Mit dem Wolf in uns leben

Psychologische Aspekte der Wolfsfolklore

Wenige werden abstreiten, dass, wenn es um den Fortbestand des Wolfes geht, die menschliche Einstellung ausschlaggebender ist als rein wirtschaftliche Faktoren. Für die meisten Menschen war der Wolf nicht nur ein zu fürchtender Nahrungskonkurrent, sondern auch das Hauptsymbol einer ungezähmten Natur, der Wildnis, die den menschlichen Fortschritt verhindert. Von dem Wort „Wolf“ überschattet werden so viele negative menschliche Assoziationen, dass das Tier selber hinter seinem Namen verschwindet. In der modernen, städtischen Gesellschaft, die schon längst ihren Kontakt zu Tieren verloren hat, wird das Wort nur stets mit menschlichen moralischen Fehlern in Verbindung gebracht wie unersättlichem Hunger, Lust, Gier und Betrug. Warum haben wir dieses Tier zur Fundgrube aller negativen Qualitäten gemacht? Und was bedeutet es, dass wir nun ein Interesse daran haben, den Wolf zurückzubringen?

Viel von dem traditionellen Hass und der Verfolgung von Wölfen wird mit den wirtschaftlichen Verlusten in Verbindung gebracht, die wir durch sie erlitten haben. Dennoch möchte ich mich auf einige der dunklen, psychologischen Grundlagen dieser Feindschaft konzentrieren. Für eine Änderung unserer Einstellung gegenüber den Wölfen ist es sicherlich wichtig, als Erstes zu unterscheiden zwischen den Tieren selber und den symbolischen Fantasie-Tieren, die wir erfunden haben. Aber das ist keine einfache Aufgabe.

Statt das Verhalten von Tieren als Anpassung an ihre Umwelt zu verstehen, neigen wir Menschen dazu, sie mit menschlichen Attributen und moralischen Qualitäten zu versehen. Wir sagen, sie sind schön oder hässlich, gut oder böse. Indem wir die Tiere vermenschlichen, können wir versteckte Urteile über uns selbst aussprechen. Menschen als Schweine, Ratten, Schlangen oder Wölfe zu bezeichnen, verzerrt nicht nur das Vertrauen zu diesen Tieren, sondern es ist auch ein indirekter Weg, die unangenehmen Aspekte von uns selbst zu kommentieren, ohne in den Spiegel schauen zu müssen. Der offensichtliche Mangel an moralischen Hemmungen, den wir in den Tieren sehen, macht sie zu guten Metaphern für Menschen, die kulturell definierte moralische Grenzen überschreiten.

In unserer Gesellschaft sind die Grenzen zwischen Gut und Böse traditionell gezogen worden durch die Wechselbeziehung zwischen dem, was zivilisiert und dem, was als wild angesehen wird. Wildnis bedeutet nach der Definition des Lexikons: „Das Fehlen von moralischen oder sozialen Schranken.“ Was wild ist, ist ohne Regeln, irrational, unvorhersehbar, außer Kontrolle. In diesem Zusammenhang bezieht sich das Wort „wild“ auf beides, das Chaos der Natur außerhalb unseres Einwirkungsbereiches und unser eigenes, ungeregeltes, biologisches Bedürfnis. Was für uns zivilisiert bedeutet, ist auf der anderen Seite rationale Kontrolle unserer Impulse und die Herrschaft über die Kräfte der Natur

Tiere im Allgemeinen dienen als Symbol für die Wildnis in uns, die sich dem rationalen oder moralischen Fortschritt in den Weg zu stellen scheint. Die Tiere, die in unserer Hierarchie der emotionalen Beurteilungen am negativsten erscheinen, sind diejenigen, denen wir am meisten einen Mangel an sozialen oder moralischen Hemmungen unterstellen. Unsere Antipathie gegenüber diesen Tieren reflektiert unsere Angst über den eigenen Mangel an Selbstkontrolle. Wenn wir Menschen als „Tiere“ bezeichnen, meinen wir damit, dass sie triebhaft, zügellos, unsauber, ruhelos und grausam sind.

