Frau und Wolf
Auf der Suche nach einer uralten Beziehung
Vor zwanzig Jahren im Bayerischen Wald: Neun meiner Wölfe sind aus ihrem Gehege ausgebrochen. Der Landrat fordert Hilfe von der Grenzpolizei. Doch die Wölfe sind scheu und die meisten bald über alle Berge. Es ist Februar, sibirisch kalt, und entsprechend groß ist daher auch das Interesse der Presse.
Zuerst berichtet man wohlwollend: „Lasst die Wölfe leben!“ Doch dann taucht eine junge Wölfin, die einzige unter den Ausbrechern, die nicht in den Wäldern verschwand, in der Nähe von Kindern im Dorf auf. Sie will offensichtlich spielen und kneift dabei einen Jungen in den Po. Sofort schlägt der Tenor um. Jetzt ist von „Bestien“ und „Ungeheuern“ die Rede.
Zum Teil ist die Aufregung natürlich verständlich. Wer will schon einen Wolf auf dem Spielplatz seiner Kinder haben? Auf jeden Fall sind es jetzt Männer, die die Wölfe jagen, Jäger, die auf die Wölfe Tag und Nacht ansitzen, Piloten, die in Hubschraubern das Gebiet überfliegen, Grenzpolizisten, die in Formation die Wälder durchkämmen. Ein Jäger erlegt den zahmen Wolf, die Polizisten zwei Hunde und ein Reh. Der Landrat fordert Verstärkung von der Bundeswehr auf bayerischer und von Warschauer-Pakt-Truppen auf der böhmischen Seite. Die Stimmung ist aggressiv aktionistisch.
Nur einige Frauen scheinen noch Umsicht und Verstand zu behalten: „Nicht der Wolf ist dem Menschen gefährlich, sondern der Mensch dem Wolf“, schreibt eine. Und dass die Angst vor wilden Wölfen unbegründet und damit auch überwindbar sei. Manchmal klingt aber auch Verwunschenes an. Viele rufen an. Eine Frau südlich von München: Ein Wolf soll vor ihrem Schlafzimmerfenster heulen. Auf meine Frage, warum sie wisse, dass es ein Wolf sei, antwortet sie: „Weil es sich so schön schaurig anhört.“
Zehn Jahre später: In Schweden sind Wölfe gesichtet worden, die ersten seit Langem. Die Nation jubelt. Nur die lokale Bevölkerung wehrt sich gegen die unerwünschten Einwanderer aus dem weit entfernten Russland. Wieder sind es die Männer, die mit Gewehren bereitstehen, um ihre Elche, ihre Schafe und auch ihre Kinder und Frauen zu schützen. Diese haben in der Tat ein wenig Angst, vor allem die Mädchen und die Frauen. Die Männer selber aber haben keine, nur um ihre Kinder und um ihre Frauen.
Wieder zehn Jahre später – heute: Auch in Deutschland werden Wölfe gesichtet. Auf einer Fahrt erkunde ich die Stimmung im Lande. Es ist wie gehabt: Begeisterung in den Städten, Angst und Ablehnung in den betroffenen Gebieten. Besonders bei den Männern: „Weg damit“, „erschießen“, „kein Platz bei uns“ heißt es allgemein. Bei vielen Frauen hingegen, insbesondere bei den jüngeren, schwingen andere, tiefere Töne mit. Ihnen geht es auch um den Schutz des Schwächeren, um Natur, um ein wenig Unberechenbares in unserem Leben, um das letzte noch Wilde in unserer Zeit.
Die größte Begeisterung drückt Julia, Doktorandin der Biologie, mitten in München aus. Ein wunderschönes Tier sei der Wolf, edel, sozial und so scheu. Ihn zu schützen solle Inhalt ihres Lebens werden. Rotkäppchen auf den Kopf gestellt und sehr modern.
