Stormchasers Tod
Shiiha war schon seit Stunden von einem unguten Gefühl geplagt worden und daher doppelt so aufmerksam wie sonst. Gerade in dieser Zeit, mit dem kleinen Kalak an ihrer Seite, auf den sie ständig aufpassen musste. Vorsichtig begutachtete sie den Wechsel. Und da, schon ein paar Tage alt, aber immer noch gut zu erkennen, waren sie: die Fährten der Langzähne! Sie zogen einige Dutzend Schritte auf dem alten, bekannten Wechsel ihrer Art dahin. Der Geruch war schon fast verflogen, aber sie nahm immer noch eine beunruhigende Witterung, diesen nassen, leicht beißenden, nach Blut riechenden Duft in sich auf. Auch die Größe der typischen Langzahn-Fährten variierte. Einige waren ein wenig kleiner, ihr Verlauf nicht so zielgerichtet. Immer wieder trennten sich die etwas kleineren Spuren von den größeren, verschwanden hinter Brombeerbüschen und den hohen Tannen, kamen wieder zum Vorschein, schlössen sich den großen wieder an. Sie blickte auf. Kalak sprang hin und her, knabberte an den Blättern der Büsche, untersuchte jeden Baum, drehte seine großen Ohrmuscheln mal in diese, mal in die andere Richtung. Ein Eichhörnchen flitzte eine große Tanne hinauf. Erschrocken beendete Kalak seine kleine Exkursion und war mit einem kräftigen Sprung wieder an Shiihas Seite.
Mit einem kleinen Knuff ihres Äsers maßregelte sie ihn. Er war kräftig und zeigte schnelle Reaktionen. Aber ein Eichhörnchen war keine Gefahr.
Andere Lebewesen in den Wäldern waren viel bedrohlicher. Wieder sicherte sie einmal rundum, senkte erneut ihren Kopf den alten Langzahn-Spuren zu und der kleine Kalak folgte ihr, schnüffelte interessiert an den halbverfallenen Spuren im Waldboden ...
... und sprang erschrocken zurück, rempelte seine Mutter an, fiel fast von seinen überlangen Beinen und suchte wieder Schutz bei ihr. Etwas hatte ihn an dem Geruch der neuen, ihm unbekannten Spuren erschreckt. Unbekannt, bedrohlich und gefährlich rochen sie und auch die gespannte Aufmerksamkeit seiner Mutter ängstigte das kleine Hirschkalb nun. Es hing mit diesen dunklen Fährten zusammen, was seine Mutter, und nun auch ihn, so unruhig machte. Auch die Langzähne hatten nun Junge. Die kleinen Trittsiegel bewiesen es Shiiha. Auch die Feinde ihrer Art zogen nun ihre Kälber groß. Doch diesen Kälbern wurden keine saftigen Wiesen gezeigt, nicht die weiche, schmackhafte Rinde der jungen Bäume und die zarten Blättertriebe der Büsche waren ihre Nahrung. Sie suchten nun ebenfalls Futter für ihre Jungen, und das Futter für die halbstarken Langzähne konnte, wenn sie nicht aufpasste, schnell ihr kleiner, lebensfroher Kalak werden!
Weiter folgte sie dem Wechsel, bewegte sich zielsicher den nun langsam steiler werdenden Abhang ins Tal hinab. Kalak drängte sich nun schutzsuchend an ihre Seite, hatte seine Exkursion abgebrochen. Auch er war nun alarmiert, wusste noch nicht so genau warum, aber die gespannte Haltung seiner Mutter ließ ihn nun auch vorsichtiger sein. Als sie die Lichtung erreicht hatten, drückte sie ihr Kalb in eine kleine Mulde hinter einem Busch. Kalak wehrte sich nicht dagegen, auch wenn ihn seine Mutter nun für kurze Zeit verlassen würde. Aufmerksam überblickte sie die große Lichtung, prüfte den Wind und die Bewegung der Grashalme, observierte den dichten Wald am anderen Ende der Freifläche. Dann trat sie ein paar Schritte aus der Deckung, blickte nun auch nach links und rechts, sicherte erneut. Zu viel stand nun auf dem Spiel. Die Luft roch sauber und die Grasfläche zeigte keine Anzeichen von Gefahr. Nun trat sie weiter vor, knabberte ein wenig am saftigen Gras, begutachtete erneut die Waldränder, befand den Platz jetzt endlich für sicher und stieß einen kurzen, leisen Fieplaut aus. Wie ein Pfeil von der Sehne schnellte