dauert einige Minuten, bis wir auch den Alpharüden an seiner unverkennbaren Maske identifizieren können. Die Alphawölfin schaut sich mehrfach nach dem Rüden um. Wedelnd hält sie kommunikativen Kontakt und ergreift die Initiative. Sie läuft zu einem einige Hundert Meter entfernten Hirschkadaver. Voller Spannung beobachten wir die Szene. Viel ist von dem verendeten Hirsch nicht übrig geblieben, denn Adler, Elstern und Raben haben bereits ganze Arbeit geleistet. Am Kadaver angekommen, verscheuchen die Wölfe zunächst einmal die ihnen lästigen Nahrungskonkurrenten. Mühelos und ohne Kraftanstrengung zieht die Alphawölfin das komplette Knochengerüst einige Meter durch den Schnee, ehe sie einen großen Brocken aus dem Kadaver reißt. In aller Ruhe sind Beuteschütteln und anschließendes Konsumieren angesagt. Hungrig scheinen unsere Wölfe nicht zu sein, denn ihre körperliche Verfassung ist ausgezeichnet. Der Rüde legt abseits des Kadavers eine kleine Ruhepause ein. Wir beobachten anschließend freundliche Kontaktaufnahme, Nasenkontakt und Schnauzwinkellecken. Rüde und Wölfin zeigen Parallellauf, schwanzwedelnde Spielaufforderungen und Zuneigung. Unverkennbar hat die Paarungszeit begonnen. Über zwei Stunden beobachten wir fasziniert und überglücklich unsere „Flitterwöchner“, bis wir mit Einbruch der Dunkelheit nichts mehr erkennen können.
(Günther Bloch; Wolf Magazin 1/98)

 

Buchtipp

„Wölfisch für Hundehalter. Von Alpha, Dominanz und anderen populären Irrtümern“
Günther Bloch & Elli H. Radinger, Kosmos 2010
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