Drei Beispiele für einen geschlechtsspezifischen Unterschied in der Bewertung einer allgemein verteufelten Tierart. Was beim Mann Hass und Verfolgung auslöst, löst bei der Frau zwar auch Angst aus, fasziniert aber zugleich. Was mittels Gewehr, Falle und Gift nach Meinung des Mannes ausgerottet gehört, weckt Schutzinstinkte, Mitleid und allen voran tiefe Sehnsüchte nach verborgener Wildheit bei der Frau. Über „die Kraft der weiblichen Urinstinkte“ schreibt Clarissa Estes ein ansonsten nicht gerade stimmiges Buch. Trotzdem wird es ein Bestseller. Der Titel: „Die Wolfsfrau.“
Was ist es, das bei uns das eine Geschlecht zum Wolfsjäger werden lässt, das andere aber zu Rotkäppchen, Wolfsfrau oder Schwester Wolf? Was fasziniert sie so abseits der ihnen gebotenen Wege an ihm – dem Wilden, dem Unberechenbaren? Warum gibt sie sich gerade ihm, trotz all ihrer Angst, so leidenschaftlich hin? Zumindest in den Märchen – und in ihren Träumen. Was haben Frau und Wolf, Hexe und Hure, Räuber und Frevler gemein?
Die erste geschichtlich nachgewiesene Begegnung zwischen Wolf und Frau lag lange Zeit in einem schier unentschlüsselbaren Wirrwarr von Linien verborgen. Auf einer kleinen Schieferplatte aus einer Steinzeitsiedlung am Ufer des Rheins fand man ein wildes Durcheinander von Einritzungen. Auf anderen sah man sofort den Kopf eines Pferdes, die Umrisse eines Rentieres, Frauengestalten auch ohne Kopf und Beine, aber mit viel Busen, Bauch und Po – wohl Fruchtbarkeitssymbole.
All diese Zeichnungen in weichen Schiefer geritzt, widerspiegeln das Leben und das Wertgefüge der Menschen, die vor fünfzehntausend Jahren bei Gönnersdorf am Ufer des großen Flusses ihre Zelte aufschlugen. Es waren Jäger und Sammler. Haustiere gab es noch nicht und auch keine Kulturpflanzen, die man säen und später ernten konnte. Man war vielmehr allein auf das angewiesen, was die Natur von sich aus an Überfluss produzierte.
Und das war nicht wenig, trotz Kälte und nahem Eis. Über die offene Tundra zogen große Renherden. Pferde und Vögel, Robben und Fische waren weitere reiche Nahrungsquellen. Beeren, Kräuter, Pilze ebenso. Im Permafrost der Böden ließen sich Nahrungsreserven lange lagern. So hatten die Menschen viel Zeit. Sie schmückten ihre Werkzeuge und ihre Waffen aus Stein. Und sie malten die Wände ihrer Wohnhöhlen mit herrlichen Bildern aus. In Gönnersdorf befestigten sie die Wege zwischen den Zelten und die Böden in den Zelten mit Schieferplatten. Fast alle davon waren voll mit eben jenen eingeritzten Zeichnungen, in denen man die Lebenswelt von damals so schön erkennen kann.
Nur einige Platten mit allzu verwirrenden Linien blieben lange Zeit ungedeutet. Bis man Linie für Linie nachzeichnete. Auf einer Platte kam ein Wolf zum Vorschein; ein weiteres Tier der damaligen Tundra. Also nichts Besonderes. Bis man weitere Linien nachzog und drei Frauengestalten erkannte. Sie liegen quer über dem Wolf – oder er über ihnen. Wie man will.
Man könnte diese Überlagerung von mehreren Bildern, von der realistischen Abbildung eines Wolfes und von Symbolfiguren der Fruchtbarkeit als zufällig abtun. Aber es gibt weitere Verknüpfungen von Frau und Wolf/Hund aus dem gleichen Gebiet aus einer etwas späteren Zeit. Im 14000 Jahre alten Doppelgrab von Oberkassel bei Bonn fand man Skelettreste von einem älteren Mann und einer neben ihm begrabenen jüngeren Frau. Dem Mann waren Werkzeuge und Waffen als Grabbeigabe mitgegeben. Neben der Frau aber lagen nur die Reste von einem mittelgroßen Tier. Zuerst hat man das Tier als Wolf identifiziert, später aber anhand der Zähne als Hund erkannt. Der bislang älteste Hund der Geschichte und zugleich das erste Haustier des Menschen.
