Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
„In Nordamerika hat es noch nie einen Fall gegeben, bei dem ein gesunder, wilder Wolf einen Menschen angegriffen hat.“
Wie oft haben wir, die wir uns mit dem Leben der Wölfe befassen, diesen Satz aufgegriffen und in Umlauf gebracht, ganz besonders, wenn wir versucht haben, auf Seminaren und Vorträgen auf die Ungefährlichkeit der Wölfe hinzuweisen.
Aber stimmt diese Behauptung wirklich? Hat es niemals eine Ausnahme gegeben? In letzter Zeit häufen sich die Berichte über angebliche Wolfsangriffe auf Menschen. Was ist wahr daran? Und vor allem, wenn Wölfe doch einen Menschen angreifen sollten, warum tun sie es – und warum greifen sie keine Menschen an?
Seit über 15 Jahren halte ich mich in der Wildnis in Wolfsgebieten auf. So lebte ich einen Winter lang im nördlichen Minnesota an der kanadischen Grenze in einer Blockhütte mitten im Wolfsterritorium. Fast jede Nacht habe ich Wölfe heulen gehört und fand am Morgen danach ihre Spuren im Schnee in der Nähe der Hütte. Und wenn das Nordlicht besonders schön war, schlief ich auch oft in meinem warmen Schlafsack im Freien, begleitet vom nahen Gesang der Wölfe.
Angst habe ich dabei nie gehabt; im Gegenteil, so sehr ich mir auch wünschte, einen Wolf zu sehen, so bekam ich den scheuen Beutegreifer doch kaum zu Gesicht. Nur ganz selten einmal, in hellen Vollmondnächten, sah ich einige dunkle Schatten über den zugefrorenen See in der Nähe huschen.
Eines Morgens fand ich auf einer Schneewanderung einen frisch getöteten Hirschen. Er war bereits aufgerissen und die Innereien dampften noch warm in der Kälte. Im Schnee sah ich viele Wolfsspuren. Ich musste das Rudel also von seiner Nahrung aufgescheucht haben. Ich war allein, und sie waren mindestens fünf große, hungrige Wölfe, deren Kiefer so stark sind, dass sie ohne Probleme den Schädel eines erwachsenen Elches aufbrechen können. Es ist klar, dass Wölfe mit Leichtigkeit einen Menschen töten könnten. Warum waren sie also weggelaufen, statt mich anzugreifen und ihre Beute zu „verteidigen“? Einen Bären hätte ich nicht so leicht verjagen können.
Können Wölfe eine echte Bedrohung für Menschen sein? Haben sie jemals Menschen angegriffen? Es ist eine uralte Frage, beladen mit Aberglauben und Ängsten.
Unzählige Fachleute haben leidenschaftlich beteuert, dass die wilden Hunde den Menschen nicht gefährlich werden können. Selbst in Kanadas nördlichster Wildnis, wo Wölfe nur sehr wenigen Menschen begegnen, scheint die Spezies instinktiv zu wissen, dass man uns besser alleine lässt, dass wir eine übermächtige Kreatur sind, die auf sichere Distanz gemieden oder toleriert werden muss.
Der Biologe Douglas Pimlott erklärte den Respekt des Beutegreifers vor Menschen auf der Grundlage der Körpersprache: „Wölfe haben die instinktive Fähigkeit Aggression oder Angst zu erkennen, die sich auf ganz unterschwellige Weise durch unser Verhalten oder unsere Taten ausdrücken. Wir bewegen uns ganz bewusst so wie viele Beutegreifer. Wir schleichen uns leise durch die Wälder und streifen selbstbewusst über die Felder, so wie ein Wolf, der auf der Suche nach Nahrung sein Gebiet durchstreift.“ Nach Ansicht von Pimlott können unsere Aktivitätsmuster den Wölfen zu verstehen geben, dass wir gleichgestellte Jäger sind – nicht Beute.