Wölfe sind der Urtyp des wilden Tieres mit allen Bedeutungen, die das Wort „wild“ für uns im Sinne von ungezähmtem, moralischem Verhalten hat. Als Ergebnis haben Wölfe seit über 2.500 Jahren als Metapher für unsere eigenen kriminellen Bedürfnisse und grausamen Wünsche gedient. Ein Autor schrieb 1930 über Werwölfe, dass „die besonderen Kennzeichen des Wolfes (...) ungezähmte Grausamkeit, bestialische Wildheit und gieriger Hunger sind. (...) Er ist das Symbol der Nacht und des Winters, von Krisen und Sturm und ein dunkler Vorbote des Todes.“

In der Bibel ist der Wolf das Sinnbild für Verrat: „Hütet euch vor falschen Propheten, die in der Kleidung eines Schafes zu euch kommen, innerlich aber gierige Wölfe sind.“

Homer beschrieb den Wolf in der Ilias als ein Symbol von Wildheit und außerordentlich bösem Appetit, von grausamer, verschlingender Lust. Äsop präsentierte den Wolf in seinen Fabeln zur Unterhaltung von Kindern als grundsätzlich unintelligent, gierig, leichtgläubig, frech und moralisch korrupt. Im Lateinischen bedeutet die Bezeichnung „lupa“ Wölfin und bezog sich auf Prostituierte, die hinter ihrer Beute her waren. „Lupo“ beschrieb männliche Wüstlinge. Es bezog sich auch auf ungerechte Edelmänner, die die Armen schröpften. Vermutlich wird die Bürde menschlicher Unmoral, die der Wolf trägt, am besten zusammengefasst in der Beschreibung von Barry Lopez:

„Als man den Wolf auf den mittelalterlichen Schlachtfeldern Aas fressen sah, wurde er beschimpft, weil man davon ausging, dass er ausreichend intelligent war, um zu wissen, dass das, was er tat, falsch war, es aber dennoch tat.“ Der Inbegriff des Sünders.

Shakespeare stellte die verschiedenen Wünsche des Menschen dar als „wölfisch, blutig, verhungert und gefräßig“. Er beschrieb den Wolf als ein Symbol der Wildnis, die wir Menschen unterdrücken sollten: „Da alles in Ordnung ist, lasst es so sein. Weckt nicht einen schlafenden Wolf.“

Was ist dran an dem Wolf, das ihn zu so einem fruchtbaren Boden macht für unsere beunruhigenden Charakterzüge? Sicherlich ist es von Bedeutung, dass er in unserer gemäßigten Umwelt der einzige große, soziale Beutegreifer ist. Somit ähnelt er uns auf viele Art und Weise: mit seinen scharfen Sinnen und seinen klaren, intelligenten Augen, voller natürlicher Weisheit und Neugier; seine Fähigkeit, schnell zu lernen und sich gut zu erinnern; sein komplexes, ausdrucksvolles Repertoire, das es ihm ermöglicht, in zusammenhängenden Gruppen zu leben und verschiedene soziale Aktivitäten zu koordinieren. Wölfe leben in einem großen Revier und ernähren sich von einer Vielzahl von Tieren, aber (wie auch wir) können sie sich darauf spezialisieren, Tiere zu töten, die größer sind als sie selbst. Große Beute ist potenziell gefährlich, und darum müssen Wölfe extrem vorsichtig sein, wenn sie angreifen und ihre Bewegungen mit denen der anderen Rudelmitglieder koordinieren.

Jäger kannten sicherlich dieselbe Vorgehensweise, Gesellschaftsgruppen, die Jagd betrieben und die voll in die Natur eingegliedert waren, fühlten eine starke Identifikation mit den Tieren als verwandte Seelen – sogar mit denen, die sie töteten. Komplizierte Zeremonien rationalisierten ihre Tötungen. Diese Menschen respektierten Wölfe, auch wenn sie ihre direkten Nahrungskonkurrenten waren.

