Berge, Wölfe und Geysire
Wolfsbeobachtung im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark
Vorab eine Warnung: Diese Reise macht süchtig!
Wer Wölfe liebt und sie einmal in freier Wildbahn gesehen hat, wird immer wieder kommen wollen. So erging es auch uns, die wir an diesem dämmrigen Februarmorgen, alle Kälte vergessend, fasziniert die fünf Wölfe beobachteten, die sich mühsam den Weg durch den tiefen Schnee bahnten. Wir waren in den Yellowstone-Nationalpark gekommen, um hier im ältesten Nationalpark der Welt die Wölfe zu beobachten.
„Yellowstone“ – Gelber Stein. Schon der Name verfehlt nicht seinen Zauber. Yellowstone – Land aus Feuer und Eis. Ein Märchenland von 250 aktiven Geysiren, heißen Quellen, zahlreichen Wasserfällen, schneebedeckten Bergen, Schlammvulkanen und mit einem unvergleichlichen Wildbestand (dem größten in den USA). Yellowstone im Winter, das ist die Zeit, in der der Park den Tieren und den wenigen Besuchern gehört, die seine wahre Schönheit trotz Temperaturen von bis zu minus 40° Celsius zu schätzen wissen.
Unsere kleine Gruppe von Wolfsbeobachtern hatte wohl in diesem Winter nicht nur die Hand des Wettergottes über sich, sondern auch die des Wolfsgottes. Neben angenehmen Temperaturen, nur wenig unter dem Gefrierpunkt, und gelegentlichen sonnigen Tagen hatten wir auch das Glück, so viele Wölfe zu sehen wie selten.
Im Yellowstone-Nationalpark mit seiner riesigen Fläche von neuntausend Quadratkilometern beobachtet man Wölfe am besten im Lamar-Valley, dem Tal, das sich im nordöstlichen Teil des Parks von Tower Roosevelt bis zum Nordost-Eingang erstreckt, und das wegen seiner Tiervielfalt auch „Serengeti Amerikas“ genannt wird. Hier, entlang der circa fünfzig Kilometer langen einzigen Straße, die durch das Tal führt, wollten wir uns in den nächsten Tagen aufhalten. Es ist ein idealer Ort für die großen Beutegreifer. Ein weites, offenes Tal, in dem sich die meisten der 15.000 im Park überwinternden Hirsche aufhalten, umsäumt von Bergen mit Wald und ausreichend Deckung.
Wölfe sind sehr scheue Tiere, und so sehr wir auch hofften, in den nächsten Tagen ein paar zu sehen, bemühten wir uns doch, nicht allzu viel zu erwarten. Umso aufgeregter waren wir, als wir schon beim Hineinfahren in den Park fünf große Wölfe bei einer Herde Wapitis stehen sahen. Doch als wir näher kamen, entpuppten sich die „Wölfe“ als Kojoten, die hier im Park wegen des Überangebots an Nahrung eine erstaunliche Größe erreichen und daher von Touristen auch oft mit Wölfen verwechselt werden.
Seit der Wiedereingliederung der Wölfe in den Yellowstone-Nationalpark hat sich das Leben der Kojoten nicht gerade vereinfacht. Nachdem fast fünfzig Prozent ihrer Population in den ersten beiden Jahren von den Wölfen getötet wurden, waren sie inzwischen sehr viel wachsamer und vorsichtiger geworden. Immer wieder schauten sie sich um, besonders wenn sie sich an Tierkadavern aufhielten.
Kojoten gelten nicht umsonst als die Überlebenskünstler unter den Kaniden, und so haben sie sich in kürzester Zeit auch in Yellowstone an die Gegenwart der Wölfe angepasst. Im Park sind zurzeit vierzehn Kojoten von Biologen mit Radiohalsbändern ausgestattet worden, ein Kojote pro Gruppe, sodass man von etwa vierzehn Kojotenfamilienverbänden ausgehen kann. Wir konnten bis zu zwölf Kojoten in einer Gruppe zählen.