Über die Entstehung des Hundes ist viel gerätselt worden. Heute weiß man, dass der Wolf (und nur der Wolf) Stammvater aller Hunde ist. Warum aber wurde der Wolf überhaupt gezähmt? Wer machte aus dem Konkurrenten um gleiche Beute den besten Freund des Menschen, den Hund?
Für meinen Lehrer Konrad Lorenz stand fest: Mensch und Wolf kamen als Jäger zusammen, jagten immer mehr zum Vorteil beider, um schließlich auch gemeinsam zu leben. Für andere Forscher gelten die ersten „Hauswölfe“ hingegen als Ersatznahrung für schlechte Zeiten. Andere wiederum glauben, dass der Wolf in erster Linie zum Schutz des Menschen gezähmt wurde.
Alle diese Erklärungsversuche sind männerorientiert und deuten zudem die erste Manipulation der Natur im Interesse des Menschen als bewusste Tat einsichtiger und zukunftsorientierter Menschen. Nur vergessen sie, dass ein Mann zur damaligen Zeit einen Wolf gar nicht zähmen konnte. Nur wenn ein kleiner Welpe der Mutter weggenommen und vom Menschen aufgezogen wird, kann ein Wolf zahm und auf den Menschen geprägt werden, wird er sein Leben lang diesen seinen eigenen Artgenossen als Sozialpartner vorziehen. Wie es die Hunde eben tun, ein Wildtier wie der Wolf aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Und dazu gehören insbesondere die frühe Wegnahme und die dann zwingend notwendige Fütterung mit Milch.
Milch gab es ohne Haustiere nur bei der Frau. Sie muss es also gewesen sein, die junge Welpen zu sich nahm und ihnen die Brust gab. Vielleicht, weil sie zu viel Milch hatte, weil sie Mitleid hatte oder Zärtlichkeit fühlte für die kleinen, hilflosen Wesen, die sie auf einmal im Arm hielt, ohne auch nur zu ahnen, welche Revolution in der Geschichte der Menschheit sie in diesem Moment auslöste.
Denn auf den Hund, der nach vielen weiteren Generationen aus den zahmen Wölfen hervorging, folgten bald weitere Haustiere: Schaf, Ziege, Rind, Schwein. Zugleich kultivierte man erste Nutzpflanzen, baute feste Siedlungen mit Vorratslagern und Ställen. Aus dem Jäger wurde der Hirte, aus dem Sammler der Bauer.
Damit nahm unsere Geschichte einen völlig neuen Verlauf. Die neue Technik der Naturnutzung führte zur Arbeitsteilung und ließ bald erste Hochkulturen entstehen; aber auch Klassengesellschaften, Naturzerstörung und Kriege. Die moderne Geschichte des Menschen begann. Angefangen aber hat sie ganz unspektakulär und wohl eher zufällig als zukunftsorientiert damit, dass eine Frau (aus welchen Gründen auch immer) einige kleine, hilflose Jungen einer fremden Art an ihre Brust legte und sie von ihrer Milch trinken ließ.
Dass diese fremde Art ein Wolf war, ist kein Zufall. Denn keine Tierart ist dem Menschen sozial so verwandt wie der Wolf. Beide, Mensch wie Wolf, leben ursprünglich von der Jagd auf große Beutetiere. In Anpassung an diese Ernährungsweise bilden sie Großfamilien. An der Spitze der Familie steht ein starkes Männchen, das Familienoberhaupt beim Menschen, der Alpharüde bei den Wölfen. Er führt die anderen auf die Jagd, und er ist es auch, der den meisten Nachwuchs zeugt.
Doch er ist nur vordergründig der Chef. Die wirklich wichtigen Entscheidungen trifft beim Menschen wie beim Wolf die Frau, das ranghöchste Weibchen. Nach ihren Bedürfnissen richtet sich letztendlich alles, was von Belang für die Gruppe ist. Sie ist es, die ein oder mehrere Männchen – gleichzeitig oder hintereinander – mithilfe ihrer Sexualität an sich bindet, damit diese für sie und ihre Kinder jagen und sie gegen alle Feinde schützen. Sie ist das wahre Zentrum der Gruppe.