Als sich dann die Menschen in festen Gemeinschaften niederließen und sich hauptsächlich von Korn und Haustieren ernährten, veränderte sich ihre Einstellung zur Wildnis. Was sie früher im Wolf und in sich selber bewunderten, schien nun falsch. Schließlich verhärteten griechische und christliche Einflüsse diese Gefühle in ein Dogma der Trennung von Mensch und Natur und auch in ein Dogma der Überlegenheit des Menschen über die Natur. Ebenso wie die Kräfte der Natur von uns für die Zivilisation gezähmt und kontrolliert werden mussten, so mussten auch unsere wilde innere Natur, unsere Leidenschaft und unser Appetit unterdrückt werden. Wir haben uns progressiv von uns selbst und unseren körperlichen Bedürfnissen distanziert, um zu leugnen, dass wir ein Teil der Welt sind, in der Leben bedeutet, anderes Leben zu töten.

Ohne Zweifel ist die Kalkulation, mit der der Wolf die Schwäche seiner Beute abschätzt und das Verfolgen durch das Rudel das Produkt einer gewissen Intelligenz. Wie verlockend, den Wolf zu beschuldigen, das Blutbad des Tötens zu genießen, macht es doch uns selbst zu sauberen und zivilisierten Geschöpfen, wenn wir tun, was wir tun müssen.

Wölfe teilen offensichtlich nicht unsere Moralauffassungen. Wenn wir ihnen schlechte Absichten zuschreiben, dann sind dies immer unsere eigenen Absichten in Verkleidung. Was uns am Wolf stört, sind all die Dinge, die uns an unserer eigenen „Raubtiernatur“ stören. Manchmal ist dies transparent. Eine Abhandlung, die 1989 von einer Gruppe geschrieben wurde, die die Wiederansiedelung von Wölfen als eine ethische Umweltkatastrophe sieht, stellt „zwölf historische Fakten über Wölfe“ auf und behauptet unter anderem, dass Wölfe grausam seien, nur um des Tötens willen töteten und der Feind aller anderen Tiere seien. Ohne Zweifel treffen solche Behauptungen mit Sicherheit auf den Menschen zu.

Unakzeptable Wünsche auf andere zu übertragen, sie „böse“ zu nennen, ist eine Masche, die es dem Angreifer erlaubt, vorzutäuschen, dass er selbst unbefleckt sei. Unsere dunkle Raubtierseite auf Wölfe zu projizieren, gibt uns das Gefühl, dass wir nicht mehr länger Tiere sind, die von unserem eigenen Appetit beherrscht werden, sondern rationale Wesen in Kontrolle unseres Schicksals.

In einer Kultur, die besessen ist von rationaler Selbstkontrolle, sind verbotene Wünsche eine ständige Verführung, und die Angst, die Kontrolle zu verlieren, zurück in die Wildnis zu gleiten, ist allgegenwärtig. Wir reagieren auf Tiere mit zwiespältigen Gefühlen, weil auf der einen Seite Tiere all das symbolisieren, von dem wir glauben, dass wir dem in uns selber widerstehen müssen. Auf der anderen Seite klingt ihr ungezähmtes Verhalten in uns durch und erweckt unsere versteiften, natürlichen Impulse.

Tiere wie der Wolf erinnern uns daran, dass wir vielleicht nicht die rationellen, kontrollierten Staatsbürger sind, die wir vorgeben zu sein. Sie berühren unsere unterdrückten Tiefen und locken uns mit dem Versprechen besonderer Kräfte und persönlicher Befriedigung. Dies ist auch die traditionelle Überzeugungskraft des Bösen, das immer mit Tieren wie dem Wolf in Verbindung gebracht worden ist.

Die Werwolf-Figur in unserer Kultur ist eine mythologische Brücke zwischen Tieren und dem Biest in uns, einem menschlichen Wesen, das sich den Versuchungen körperlicher Verlockungen ergeben hat und somit in Ungnade gefallen ist.