Kalak aus seinem Versteck, übersprang den kleinen Busch, hinter dem er gelegen hatte, und war mit einigen kurzen Sätzen wieder an der Seite seiner Mutter. Die Luft war von Insekten erfüllt, die in der Sonne über dem hohen, saftigen Gras tanzten. Ein paar Hundert Meter weiter plätscherte der große Fluss in seinem breiten Bett. Eine leichte Brise strich durch die hohen Tannen und raschelte im Laubwerk der knorrigen Eichen, ein Eichelhäher schrie und Kalak sprang auf seinen überlangen Beinen hinter einem Schmetterling her. Friedlich grasend verscheuchte Shiiha hin und wieder eine dicke, blutgierige Bremse, die sich in ihrem Fell niederließ, beobachtete weiterhin aufmerksam ihr kleines Hirschkalb und behielt vor allem den Waldrand im Auge. Dies war ein guter Weideplatz mit fetten, saftigen und energiereichen Gräsern und Kräutern, doch der Wind stand heute nicht sehr günstig, kam vom Fluss her und wehte sanft in Richtung Wald, sodass sie besonders aufmerksam sein musste, denn die Langzähne hatten nur ein paar Kilometer weiter flussabwärts ihr Revier. Für den kleinen Kalak gab es auf der saftigen Weide neben Futter noch weit mehr zu entdecken. Wenn er erwachsen wäre, würde er den Großteil des Tages mit Futtersuche, Äsen und Wiederkäuen verbringen, doch noch wurde er in erster Linie von seiner Mutter gesäugt und die Gräser und Kräuter, zu denen ihn Shiiha geführt hatte, dienten mehr dazu, ihn an die neuartige Kost zu gewöhnen. So fand er Zeit, seinem kindlichen Entdeckungsdrang freien Lauf zu lassen und sich weniger um ernsthafte Nahrungsaufnahme als vielmehr ums Spielen und Herumtollen zu kümmern.
Nun hatte sich Kalak mehr dem Waldrand genährt, wo das Gras höher, dicker und holziger war. Er knabberte an den Halmen, doch dieses harte, saure Gras schmeckte ihm nicht besonders. Aber das Äsen war ja Nebensache. Viel schöner war, dass er nun gar nicht mehr über das hohe Gras hinweg sehen konnte. Er sprang hoch, erhaschte einen Blick über die weite Fläche der Lichtung und fiel zurück in sein Grasversteck. Nochmals sprang er ab, bekam kurz seine Mutter ins Blickfeld und tauchte gleich darauf wieder ab.
Da hörte er ein kurzes Rascheln. Überrascht verharrte Kalak und drehte seine großen Ohrmuscheln in die Richtung des Geräusches. Nochmals knisterte das Gras leise. Nur wenige Schritte von ihm entfernt. Seine Mutter konnte es nicht sein, denn die befand sich ein ganzes Stück weit oberhalb seiner Position. Was also war dort im Gras versteckt? Fast gegen seinen Willen siegte die Neugier über die angeborene Vorsicht, und er stakste ein, zwei Schritte auf die Raschelquelle zu. Einerseits fürchtete er sich, andererseits wollte er nun unbedingt wissen, was sich dort verbarg.
Gelb!
Das war sein erster Eindruck. Ein glitzerndes, tiefes Gelb.
Augen! Gelbe Augen!
Wie angewurzelt blieb er stehen, hatte nun die Geräuschquelle entdeckt. Sein kleines, aber starkes Herz pochte wie ein Gewitter in seiner Brust. Blitzschnell verarbeitete er die neuen Eindrücke. Er kannte die dunklen Augen seiner Mutter und auch die ebenfalls tiefbraunen Augen seines Vaters, des starken Platzhirsches Kalani. Aber diese Augen waren anders. Kleiner, mit runden, stechenden Pupillen, und sie saßen nicht seitwärts am Kopf, sondern starrten ihn direkt an. Beide gleichzeitig in seine Richtung. Dieses Wesen hatte beide Augen vorn im Kopf. Und der Geruch, der ihm nun entgegenschlug! Der Geruch seiner Mutter und der anderen Hirsche, nach Moos, Gras, Schweiß und Pflanzen, war ihm bekannt. Aber der Geruch dieses Geschöpfes war fremdartig, stechend, faulig und sehr bedrohlich. Es war der bedrohliche Geruch der Fährte im Wald, der ihn und seine Mutter auf dem Weg zur Lichtung so beunruhigt hatte. Es roch nach Tod!
Ein Langzahn!