Die Kojoten waren es auch, die am leichtesten zu beobachten waren. Sie fühlten sich während unserer Anwesenheit kaum gestört. Vermutlich lag es auch daran, dass jetzt Paarungszeit war. Und so konnten wir auch hier oft Kojotenpaare beim Liebeswerben beobachten. Dabei fühlten wir uns manchmal schon wie Voyeure eines intimen Ereignisses und ließen nach ein paar anfänglichen Fotos das Paar in seiner Zweisamkeit zurück. Denn wie bei jeder Wildbeobachtung galt auch für uns der Grundsatz, die Tiere in ihrem natürlichen Verhalten möglichst nicht zu stören.
So konnte sich die Fotoausbeute des ersten Tages sehen lassen: jede Menge Tiere: Kojoten in allen Lebens- und Liebeslagen, Wapitis, Weißkopfseeadler, Gabelhornantilopen und unzählige Bisons – aber noch keine Wölfe.
Inzwischen wussten wir ungefähr, wo sich die Wölfe zuletzt aufgehalten hatten. Wir hatten einige andere Wolfsbeobachter entlang der Straße getroffen und mit Biologen gesprochen, die mit einer Telemetrieantenne auf den Spuren der Kaniden waren.
Und so brachen wir am nächsten Tag schon früh morgens noch in der Dunkelheit auf. Unser Allradwagen zog eine frische Spur durch den tiefen Schnee, der über Nacht gefallen war, und es dauerte nicht lange, bis wir die ersten Kojoten sahen, die gerade einen jungen Hirsch gerissen hatten. Wir beobachteten sie eine Weile und fuhren dann weiter. Kurze Zeit später trafen wir auf eine andere Gruppe Frühaufsteher, die ebenfalls auf der Suche nach Wölfen waren.
Wolfsbeobachter sind eine neue Sorte der „Touristenspezies“, mit denen die Parkverwaltung zu tun hat, nachdem 1995 die ersten vierzehn Wölfe aus Kanada in den Park geflogen worden waren und 1996 weitere siebzehn. Erst waren es nur wenige, und während sich die Nachricht verbreitete, kamen Hunderte. Der Park hatte keinen Plan und keine finanziellen Mittel für die Hobbybiologen. Aber die Wolfstouristen konnten sich sehr gut um sich selbst kümmern, und unter ihnen entstand eine Art „ethisches Bewusstsein“. Wenn jemand zu laut war, die Autotür zuschlug oder versuchte, sich den Wölfen zu nähern, wurde er von einem oder mehreren aus der Gruppe zurückgehalten und aufgeklärt. Außerdem waren sie den Biologen des Parks eine große Hilfe, da vier oder zehn Augen oft mehr sahen als zwei und sie wertvolle Auskünfte über den Verbleib der Wölfe geben konnten.
Auch wir trafen immer wieder diese „Wolfgroupies“. Viele von ihnen verbringen ihre gesamten Ferien damit, die Tiere zu beobachten. Wann immer wir eine kleine Gruppe von Menschen am Straßenrand stehen sahen, die bestens ausgerüstet mit großen Fernrohren angestrengt in eine Richtung schauten, hielten wir an. Schnell wurden wir aufgeklärt, wo die Wölfe gesichtet worden waren. Und während wir alle gemeinsam warteten, dass sie wieder auftauchten, tauschten wir Geschichten aus.
Bei einer solchen Versammlung sahen wir dann endlich auch unsere ersten Wölfe im Yellowstone-Nationalpark. Nur mit dem Fernglas waren sie am gegenüberliegenden Berghang auszumachen. Fünf Wölfe, die durch den dichten Wald liefen und nur gelegentlich zwischen den Bäumen zu sehen waren. Aber auch aus der Ferne konnten wir sehen, wie groß und kräftig die Tiere waren. Es handelte sich um die Druid-Wolfsfamilie, die hier im Lamar-Valley ihr Revier hatte. Die Aufregung in der kleinen Beobachtergruppe am Straßenrand war groß und das Gedränge um das Fernrohr dicht. Und jeder, der hindurchblickte, bekam plötzlich glänzende Augen. Das war es, wofür wir hierher gekommen waren: die Wölfe von Yellowstone!