Dave Mech, der bekannteste Wolfsexperte Nordamerikas, sieht einen weiteren Grund, warum Wölfe keine Menschen angreifen, darin, dass die Menschen aufrecht auf zwei Beinen gehen. Keine Beute des Wolfes tut dies. Außerdem stehen Bären manchmal auf ihren Hinterbeinen, und im Allgemeinen versuchen Wölfe, Bären zu meiden.
Dick Dekker, Wolfsforscher aus Kanada, kommt zu der Überzeugung: „Der wahre Grund, warum Wölfe Menschen anders als andere Kreaturen behandeln, kann in der Tatsache gefunden werden, dass die Indianer und Weißen Nordamerikas schon immer die Fähigkeit hatten, auf Distanz – mit Pfeilen oder Kugeln – zu töten. Die Wölfe müssen aufgrund ihrer Intelligenz und Lernfähigkeit die magischen Kräfte der Menschen vor langer Zeit erkannt haben, und die Spezies hat ihr Misstrauen indirekt oder direkt an ihren Nachwuchs weitergegeben. Wenn sie auf Spuren oder den Geruch von Menschen treffen, dann kann die Reaktion der Wolfseltern ihren Welpen instinktiv beibringen, dass man diese Wesen nicht jagt, sondern besser ignoriert oder sogar fürchtet.“
Aber wie war es früher? Im 18. Jahrhundert, als die ersten Europäer über die westlichen Prärien reisten, waren Wölfe nicht abgeneigt, menschliche Körper zu fressen. Während des Winters war es Brauch bei den Indianern, ihre Verstorbenen, in Felle eingehüllt, auf Gestelle in die Bäume zu legen – außerhalb der Reichweite von Aasfressern. Wenn der Boden aufgetaut war, beerdigten sowohl Indianer als auch Weiße ihre Toten in der Erde und bedeckten die Gräber mit schweren Steinen. Die Tagebücher der ersten europäischen Scouts jedoch zeigten keinerlei Hinweis darauf, dass Wölfe von den Menschen als gefährlich angesehen wurden.
Im Gegensatz zu Nordamerika ist es unbestritten, dass Wölfe in Europa Menschen angegriffen und getötet haben, besonders in südlichen Ländern, wo Teile der Zivilisation tief in die rauen Berge reichen. Die europäischen Bauern waren keine Jäger, verdienten jedoch ihren Lebensunterhalt auf den Feldern oder durch das Halten von Nutzvieh.
Ein berüchtigter und gut dokumentierter Fall von Wölfen, die Menschen töteten, geschah in Frankreich zwischen 1764 und 1767 als die „Bestie von Gévaudan“ über hundert Menschen verwundete, von denen vierundsechzig (meist Kinder) starben. Es hörte erst auf, als zwei Tiere getötet wurden, beide sehr groß und über achtundfünfzig Kilo schwer, schwerer als die größten, bisher bekannten Wölfe. Der Verdacht ist daher gerechtfertigt, dass diese Menschenjäger nicht reine Wölfe, sondern Wolf-Hund-Mischlinge waren. Ohne Zweifel können Haushunde gegenüber Menschen aggressiv werden. Abtrünnige vom „besten Freund des Menschen“ beißen jährlich Tausende von Kindern und Erwachsenen und töten auch gelegentlich.
Die klassische Geschichte der Menschen verschlingenden Wölfe ist die des russischen Edelmannes in seiner von Pferden gezogenen Troika, der von einer Herde tollwütiger, geifernder Biester mit roten Zungen, die über blendenden Reißzähnen hängen, heruntergezogen wird. Da es keine verlässlichen Berichte gibt, sollten solche Geschichten als Volksmärchen angesehen werden, obwohl es durchaus möglich ist, dass Wölfe einem von Pferden gezogenen Schlitten folgen – weil sie in der Spur leichter laufen können, weil sie die Pferde als mögliche Beute sehen, oder auch einfach nur aus Neugier.