Es war Kalaks erste Begegnung mit einem Langzahn. Aber er wusste einfach, dass es einer war. Sein Instinkt sagte es ihm. Und sein Instinkt schrie ihm nun auch zu: „Lauf! Lauf um dein Leben! Rette dich! Warne deine Mutter und alle anderen Tiere des Waldes!“
Kalak schrie. Er stieg auf die Hinterbeine und seine Hufe wirbelten, ebenfalls durch uralte Instinkte gesteuert, zur Verteidigung. Dann endlich schaffte er den Absprung, hetzte durch das Gras, das eben noch ein Spielzeug war, ihn aber nun von seiner Mutter trennte. Die scharfen, trockenen Halme peitschten sein dünnes, weiches Fell. Schweiß trat ihm aus allen Poren seines kleinen Körpers. Und endlich antwortete seine Mutter.
Stormchaser war überrascht. Wie es ihm seine Mutter Canis beigebracht hatte, lag er still in seiner Lauerposition, wartete auf das Zeichen der Jagd. Ruhe und Berechnung, wenn es für einen jungen Wolf auch schwer zu ertragen war, waren die wichtigsten Grundregeln auf der Jagd. Das war die Lehre seiner Mutter, und er hatte sich auch daran gehalten. Schließlich wollten sie die Hirschkuh mit ihrem Kalb überrumpeln. Das Hirschkalb war das Ziel. Auf seiner Position wartend, hatte er es aus den Augen verloren, der Wind hatte sich gedreht, wehte nun seitwärts von ihm weg Richtung Wald, trug seinen Geruch zwar nicht auf die Lichtung, aber auch die nahe Witterung des Kalbes wurde jäh unterbrochen. Und immer noch harrte er aus. Wartete gespannt auf eine Besserung der Lage, auf ein erneutes Drehen des Windes. Canis und Wildsong, die alte unterwürfige Wölfin, wollten das Hirschkalb in ihre Richtung treiben. Links und rechts von ihm lauerten die anderen drei Jungwölfe, Blackmoon, Goldeneye und Fasthowl, im hohen Gras und bildeten so einen Halbkreis, in dem der Junghirsch überrascht werden sollte. Doch nun hatte der kleine Hirsch ihn überrascht!
Plötzlich hatte sich das Gras geteilt, und das Kalb stand direkt vor ihm. Total überrumpelt war er einige Sekunden nicht fähig, eine Entscheidung zu treffen, aber auch das Kalb starrte nur ebenso überrascht mit dunklen Augen zurück. Und das Hirschkälbchen durchbrach als Erstes diese seltsame Lähmung. Es stieg auf, seine kleinen Hufe wirbelten direkt vor Stormchasers Nase herum, mit einer halben Drehung auf den Hinterhufen sprang es seitlich ab und verschwand hinter der hohen Gräserwand. Nun schüttelte auch Stormchaser seine merkwürdige Blockierung ab und sprang Kalak mit einem leisen wütenden Knurren hinterher.
Kalak rannte. Er rannte, wie er nie zuvor in seinem Leben gerannt war. Hinter ihm raschelte, nein, peitschte das Gras kurz auf und sein Jahrmillionen alter Instinkt sagte ihm, dass der Langzahn nun ebenfalls abgesprungen war. Wie zur Bestätigung vernahm er ein leises, kehliges Knurren. Er lief. Seine Beine gehorchten nun einem anderen Willen, nicht mehr seinem. Solch eine Geschwindigkeit hatte er vorher noch nie erreicht. Aber diese andere Kraft, die nun seine Flucht lenkte, war gut. Vorher war er schon bei weit geringerem Lauftempo immer über seine eigenen, überlangen und untrainierten Läufe gestolpert und hatte sich oft über sein Unvermögen und seine eigenen, viel zu lang erscheinenden Beine geärgert. Nun dämmerte ihm, warum sie so lang gewachsen waren.
Stormchasers Geschwister hatten von seinem Absprung noch nichts mitbekommen und lauschten weiter auf ihren Positionen. Nur Fasthowl, etwa zwanzig Meter von Stormchasers Lauerstellung entfernt, vernahm durch die Winddrehung in seine Richtung Stormchasers ungeplante und verfrühte Begegnung mit dem Hirschkalb, wusste aber nicht, was sich dort abspielte. Sprang er nun los, konnte es sein, dass er durch sein Verhalten die Jagd missglücken ließ. Blieb er an seinem Platz, war es allerdings ebenso möglich, dass er durch sein Verharren die genau geplante Jagdabfolge zerstörte. Für lange Überlegungen war aber keine Zeit. Kurz entschlossen sprang er ab, flog in einem weiten Bogen über das Gräsermeer der Lichtung und sah etwa vierzig Meter vor sich den kleinen Hirsch über die Lichtung hetzen und stieß einen kurzen, jaulenden Bellton aus: das Signal für den Jagdbeginn, das er von seiner Mutter gelernt hatte.