Der Yellowstone-Nationalpark gilt als das einzige völlig intakte Ökosystem Nordamerikas, und das Lamar-Valley ist seit 4000 Jahren in seiner Artenvielfalt unberührt. Alle Tiere der Nahrungskette waren hier vorhanden – bis auf die Wölfe. Erst seit der äußerst umstrittenen und von Ranchern heftig umkämpften Wiederansiedlung ist die Nahrungskette wieder vollständig. Mit Ausnahme von zwei Todesfällen in den letzten Jahren geht es der Wolfspopulation inzwischen hervorragend. Während unserer Anwesenheit (im Februar 2000) befanden sich einhundertsechzehn Wölfe im Park. Für Biologen ist dies eine noch nie da gewesene Gelegenheit zu beobachten, wie eine Tierart lernt, in neuem Lebensraum zu überleben, und welche Auswirkungen dies auf die anderen Tierarten hat. Im Laufe der letzten Jahre gab es viele Überraschungen, als die Wölfe umherwanderten, neue Familienverbände formten, Territorien bildeten und viele überzählige Hirsche töteten.
Die bekannteste Wolfsgruppe im Park, die Rose-Creek-Familie, konnten wir kurze Zeit später in etwa fünf Kilometer Entfernung auf einer gut einsehbaren freien Bergkuppe beobachten. Vierzehn(!) prächtige, meist schwarze Wölfe lagen zusammen, ruhten sich aus oder spielten gelegentlich, bis sie nach fast zwei Stunden in Reih und Glied weiterzogen und unserem Blick entschwanden.
Unser Adrenalinspiegel hatte sich inzwischen zu ungeahnten Höhen aufgeschwungen, zumal uns andere Wolfsbeobachter immer wieder versicherten, dass sie in den letzten Jahren niemals so viele Wölfe auf einmal gesehen hätten.
Aber es sollte noch besser kommen. Wenige Kilometer weiter stießen wir auf zwei Wölfe, die gerade eine Wapiti-Hirschkuh gerissen hatten. Die große Hirschherde stand noch eng zusammengedrängt und beobachtete die Wölfe, ebenso wie eine kleine Gruppe von vier Hirschkühen, die die Wölfe vermutlich von der Herde abgetrennt und aus deren Mitte sie sich ihre Nahrung geholt hatten.
Beide Wölfe waren gerade dabei, den Hirsch aufzureißen und so in ihre Arbeit vertieft, dass wir leise auf der Straße anhalten und aussteigen konnten – weniger als einen Kilometer entfernt. Wir beobachteten die Tiere eine Weile, und keiner von uns wird wohl die glücklichen, blutverschmierten Gesichter der Wölfe vergessen, als sie ab und zu von ihrem Fressen aufsahen.
Eines der Tiere trug ein Radiohalsband. Im Yellowstone-Nationalpark sind zurzeit sechsundzwanzig Wölfe in sieben Familienverbänden mit Radiohalsbändern ausgestattet. Die Wölfe werden mit einem Betäubungsgewehr aus einem Helikopter beschossen. Wenn sie dann schlafe, werden sie untersucht und ihnen wird Blut abgenommen. Dann erhalten sie ein Radiohalsband mit einem Sender. Die ganze Prozedur dauert maximal eine halbe Stunde und führt zu keinerlei Verletzungen bei dem Tier.
Nachdem unsere Wölfe sich die Bäuche vollgeschlagen hatten, verließen sie ihren Kadaver um ihn – zumindest für eine kurze Zeit – den Kojoten, Adlern und Raben zu überlassen.
Auch wir nutzten die Ruhepause zu einem Mittagessen und einer Besichtigung der heißen Quellen und Sinter-Terrassen in Mammoth Hot Springs im Norden des Yellowstone-Parks. Aber trotz all der landschaftlichen Sehenswürdigkeiten hielt es uns hier nicht lange. Wir wollten wieder zurück zu den Wölfen.