In modernen Märchen wie „Rotkäppchen“ steht der Wolf für die Korruption der Unschuld durch ein kalkulierendes Ego, geboren, um seine verzwickten Wünsche zu befriedigen. Dieser metaphorische Gebrauch des Wolfes entstand ohne Zweifel aus seinen opportunistischen Jagdmethoden, besonders wenn sich diese Methoden gegen unsere unschuldigen, verletzlichen Haustiere richteten.

Auf einer tieferen Ebene präsentierte diese Hauptfigur vermutlich zwei Seiten unserer eigenen Natur: eine, die in dem unschuldigen Mädchen idealisiert wird, und die andere, unsere eigene Selbstgefälligkeit, die in uns selbst verleugnet und auf den Wolf übertragen wird.

Wenn Wölfe unser böses, anderes Ego repräsentieren, dann ist der Hund unsere idealisierte, gute Seite, ein Spiegel, der das glänzende Bild einer Natur reflektiert, die sauber und heil ist, frei von Leiden, Grausamkeit und Ungerechtigkeit, nicht mehr länger ein wilder Gegner, sondern gezähmt und vermenschlicht, ein hingebungsvoller, anbetender Verbündeter. Diese Qualitäten, die in einem Konkurrenten nicht geduldet werden können, werden erstrebenswert in einem loyalen Sklaven. Der Hund ist das Symbol unserer Meisterschaft über die Natur. Er ist ein Wolf, den wir für unsere Kinder „sicher“ gemacht haben, eine Metapher für unser eigenes domestiziertes Leben.

Die Bemühungen, die Wölfe wieder zurückzubringen, ist Teil einer gegenwärtigen, politischen Neuordnung kultureller Werte, eine Bewegung in Richtung Erweiterung menschlicher Horizonte. Beschäftigt mit rationaler Kontrolle, haben wir den Kontakt zu unserem innersten Selbst verloren. Indem wir die Natur gezähmt und zu einem Status reiner Ressourcen für unseren exklusiven Gebrauch gemacht haben, beginnen wir, den Verlust dessen zu bedauern, was einst eine tief empfundene Verbindung zur Erde war, die uns unterhielt und uns ernährte.

Wölfe sind auch heute noch Symbole der Wildnis, so wie sie es immer waren, aber für eine steigende Anzahl von Menschen symbolisieren sie nicht mehr Kräfte, die erobert und gezähmt werden müssen, sondern unterdrückte Elemente unserer städtischen Seelen, die wir nicht länger verleugnen können.

Indem wir den Wolf zurückbringen, versuchen wir die Einheit wiederherzustellen, nicht nur der Welt draußen, sondern auch unserer inneren Welt. Um das zu erreichen, ist es nötig, unsere dunkle, so genannte „tierische“ Seite anzuerkennen und sie in unsere moralischen Ideale zu integrieren.

Nur wenn wir unsere eigene Wildnis akzeptieren und verstehen, hören wir auf, sie auf andere Tiere wie den Wolf zu projizieren und sie zu ihren Bedingungen zu akzeptieren. Erst wenn wir einen gewissen Grad an Harmonie in uns selbst erreicht haben, reizt es uns auch, ein Gleichgewicht zwischen den menschlichen Bedürfnissen und denen der natürlichen Gemeinschaft herzustellen, von der wir nur ein Teil sind.

Das Schicksal des Wolfes hängt unweigerlich mit dem der Wildnis zusammen. Die unterschwellige Frage der Rückkehr von Wölfen ist nicht, ob die Interessen von Viehzüchtern, Jägern und Umweltschützern in Einklang gebracht werden können, sondern ob die Beziehung der Menschheit zur wilden Natur weiterhin eine der versuchten Kontrolle sein wird oder eine der Akzeptanz.
(Elli H. Radinger; Wolf Magazin 2/1994)