Es war nun ganz und gar nicht seine Aufgabe, als unerfahrener „Halbstarker“ den Jagdbeginn zu verkünden. Aber was hätte er tun sollen? Offensichtlich waren Stormchaser und er die einzigen beiden Jagdteilnehmer, die die unplanmäßige Wendung der Lage mitbekommen hatten.
Auch Shiiha rannte. Als sie den verzweifelten Ruf Kalaks vernahm, wurde die Welt um sie herum unwichtig. Es gab nur noch sie, ihren Sohn Kalak und eine Bedrohung seines jungen Lebens. Ein Luchs? Ein Bär? Ein Mensch? Die Langzähne? Sie wusste es nicht, aber das war auch nicht wichtig. Sie musste ihm helfen! Ihn möglicherweise unter dem Einsatz ihres eigenen Lebens retten! Ihr Mutterinstinkt war stark. Ebenso stark wie der von Canis gegenüber ihren Welpen. Jeder Hirsch wäre lieber einmal zu viel davongelaufen als einmal zu wenig. Flucht vor Raubfeinden war die stärkste Waffe der Hirsche. Aber das galt nicht für Hirschkühe, die ein Kalb hatten!
Ein Schwall heißer, übel riechender Luft wehte um Kalaks Nüstern. Der Schatten seines Jägers war neben ihm, sprang ihn mit weit offenem Fang an. Kalak sah die langen Dolche im Maul des Langzahns aufblitzen, die sich im nächsten Augenblick um seinen Hals legten. Er stolperte und mit einem gnadenlosen Ruck brachte ihn der Langzahn zu Fall. Er versuchte Luft zu holen, doch die gierigen Hauer seines Feindes drückten mit mörderischer Kraft seine Kehle zu.
Shiiha sah, wie ihr kleiner Kalak auf sie zugerannt kam. Mit einem Sprung verließ er den Bereich des hochgewachsenen Grases am Waldrand. Wie war er dahin gekommen? Sie hatte nicht sorgfältig genug auf ihn aufgepasst. Dies war der gefährlichste Bereich der Lichtung, der Lauervorposten der Langzähne und anderer Räuber. Und wie zur Bestätigung ihrer Befürchtungen folgte ein grauer Langzahn ihrem Kalb, erreichte es und sprang es an, bohrte seine Zähne in Kalaks Hals, riss ihn um und drückte seine Beute mit seinem Körper zu Boden. Die Beine Kalaks schlugen hilflos in der Luft, während der Langzahn gnadenlos das Leben aus ihrem Sohn herausdrückte.
Shiiha verdoppelte ihre Anstrengungen und war nun nicht mehr die scheue, sanftäugige Hirschkuh, sondern eine Rachegöttin, die Verteidigerin ihres hilflosen Nachwuchses, für die die Gefährdung ihres eigenen Lebens nicht mehr wichtig war. Dann erreichte sie endlich ihren Sohn, stieg auf die Hinterbeine, ihre Hufe trafen den Langzahn direkt am Kopf. Aufjaulend ließ die Bestie von Kalak ab. Wieder und wieder trat sie zu. Der benommene Langzahn rollte über den Boden, krümmte sich, und Shiihas Tritte nagelten auf seinen Körper. Befriedigt hörte sie das hässliche Geräusch brechender Rippen. Nochmals trat sie mit voller Wucht nach dem wimmernden Langzahn: für Kalak, ihren Sohn, für Sehlani, ihr Kalb, das den grauen Mördern auf dieser Lichtung vor zwei Wintern zum Opfer gefallen war. Und auch für Elkarra, den Platzhirsch, den die stinkenden Teufel im Winter in den Sumpf getrieben und bei lebendigem Leibe ausgeweidet hatten. Jedes Jaulen und Wimmern der sich windenden grauen Kreatur unter ihr war eine Befriedigung für Shiiha, eine Heimzahlung für Elkarras verzweifelte Todesschreie, die sie damals mit anhören musste. Die Rippen des Langzahns krachten genauso schrecklich wie damals Sehlanis dünne Wirbelsäule unter den Hauern ihrer Mörder. Mit beiden Hufen hieb sie nach dem spitzen, hässlichen Schädel des Räubers. Es krachte und Blut spritzte ins grüne Gras, klatschte auf Shiihas Läufe.