Da wir hofften, dass sie gegen Abend zurückkehren würden, trafen wir dann am späten Nachmittag erneut an unserem Aussichtspunkt in der Nähe des Kadavers ein. Und wieder verwöhnte uns das Glück. Die Wölfe waren da und machten sich über das her, was ihnen die Kojoten und Adler noch übrig gelassen hatten. Anscheinend hatte es sich auch bei den Adlern herumgesprochen, dass hier Futter lag, denn inzwischen hatten sich mindestens sechs Weißkopfseeadler auf den Bäumen um den Kadaver herum niedergelassen und warteten geduldig.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit beobachteten wir die Wölfe. Fasziniert von diesem einmaligen Schauspiel blickte unsere kleine Gruppe am Straßenrand durch Telelinsen und Ferngläser – voll auf die Wölfe konzentriert. In diesem Augenblick hätten wir fast den Kojoten verpasst, der nur etwa zwei Meter von uns entfernt gemächlichen Schrittes an uns vorüberzog. Erst als einer der Mitbeobachter kurz und scharf den Atem einzog, entdeckten wir den „Trickster“, wie der Kojote von den Indianern genannt wird, und erstarrten zu Salzsäulen. Niemand wagte zu atmen, geschweige denn sich zu bewegen. Der Kojote hielt kurz inne, zögerte, entschied sich aber dann doch, dass wir keine Bedrohung waren, und setzte unbeirrt seinen Weg fort. Erst als er außer Sicht- und Hörweite war, brach das Eis, und keiner konnte sich ob so viel Dreistigkeit beruhigen. Sicher hatten wir (Menschen und Kojote) in den vergangenen Minuten eine filmreife Darstellung geboten.
Bei einem ordentlichen Steak-Dinner unterhielten wir uns an diesem Abend noch lange über den aufregenden Tag.
Auch an den nächsten Tagen waren wir dann wieder von der Morgendämmerung bis zum Einbruch der Dunkelheit auf den Beinen. Wir beobachteten noch einmal die Wölfe, diesmal auf der erneuten, leider vergeblichen Jagd auf einen Hirsch. Von dem Wapiti, den die Tiere am Tag zuvor gerissen hatten, war bis auf ein paar abgenagte Knochen nichts mehr übrig. Die Adler und Raben hatten sich den Rest geholt.
Jeden Morgen pünktlich um sieben Uhr kreuzte eine kleine Herde Wapitihirsche – die „Junggesellen“, wie wir sie nannten – unseren Weg. Wenn wir anhielten, um sie zu fotografieren, trabten sie in schnellem Schritt mit ihren riesigen Geweihen auf dem stolz erhobenen Haupt davon. Auch sie waren durch die Anwesenheit der Wölfe scheuer geworden, hatten sie doch in den Jahren vor 1995 nur die Kojoten zu fürchten. Für die ersten Wölfe, die aus Kanada hierher gebracht worden waren, muss es das reinste Schlaraffenland gewesen sein. Keine Verfolgung mehr durch Jäger, und die Wapitis, die bis dahin noch nie einen Wolf gesehen hatten, blieben stehen und boten damit einen adäquaten Ersatz für die „gebratenen Tauben“, die einem dort bekanntlich in den Mund fliegen sollen. Ganz so einfach ist es für die Wölfe inzwischen nicht mehr. Und an die zahlreichen Bisons, die gemächlichen Schrittes durch den hohen Schnee stapfen und mit ihren mächtigen Zottelköpfen den Schnee zur Seite schaufeln, um an ein wenig Gras zu kommen, haben sie sich bisher nicht gewagt.
Aber auch sonst haben sie das Ökosystem verändert. Weißkopfseeadler, die im Winter früher nach Süden flogen, bleiben nun im Park, weil durch die Wölfe genügend Nahrung für sie übrig bleibt. Und auch die Raben sind dreister geworden.
Von den zweihunderfünfzig Grizzly-Bären des Parks hörte und sah man nichts. Sie lagen gemeinsam mit ihren kleineren und zahlreicheren Schwarzbärvettern in tiefem Winterschlaf.
Der Abschied von den Wölfen, den Kojoten, den
Bisons und den anderen Tieren fiel uns sehr schwer, und am Ende war
uns klar, dass wir bald wieder zurückkehren würden, in den
Yellowstone-Nationalpark und ins Lamar-Valley, die Serengeti
Amerikas.
(Elli H. Radinger; Wolf Magazin 2/99)
Tipp: Wolfsreisen
Der Yellowstone-Nationalpark ist der beste Ort auf der Welt, wo man Wölfe in ihrem natürlichen Verhalten und Umfeld beobachten kann. Elli H. Radinger bietet Interessierten Gelegenheit, sie bei Ihrer Wolfsforschung zu begleiten.
Weitere Informationen:
www.yellowstone-wolf.de und Blog:
http://yellowstone-wolf.blogspot.com