Ein weiterer möglicher Grund, warum Wölfe in Europa Menschen angegriffen haben könnten, ist Tollwut. Tiere, die diese gefürchtete Krankheit befällt, verlieren ihre natürliche Scheu und beißen jedes Wesen, das sie treffen, Mensch oder Tier. Das Risiko, von einem tollwütigen Hund oder Wolf gebissen zu werden, war eine harte Realität im mittelalterlichen Europa, und ist es vielleicht sogar heute noch in einigen Teilen der Welt.
Dennoch sollte die Frage, ob Wölfe jemals in jüngster Zeit Menschen vor allem in Nordamerika angegriffen haben, nicht so schnell abgetan werden. Tatsache ist, dass es wenigstens ein halbes Dutzend belegter Fälle gibt, die einigen Zweifel an dem Glauben an die absolute Unschuld des Wolfes aufkommen lassen.
Einer der am meisten beachteten Zwischenfälle wird unterstützt durch die beeidete Zeugenaussage von Menschen, die daran beteiligt waren, und wird in „The Journal of Mammologie“ beschrieben.
Das Ereignis passierte Meike Dusiak, einem Eisenbahnarbeiter, der im Winter 1942 eines Nachts mit seinem Streckenwagen entlang der Hauptstrecke westlich von Chapleau, Ontario, fuhr. Er erwartete, einen Zug zu treffen und fuhr daher ziemlich langsam, damit er rechtzeitig die Gleise verlassen konnte. Plötzlich traf ihn etwas, schnappte ihn am linken Arm und zog ihn und den Streckenwagen vom Gleis. Dusiak dachte zuerst, er sei von einem Zug angefahren worden, aber als er schnell aus dem Schnee aufstand, sah er einen Wolf auf sich zukommen. Gerade noch rechtzeitig schnappte er sich eine Axt und verteidigte sich heftig, indem er dem Wolf auf Kopf und Körper schlug. „Knurrend und zähnefletschend“ kämpfte er weiter, bis ein Zug vorbeikam. Die Crew sah Dusiaks Not, stoppte die Lokomotive und eilte mit Pickeln und Werkzeugen zu Hilfe, wobei sie schließlich den Wolf töteten. Der Beamte, der den Kadaver untersuchte, bestätigte, dass der Wolf anscheinend in normaler Verfassung war. Er wurde jedoch nicht auf Tollwut getestet, aber sein Verhalten deutet darauf hin, dass er ein Opfer der Krankheit hätte sein können.
Ebenfalls in „The Journal of Mammologie“ wird von zwei Fällen berichtet, bei denen Wissenschaftler im kanadischen Norden auf Wölfe trafen. Der erste ereignete sich am 29. Juni 1977 auf der einsamen Insel Ellesmere Island, wo die Wölfe selbst heute immer noch keine Angst vor Menschen zeigen. Auf der offenen Tundra näherte sich ein Rudel von sechs weißen Wölfen zwei Paläontologen, die versuchten, die Tiere durch lautes Rufen und durch das Werfen von Erdklumpen fernzuhalten. Das Rudel hielt wenige Meter entfernt an. Die angespannte Situation wurde mit folgenden Worten beschrieben: „Einer der Wölfe übernahm dann die Führung und ging, indem er Mary Dawson direkt ins Gesicht sah, stetig vorwärts, die schlecht gezielt geworfenen Erdklumpen ignorierend. Seine Ohren waren vorgestellt und sein Maul geschlossen oder nur leicht geöffnet. Als er etwa eineinhalb Meter entfernt war, sprang der Wolf auf Dawsons Kopf zu, die sich zurückwarf und einen kleinen Schrei ausstieß. Der Wolf streifte ihre Wange, hinterließ dort seinen Speichel, fiel dann auf den Boden, drehte sich um und zog sich mit ein paar Rückblicken zurück.“
Alle sechs Wölfe liefen schließlich fort. Die Motivation für ihr merkwürdiges Verhalten war vermutlich Neugier. Sie wussten nicht, auf welche Kreatur sie gestoßen waren und wollten sie wie jede andere Beutetierart testen. Die Standfestigkeit der Wissenschaftler, ihre Weigerung, wie die übliche Beute der Wölfe wegzulaufen, könnten einen kompletten Angriff ausgelöst haben.
