Der Wolfstraum

Er rannte, rutschte, stolperte durch den finsteren Wald. Nebel stand zwischen den Bäumen. Überall leuchteten Tieraugen aus dem Dunkel, beobachteten ihn, belauerten ihn. Sein Atem ging stoßweise. Gehetzt sah er sich um. Verfolgten sie ihn? Da – eine Bewegung direkt vor ihm. Abrupt blieb er stehen. Da stand der Wolf. Er schien ihm riesig. Ein großer, dunkler Schatten. Plötzlich waren der Nebel und die glühenden Augen verschwunden. Er konnte den Wolf jetzt genau sehen, jedes einzelne Haar an ihm. Er riss das Gewehr hoch und zögerte einen winzigen Augenblick. Der Wolf stand nur da und sah ihn an. Ihre Augen trafen sich, und einen Moment war ihm, als wären sie eins …

Thomas Reed schreckte auf. Sein Herz raste. Verwirrt sah er sich um. Er atmete erleichtert auf. Er war zu Hause in seinem Bett. Er wendete leicht seinen Kopf und sah, dass seine Frau neben ihm lag, in tiefem Schlaf. Langsam ließ er sich in sein Kissen zurücksinken. Immer wieder dieser Traum. Irgendetwas jagte ihn durch den Wald und immer traf er diesen Wolf. Immer genau denselben Wolf, und immer sahen sie sich an, er, Thomas, mit dem Gewehr im Anschlag, und der große graue Wolf. Immer wachte er genau in dem Augenblick auf, in dem er seinen Zeigefinger krümmte, um zu schießen. Etwas beunruhigte ihn in diesem Traum, löste tiefes Unbehagen aus, ja ängstigte ihn fast, aber er konnte es nicht benennen. Diese Augen, wie sie ihn ansahen, als wollte ihm der Wolf etwas sagen, aber er verstand ihn nicht.

Seufzend drehte er sich auf die Seite. Er wusste, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Dieser Traum ließ ihn nicht mehr los. Er würde am Morgen wieder völlig gerädert und übernächtigt aufstehen und den ganzen Tag an diesen Wolf denken.

 

„Na, Thomas, wie war dein Wochenende? Wieder mal im Wald rumgeschlichen und einen fetten Sonntagsbraten geschossen?“

Thomas brummte nur als Antwort. Er war müde und schlecht gelaunt. Die offensichtlich blendende Laune seines Kollegen und Freundes James McDonough ging ihm heute auf die Nerven.

„Oh, wir sind nicht gut drauf heute?“ James ließ sich lächelnd in einen Stuhl fallen. „Da hab ich was für dich, das wird dich gleich aufmuntern. Ich hab am Wochenende gehört, dass sie ein paar Leute zusammentrommeln. Irgendwo im Norden soll eine Wolfsjagd organisiert werden. Die nehmen da überhand, und ein paar sind zum Abschuss freigegeben.“

„Wölfe?“ Thomas sah James direkt in die Augen, plötzlich hellwach. „Wölfe?“ wiederholte er noch einmal fragend.

„Wusste ich doch, dass dich das interessiert, alter Junge!“ James lehnte sich zurück und genoss die gespannte Erwartung seines Gegenübers.

„Was für Wölfe? Wo?“

James lachte. „Hier, ich hab dir alles aufgeschrieben. Ich weiß doch, dass du dem nicht widerstehen kannst! Eine Jagd auf Wölfe, das ist schon was!“ Er reichte Thomas einen Zettel über den Schreibtisch.

Thomas erfasste leichtes Unbehagen, während er das Gekritzel las. Stumm starrte er auf das Papier in seiner Hand. Ausgerechnet Wölfe!

„Du kannst ja ruhig anrufen“, unterbrach James seine Gedanken. „Ich habe meinem Bekannten schon gesagt, dass er mit dir rechnen kann.“

Thomas sagte immer noch nichts und starrte weiter auf den Zettel.

„Schon gut, du brauchst dich nicht zu bedanken, das habe ich doch gerne gemacht.“ James wuchtete sich hoch und ging achselzuckend aus dem Zimmer.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schreckte Thomas auf. „Ja, ja, danke James“, murmelte er in Richtung der geschlossenen Tür.

Konnte es solche Zufälle geben? Sein Unbehagen verstärkte sich. Dieser Traum und jetzt das. Was hatte das zu bedeuten? Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und griff zum Telefonhörer.

 

Thomas Reed überprüfte noch einmal seine Jagdausrüstung. Es war ein strahlend schöner Wintertag. In den intensiv blauen Himmel ragten die mit Reif überzogenen Äste der Bäume. Der unberührte Schnee glitzerte in der Sonne wie tausend Diamanten.