In dieser Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Wolf, Frau und Wölfin liegt die Annäherung beider Arten, die erste Domestikation und der dadurch verursachte große Bruch in unserer Geschichte.
Wohl in Kenntnis dieser Verwandtschaft betrachten viele Naturvölker den Wolf als Ahnherrn oder Totem ihrer eigenen Herkunft. Am Anfang der Welt steht für mehrere Indianerstämme Nordamerikas der Wolf als Urvater/Mutter ihres Stammes. Auch das Geschlecht des Dschingis Kahn, des großen Mongolenherrschers, geht nach der Überlieferung auf eine Wölfin zurück. Ja sogar die hochkultivierten Römer verdanken der Legende nach die Gründung ihrer Stadt der selbstlosen Aufopferung einer Wölfin.
Offensichtlich stehen sich Weiblichkeit als
Urahn des Lebens und Wolf als Symbol der nicht immer zähmbaren
Wildheit mythologisch sehr nahe. So auch im Mittelalter und
Jahrhunderte danach in Europa. Es war die Zeit, als der Wolf zur
Plage wurde. Adelige Jäger hatten nahezu alles Wild erlegt. So
blieben den Wölfen nur noch Haustiere als Beute übrig. Der Kampf
der Bauern gegen diese wahrhaft existenzielle Bedrohung seitens
einer unkontrollierbaren Natur ist lang und intensiv. Die
Vorstellung vom Wolf als dem Bösen schlechthin stammt aus dieser
Zeit.
Und ebenso die Vorstellung von der Frau als Hexe, als das von Natur
aus vom Mann nur schwer zu kontrollierende Weib. Unzählig und
grausam sind die Opfer dieser männlichen Angst vor dem
Unberechenbaren. Damals starben die Frauen, die sich nicht mehr
fügen wollten, in den Flammen der Scheiterhaufen. Neben ihnen
loderten allerdings auch unzählige Männer als vermeintliche
Werwölfe; Männer, die sich ebenfalls der alten Ordnung nicht
unterordnen konnten.
Groteske Zeiten, die sich aber immer wieder in neuer Form wiederholen. Letztendlich geht es wohl immer um zwei nahe verwandte Phänomene der menschlichen Existenz: um Angst und um Herrschaft. Angst beim Mann vor all dem, was sich nicht vollständig von ihm kontrollieren und bestimmen lässt. Angst vor der noch nicht gezähmten Natur, vor der eigenständigen Frau zu Hause und dem wilden Wolf im Wald.
Angst der Frau vor dem dunklen Wald, vor dem schwarzen Mann, vor dem bösen Wolf. Angst, die in früheren Zeiten nicht ganz unbegründet war. Angst, die sich aber auch schüren lässt. Denn Angst ist nützlich. Sie dient der Herrschaft. Die Herrschaft der Eltern über Kinder, die nicht gehorchen, die Herrschaft des Mannes über Frauen, die sich nicht fügen, die Herrschaft der Mächtigen über all die, die sich nicht unterordnen.
Im Märchen etwa wurde Rotkäppchen vom lüsternen Wolf verführt, aber vom Jäger gerettet. Sein sexueller Neid und seine Rache sind zugleich sein Vorteil. Denn ihre Angst, die Angst aller Frauen und Mädchen, dient ihm, dient dem Mann zur Rechtfertigung seiner Privilegien. Wer vor dem Wolf im Wald Angst hat, wird den Jäger und sein Wirken darin, wird den Mann und seine Männlichkeit nicht infrage stellen. So lässt sich Konkurrenz erledigen und Herrschaft begründen.
Solchermaßen beidseitig gemachte Erfahrungen
mit dem Mann verbinden. Vielleicht liegen auch darin die tieferen
Gründe für die Affinität der Frau zum Wolf. Beide, sie und der
Wolf, sind vordergründig die Unterdrückten, die Verlierer der
Geschichte. In Wirklichkeit aber sind sie die Starken. Denn sie
können ihre Angst überwinden und dann wirklich frei und unabhängig
sein.
(Dr. Erik Zimen; Wolf Magazin 3/1996)