Im zweiten Fall, der im Juni 1984 in der Nähe von Churchill im hohen Norden von Manitoba geschah, schlichen sich mindestens drei Wölfe leise an eine Gruppe von drei Zoologen heran. Die Männer waren durch die Wälder gelaufen und hatten gerade auf einer kleinen Lichtung angehalten, die von Flechten bedeckt war. Sie hatten ihre Rucksäcke abgenommen und unterhielten sich, als plötzlich ein Zweig hinter ihnen knackte. Als sie sich umdrehten, sahen sie etwa neun Meter entfernt einen Wolf auf sich zu rennen. Sie berichteten: „Scott reagierte, indem er mit den Füßen aufstapfte und laut schrie. Als der erste Wolf versuchte, anzuhalten und sich gleichzeitig umzudrehen, verlor er das Gleichgewicht und krachte in einen Busch auf der Lichtung, etwa fünf bis sechs Meter von Bentley entfernt. In der Zwischenzeit bemühte sich Scott ein Bärenhorn (ähnlich einem Nebelhorn bei Schiffen, das Eisbären abschrecken soll) aus seinem Rucksack zu ziehen. Scott beobachtete, wie der erste Wolf sich hinter einen großen Baum zurückzog, während der zweite von der entgegengesetzten Seite desselben Baums auf acht Meter näherte. Er sprang in weiten Sprüngen auf Scott zu, Ohren vorgestellt, Schwanz nach oben und seine Augen auf ihn fixiert. Nach dem zweiten Sprung des Wolfes blies Scott, als das Tier nur noch zwei Meter von ihm entfernt war, in das Bärenhorn. Der Wolf kniff die Augen zusammen, verdrehte die Ohren und änderte leicht die Richtung seines Sprungs. Er landete nur einen Meter entfernt neben Scott. Dann trabte er sofort zur Lichtung und hielt in drei Meter Entfernung kurz an.“
Alle drei Wissenschaftler kletterten schnell auf Bäume und beobachteten, wie die Wölfe innerhalb von vier Stunden mehrmals die Lichtung betraten und überquerten. Nachdem die Tiere längere Zeit nicht mehr erschienen waren, zogen sich die Männer schließlich zu ihrem Fahrzeug zurück, das in der Nähe geparkt war. Auf ihrem Weg fanden sie eine Wolfshöhle. In der Nähe bemerkten sie viele Spuren einschließlich Welpenspuren.
Dave Mech, der zu den Zwischenfällen befragt wurde, glaubt, dass, wenn die Wölfe tatsächlich ernsthaft die Wissenschaftler hätten angreifen wollen, das Resultat ohne Zweifel sofort und tödlich gewesen wäre. Das Verhalten der Tiere könnte eher eine Drohung, Verteidigungsreaktion oder eine andere Reaktion gewesen sein, die nicht auf Beutefangverhalten ausgerichtet war.
Ein weiterer Zwischenfall, bei dem ein Wolf einen Menschen angriff, schien ein Fall von falsch verstandener Identität gewesen zu sein. Es geschah an einem Wintertag 1982 in den Wäldern von Minnesota. Der 19-jährige Ron Poyrier, der in einem dichten Wald auf der Jagd war, wurde plötzlich von einem Wolf niedergeworfen. Der Junge rollte mit dem Tier auf dem Boden herum und griff ihn an der Kehle, um ihn fernzuhalten. Der Wolf trat und strampelte, biss ihn aber nicht. Der Junge hielt immer noch sein Gewehr in der Hand, und als es ihm gelang, einen Schuss abzugeben, verschwand der Wolf sofort. Zu dieser Zeit trug Poyrier Jagdkleidung, die dick mit Hirschduft eingerieben war. Eine mögliche Erklärung für den Angriff ist, dass der Wolf ein Reh gejagt und den Jungen mit seiner Beute verwechselt hat.