Routiniert schulterte er seine Ausrüstung und das Futteral mit seinem Gewehr. Er blickte sich um, sah die anderen Jäger, spürte ihr Jagdfieber fast körperlich und fühlte sich ausgeschlossen. Was war nur los mit ihm? Er war erfüllt von einem Gefühl, das er nicht näher bestimmen wollte. Eine dunkle Vorahnung überschattete alles. Normalerweise würde auch er diese wunderbare Aufregung spüren, dieses warme Kribbeln, das einer Jagd immer vorausging. Es war wie ein Besinnen auf Urinstinkte. Da gab es nur den Jäger, die weite, unberührte Natur und die Kreatur. Dieses erregende Gefühl, wenn man das Wild verfolgt, es schließlich aufspürt, wenn man einen Moment lang Herr über Leben und Tod ist, sich mächtig fühlt und überlegen. Dieser köstliche Augenblick, wo man anlegt, zielt und weiß, man wird als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen. Ja, das war es, ein Triumphgefühl, dass man stärker ist, gewitzter, schlauer, der Natur überlegen. Warum stellte sich dieses oft so genossene Gefühl heute nicht ein? Warum hatte er diese unaussprechliche, diese … diese Angst. Ja, das war es, Angst. Er wusste, dass heute etwas passieren würde. Er sah plötzlich glasklar, dass sein Traum heute seine Erfüllung finden würde, und er hatte eine Heidenangst davor. Wenn er nur wusste, was ihn so an diesem Traum beunruhigte, wenn er nur diesen Schleier zerreißen könnte, der, wie der Nebel in seinem Traum, die Lösung dieses Rätsels verbarg.

Der scharfe Pfiff von einem Jäger riss ihn aus seinen düsteren Vorahnungen. Aufbruch! Sie hatten einen dreistündigen Marsch zu der Blockhütte vor sich, die für die nächsten Tage ihr Basislager sein sollte. Mitten in der Wildnis, in der Höhle des Löwen, wie ein anderer Jäger scherzhaft bemerkt hatte, mitten in dem Gebiet, in dem sich ein Wolfsrudel aufhalten sollte. Er hatte das ungute Gefühl, etwas Falsches zu tun. Und dann sein Traum, er ließ ihn nicht mehr los. Seine inneren Alarmglocken läuteten, aber irgendetwas drängte ihn dazu, alle Bedenken über Bord zu werfen. Aber war es wirklich richtig, was er hier tat? Woher kamen diese Zweifel? Er hatte noch nie darüber nachgedacht, ob es richtig war, ein Tier zu erschießen. Warum jetzt? Was war an diesem Wolf aus seinem Traum so anders, dass er gerade jetzt an der Jagd zweifelte? An diesem letzten großen Abenteuer, wo ein Mann sich noch als Mann fühlen durfte, wo man längst vergessen geglaubte Instinkte ausleben durfte. Das war ehrlich und direkt. Mann gegen Kreatur, ohne Tricks, ohne Schlichen. Der Stärkere überlebte. So war die Natur. Und außerdem, das Tier hatte eine faire Chance zu entkommen oder sich zu wehren. Vor drei Jahren in Afrika, wie war es da? Der Löwe hatte ihn fast erwischt; hatte sich einfach ins Gebüsch geduckt und auf ihn gewartet, die Bestie. Das war verdammt knapp gewesen.

Doch egal wie er es drehte und wendete, wie sehr er sich einzureden versuchte, dass es schließlich nur ein Traum war, er konnte die Zweifel und die Angst nicht beiseite wischen.

Thomas Reed hatte sich von den anderen Jägern getrennt und lief durch den Wald. Es wurde langsam dunkel, und die Schatten wurden länger und tiefer. Ein lang gezogenes, unheimliches Heulen schickte ihm eisige Schauer über den Rücken. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts. Und dann sah er ihn. Ein Wolf! Das Tier stand ganz ruhig da und sah ihn an, seine Ohren aufmerksam auf ihn gerichtet. Thomas riss sein Gewehr hoch. Der Wolf rührte sich nicht. Er stand nur da und sah ihn an, verfolgte jede Bewegung. Thomas zielte, als er seitlich etwas wahrnahm. Als er den Kopf in die Richtung der Bewegung drehte, sah er einen zweiten Wolf. Ruckartig richtete er das Gewehr auf diesen Wolf. Dann sah er plötzlich einen dritten und vierten, einen fünften und sechsten Wolf. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Blitzartig rechnete er sich aus, wie viele Wölfe er töten könnte, bevor sie ihn erwischten. Langsam ließ er das Gewehr sinken. Er hatte keine Chance. Sie waren zu nah. Er beschloss, einen Rückzug zu versuchen. Vorsichtig tastete er sich Schritt für Schritt zurück. Die Wölfe bewegten sich nicht. Als er so einige Meter zwischen sich und sie gebracht hatte, drehte er sich um und rannte los. Er rutschte, stolperte durch den finsteren, verschneiten Wald. Sein Atem ging stoßweise. Gehetzt sah er sich um. Verfolgten sie ihn? Wo waren die anderen Jäger? Warum half ihm denn niemand? Er wollte nicht sterben, in diesem Wald, zerfleischt von einer Horde blutgieriger Wölfe. Nein, nicht jetzt, nicht heute, nicht so! Da – eine Bewegung vor ihm. Abrupt blieb er stehen. Da stand der Wolf. Sein Wolf! Thomas war unfähig, sich zu bewegen. Todesangst lähmte ihn. Das einzige Geräusch war sein schneller Atem. Das Gewehr rutschte aus seiner Hand und fiel zu Boden. Es war aus.

Sie starrten sich an, Jäger und Gejagter. Ihre Augen trafen sich, und einen Moment lang waren sie eins. Der Wolf drehte sich um und verschwand lautlos im Dunkel – und Thomas Reed verstand.
(Daniela Zwicknagl; Wolf Magazin 1/97)

 

Buchtipp

Spannende, lustige und interessante Wolfsgeschichten finden Sie auch in der Wolfsanthologie:

„Wölfen auf der Spur“, Elli H. Radinger (Hrsg.)
Mariposa-Verlag, 2010
www.elli-radinger.de/html/anthologie.html