Es gibt verschiedene Fälle, in denen Wölfe Hunde angriffen, die dann zu ihrem Herrn zurückrannten. Bei einem Zwischenfall, ebenfalls in Minnesota, hatte der Mann seinen verängstigten Hund auf den Arm genommen. Der Wolf schnappte nach dem Hund und zerriss dabei das Hemd des Mannes. Für einen kurzen Augenblick schaute der Holzfäller Sanford Sandberg direkt in das geöffnete Maul des Wolfes, bevor das Tier herunterfiel und in den Busch rannte.
In den ländlichen Bezirken von Kanadas westlichen Provinzen, von Manitoba bis British Columbia und nach Norden bis zum Yukon, berichten lokale Zeitschriften oft über Wölfe, die nachts die Gärten und Höfe der Menschen betreten und ihre Hunde töten und fressen. In einigen wenigen Fällen, wenn Menschen – durch das Bellen der Hunde alarmiert – dazwischen gingen, schnappte der Wolf nach ihnen, vermutlich, während sie zu flüchten versuchten. Solche Zwischenfälle sind besonders beunruhigend, wenn Kinder beteiligt sind.
Am 28. April 1987 liefen drei Kinder zwischen acht und zwölf Jahren nach der Schule auf der Sturgeon Point Road, in der Nähe von Vanderhoof, British Columbia, nach Hause. Ihr Schäferhund rannte voraus. Plötzlich sprangen drei Wölfe aus den Büschen, griffen den Hund an und verletzten ihn am Ohr, bevor er durch einen Stacheldrahtzaun entkommen konnte. Einer der Wölfe kam nur wenige Meter an die Kinder heran, rannte dann durch den Zaun weg und verletzte sich anscheinend dabei. Um die Bürger des Ortes zu beruhigen, fügte die Zeitschrift, die über den Zwischenfall berichtete, eine Erklärung des örtlichen Umweltschutzbeauftragten hinzu, dass es keine Beweise dafür gebe, dass die Wölfe die Kinder verletzen wollten. Im ganzen Gebiet wurden Giftköder ausgelegt, um die Wölfe zu töten.
Die oben erwähnten Ereignisse machen deutlich, dass wilde Wölfe nicht unbedingt durch die Nähe von Menschen abgeschreckt werden. Eine gefährliche Situation kann sich entwickeln, wenn die Wölfe sich öfter an Müllhalden aufhalten und sich daran gewöhnen, Menschen zu sehen, von denen sie nicht belästigt werden. Im Sommer 1978, in der Wildnis von Ontario, an der Grenze zu Manitoba, sahen Holzfäller häufig Wölfe, die furchtlos zu sein schienen.Am Morgen des 1. November ging die Camp-Köchin, eine Ojibwa-Indianerin namens Elsie Wolfe, die Suffle-Lake-Straße entlang, in der Hoffnung, ein Auto anhalten zu können, das sie in die Klinik in Red Lake mitnahm, wo sie ihren Vorrat an Medizin für ihre Epilepsie auffüllen wollte. Sie kam niemals dort an. Zehn Tage später wurden ihre Überreste von einem Jäger gefunden, der zwei Wölfe und mehrere Raben von der Stelle fortgescheucht hatte. Obwohl die Einheimischen glaubten, dass die Frau tatsächlich von den Wölfen getötet worden war, ist die offizielle Version, dass Elsie einem Epilepsieanfall erlegen ist, bevor ihr Körper aufgefressen wurde. Ein paar Jahre früher verschwand im selben Distrikt ein Pilot. Sein Flugzeug wurde ein paar Tage später gefunden, aber alles, was von dem Mann übrig geblieben war, waren ein paar abgenagte Knochen.
Im Winter 1992/1993 erschreckte ein einsamer Wolf, der sich in der Nähe des Holzfällercamps Fort Nelson, British Columbia, aufgehalten hatte, zwei Holzfäller zu Tode. „Er zögerte überhaupt nicht und kam direkt auf mich zu“, sagte Tony Buerge. Er hatte geschrien und mit den Armen gefuchtelt, während sein Partner auf einen Baum geklettert war. Indem er ihn mit seinen schweren Stiefeln trat, hielt Tom das angreifende Tier sieben Minuten in Schach. Er warf seinen Schutzhelm nach dem Wolf, und während der an den mit Schaumstoff gefüllten Ohrenschützern zu kauen begann, nutzten die Männer die Gelegenheit und rannten zu ihrem Truck, um ein Gewehr zu holen.
Bedingungen, die es Wölfen ermöglichen, sich an die Nähe von Menschen zu gewöhnen, gibt es besonders in Nationalparks, wo das Besucheraufkommen hoch ist. In der Nacht vom 9. August 1987 betrat ein einsamer Wolf den Whitefish-Campingplatz im Algonquin Park, Ontario, und biss in den Unterarm eines sechzehn Jahre alten Mädchens. Sie hatte am Feuer gesessen, als der Wolf, der von zwei Jungen gejagt worden war, an einer Gruppe von Kindern vorbei rannte und direkt auf sie zukam. Sie leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht, worauf der Wolf sie biss, dann losließ, an einem Zelt kratzte und einen Schuh fortschleppte. Die Wunde war nur oberflächlich, aber auf Anraten von Ärzten wurde das Mädchen ins Krankenhaus gebracht und mit Tollwutimpfstoff behandelt. Parkranger erschossen den Wolf noch später in der Nacht und schickten den Kadaver zum Tollwuttest ein. Er war negativ.
Vor dem Beißzwischenfall war ein zahmer oder furchtloser Wolf öfter an der Parkstraße gesehen worden. Während der Monate Juli und August schien sich das Verhalten des Wolfes gegen die Menschen zu richten. Er lief auf Menschen, die nachts wie die Wölfe heulten, zu, sprang an Autotüren hoch oder stieß mit ihnen zusammen. Es wurde sogar berichtet, dass er am Kragen eines Mannes und den Haaren einer Frau zog. Im Jahr davor hatte sich ebenfalls ein furchtloser Wolf an den Parkstraßen aufgehalten.
Mitte der siebziger Jahre wurde ein zahmer Wolf mit Namen „Rosie“ ziemlich berühmt, und ein Jahrzehnt früher, 1963, war ein ungewöhnlich zahmer Wolf erschossen worden. Auch er hatte keine Tollwut. Jedoch sprach keiner der früheren Berichte von einem Tier, das so unverfroren war wie der Wolf 1987, noch empfanden die menschlichen Beobachter sie als eine Bedrohung. Tatsache ist, dass der Beißzwischenfall fünfundzwanzig Jahre lang der einzige war, bis es 1995 zwei neue Fälle gab. Betroffen waren eine junge Frau von zwanzig und ein Junge von neun Jahren. Der Letztere wurde ziemlich schwer in die Seite gebissen, während er nachts einen Wanderweg entlang ging. 1996 betrat ein furchtloser Wolf nachts einen Campingplatz und schlug seine Fänge in den Kopf eines zwölfjährigen Jungen, der im Freien schlief. Er wurde mehrere Meter mitgeschleift. Beide Wölfe wurden erschossen und auf Tollwut getestet, das Ergebnis war negativ.
Im Juli 1988 wurde Meike Marsh außerhalb seiner Hütte am Tibbles Lake, westlich von Quesnell, British Columbia, unsanft geweckt, als ihn ein Wolf aus seinem dicken Schlafsack zog. Der Wolf zog sich ein paar Schritte zurück als Meike schrie. Als sein Bruder aus der Hütte kam und beide Männer den Wolf anschrien, lief das Tier langsam außer Sichtweite. Der Wildbeamte AI Lay glaubte, dass der Wolf daran gewöhnt war, an einer nahe gelegenen Müllhalde zu fressen und dass er den Schlafsack mit Müll verwechselt haben könnte. Ein Wolf - vermutlich dasselbe Tier – wurde später von einem ortsansässigen Rancher erschossen.
Ähnliches geschah am 17. August 1996 im Algonquin Provincial Park in Ontario, Kanada. Dort holte ein Wolf den elf Jahre alten Zachary Delventhal aus seinem Schlafsack. Als er ihn fortziehen wollte, schnappte er den Jungen ins Gesicht und verursachte eine Wunde, die mit achtzig Stichen genäht werden musste. Mech ist der Auffassung, dass der Wolf versucht haben könnte, nicht den Jungen, sondern seinen Schlafsack zu greifen.
Mech selber hat die letzten dreizehn Sommer damit verbracht, mit einem Rudel von sechzehn wilden Wölfen in der Arktis, sechshundert Meilen vom Nordpol entfernt, zu leben. Nur die dünne Nylonwand seines Zeltes trennte ihn von den Wölfen. Keiner von ihnen hat Mech jemals Furcht eingeflößt. Gelegentlich versuchten die Wölfe, seinen leeren Schlafsack aus dem Zelt zu ziehen. Ein anderes Mal versuchten sie, mit einem Schlafsack davon zu rennen, den er in der Tundra gelüftet hatte. Wölfe scheinen – ebenso wie Hunde – von weichen, lockeren und pelzähnlichen Gegenständen angezogen zu werden, mit denen sie spielen oder die sie auseinanderreißen. Unabhängig von der Absicht des Wolfes bei dem Zwischenfall im Algonquin-Park, ist der entscheidende Faktor, dass die Tiere sich an Menschen gewöhnt hatten. Einige Tage vor dem Angriff auf Zachary war der Wolf mit Rucksäcken, Tennisschuhen und anderen menschlichen Gegenständen davongerannt. Er hatte sogar menschliches Essen gefressen.
Mit anderen Worten, ebenso wie Bären, die sich von Müllhalden, aus Mülleimern oder von Funden auf Campingplätzen ernähren, so hatte dieser Wolf nicht nur seine Angst vor Menschen verloren, er wurde dafür auch noch belohnt. Während diese Kombination der Umstände nicht immer zu Zwischenfällen führt, bei denen Menschen verletzt werden, so scheint es eine prädisponierte Kondition zu sein. Einfach ausgedrückt: Es ist kein Grund dafür, dass Wölfe Menschen verletzen, aber es scheint eine notwendige Voraussetzung dafür zu sein.
Wesentlich beunruhigender jedoch als die oben beschriebenen Zwischenfälle sind Ereignisse in Europa und Asien, wo Wölfe offensichtlich Menschen getötet und verletzt haben. Seit Jahrhunderten kommen diese Berichte aus Russland, China, dem Mittleren Osten und sogar Spanien und anderen europäischen Ländern. Viele dieser Berichte stammen ohne Zweifel von tollwütigen Wölfen, die – ebenso wie Hunde, Eichhörnchen oder Stinktiere – Menschen angreifen. Viele andere Berichte sind eindeutig Erfindungen oder extreme Übertreibungen, so wie der Zeitungsbericht von 1911 aus Taschkent, der behauptete, dass Wölfe eine komplette Hochzeitsgesellschaft von einhundertdreißig Menschen getötet hätten.
Solche offensichtlichen Erfindungen neigen dazu, ernsthafte Berichte, die nützlich sein könnten, zu verschleiern. Trotz allem sind jüngste Berichte von Wölfen, die in Indien Menschen getötet haben, von qualifizierten Fachleuten untersucht worden und scheinen wahr zu sein. Von März bis Oktober 1996 wurden angeblich vierundsechzig Kinder von einem oder mehreren Wölfen im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh getötet. Dr. Yadvendra-dev Jhala, ein in den USA trainierter Wolfsbiologe, der Wölfe in seinem Heimatland Indien studiert, untersuchte diese Berichte und versuchte zu bestimmen, ob ein anderes Tier außer dem Wolf oder Wölfen an der Tötung beteiligt war.
Im März und April 1997 wurden weitere neun bis
zehn Menschen im selben Gebiet anscheinend Opfer von Wölfen. Fast
alle dieser Opfer waren Kinder unter zehn Jahren, die am Rand von
kleinen Dörfern in dicht bewachsenem Unterholz gespielt hatten oder
austreten mussten. In dem Gebiet gibt es sehr wenig wilde Beute,
und das meiste Nutzvieh wird sehr gut behütet. Zum Zeitpunkt ihres
Todes waren die Kinder unbeaufsichtigt, vielleicht auch von ihren
Eltern vernachlässigt. Weil die indische Regierung Eltern, deren
Kinder von wilden Tieren getötet wurden, mit mehr als einem
durchschnittlichen Jahresgehalt entschädigt, glauben örtliche
Biologen, dass dies ein Anreiz für Eltern sein könnte, ihre Kinder
nicht so genau zu beobachten wie sonst. In den Gegenden, wo die
Kinder getötet wurden, treiben sich Wölfe häufig in den Dörfern
herum und betreten sogar manchmal die Hütten, in denen die Menschen
leben. Sie haben offensichtlich ihre Angst vor Menschen verloren;
vielleicht sind sie auch so verzweifelt wegen mangelnder Beute,
dass sie daher in der Nähe von menschlichen Behausungen nach
Nahrung suchen.
Diese Kombination aus mangelnder Angst, Nähe zu Menschen und der
Anwesenheit vieler kleiner Kinder in dichtem Gehölz bringt
vermutlich in einigen mutigeren Wölfen die Tendenz hervor, mit
dieser neuen Art von Beute zu experimentieren. Vermutlich brauchte
es viele Versuche der Wölfe, bis es ihnen tatsächlich gelungen ist,
ein kleines Kind zu ergreifen. Aber nachdem einer oder zwei
erfolgreich waren, könnte die Belohnung genug gewesen sein, eine
bestimmte Charaktereigenschaft in der örtlichen Wolfspopulation
hervorzubringen.
Vergleicht man zu guter Letzt alle Zwischenfälle, bei denen Wölfe Menschen angegriffen haben, dann zeigen wilde Wölfe ungewöhnliche Zurückhaltung, sogar bei den ärgsten Provokationen, wenn Menschen in ihre Höhlen eindringen und die Welpen heraustragen. Tatsache ist, dass es fast schon ein Wunder ist, dass Angriffe auf Menschen so selten sind, ein Tribut an die Intelligenz und scheue Natur dieses einst so gefürchteten Beutegreifers. Dennoch ist es wichtig, dass wir Menschen verstehen, dass Wölfe große Beutegreifer sind. Ebenso wie Bären, Berglöwen und Haushunde sollte man sie als potenziell gefährlich erachten. Dies bedeutet nicht, dass wir Wölfe mit einer ungesunden Angst betrachten oder gar als Dämonen angesehen sollten. Es bedeutet nur, dass wir Wölfe mit demselben gesunden Respekt betrachten sollen, wie jedes andere potenziell gefährliche Tier.
(Elli H. Radinger; Wolf Magazin 3/99)
Buchtipp:
„Mit Wölfen leben“ Wolf
Magazin 1-2010
Elli H. Radinger (Hrsg.), edition tieger, 2010
www.wolfmagazin.de/html/wolfleben.html