Endlich begann ihr Zorn nachzulassen. Der Langzahn rührte sich nicht mehr. Sie schnaubte, blickte sich nach Kalak um, der wieder zitternd auf die Beine gekommen war, stupste ihn an, leckte kurz seine glücklicherweise nicht sehr schlimme Halswunde. Sie war gerade noch rechtzeitig gekommen; ein oder zwei Sekunden später, und der Langzahn hätte ihrem Kalb die Kehle zerquetscht. Erstaunlich schnell schüttelte das Hirschkalb den Schock ab, wusste instinktiv, was es tun musste und lief vor seiner Mutter, so schnell sein kleiner, ausgepumpter Körper es zuließ, in den Schutz der Bäume. Shiiha deckte seinen Rückzug. Denn wo ein Langzahn war, waren mit Sicherheit auch noch weitere.
Kurz vorher hörte Fasthowl einen spitzen Angstschrei. Ausgestoßen von dem kleinen Hirschkalb, ein dunkles, triumphierendes Knurren, wieder ein kurzer Schrei des Kälbchens, der mit einem Gurgeln abgewürgt wurde. Dann folgte ein dumpfer Aufprall, den er sogar als Bodenvibration in seinen Laufsohlen bemerkte. Ein weiterer Schrei ertönte. Dunkler und kräftiger. Der Wutschrei eines erwachsenen Hirsches. Er befand sich immer noch in der Zone des hohen Grases und rannte weiter. Ein schmerzvolles Jaulen durchdrang das Gras: Stormchaser! Nochmals jaulte sein Bruder auf, dumpfe Schläge folgten in rascher Folge. Dann Ruhe. Kurze Zeit später wieder dumpfes Hufgetrommel, und als er endlich die Lichtung erreichte und freies Blickfeld bekam, sah er eine Hirschkuh mit einem Kalb in gewaltigen Sätzen im Wald verschwinden.
Auf der Lichtung lag ein graues Fellbündel.
Stormchaser!
Fasthowls erster Gedanke war: „Alleine hat er es nicht geschafft, und nun liegt er abgehetzt im Gras. Wartet auf die anderen.“
Langsam näherte er sich seinem liegenden Bruder und ihm dämmerte, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Wenn er wirklich abgehetzt war, müsste er hecheln. Und außerdem lag Stormchaser so merkwürdig auf dem Boden, verkrümmt, regelrecht „verwunden“. Sein ansonsten glattes, glänzendes Fell war zerrupft, stumpf, und es roch nach Blut. Und es war kein Hirschblut!
Es war sein eigenes Blut! Stormchaser lag in seinem Blut und bewegte sich nicht mehr. Fasthowl stupste ihn an. Der Körper seines Bruders war schlaff. Kein Muskel regte sich unter seinem Fell. Dicke blaue und grüne Fliegen fingen an, ihn zu umsurren. Setzten sich auf seine offenen und stumpfen Augen, ohne dass Stormchaser sie vertrieb oder zumindest blinzelte.
Warum stand er nicht auf? Er verhielt sich so merkwürdig. Er rührte sich überhaupt nicht. Kein Atem, kein leises Muskelzucken. Sein Kopf war voll Blut und seine Stirn seltsam eingedrückt. Auch seine Flanke war sonderbar verformt. Er war ... Er war ... Fasthowl dachte nach, und ein schreckliches Bild kristallisierte sich vor seinem inneren Auge: Er sah sich selber, wie er seine Zähne um den Hals des Hirschkälbchens legte, das ihnen ihre Mutter vor – wie es ihm nun schien – so unendlich langer Zeit mitgebracht hatte. Er sah noch einmal das Hirschkalb zucken und zappeln ... und dann in seinem Würgegriff erschlaffen. Stormchaser zeigte nun die gleichen leeren Augen wie damals der kleine Hirsch. Fasthowl traf die Erkenntnis wie ein Huftritt. Seine Beine gaben nach und mit hängender Rute und einem leisen Wimmern legte er sich neben seinen Bruder, stupste ihn erneut an, leckte vorsichtig seine Schnauze, als ob er das Geschehene damit wieder rückgängig machen könnte. Aber es war zu spät. Er würde nie wieder laufen, mit seinen Geschwistern herumtollen, sein helles, klagendes Heulen ertönen lassen. Stormchaser war durch das „Große Licht“ gegangen. Er war tot!
Erst als Blackmoon ihn von der Seite anstupste, erwachte Fasthowl aus seinen Gedanken. Die Annäherung seiner Geschwister war ihm nicht aufgefallen. Auch Windsong, das alte, untergebene Weibchen, das so oft für die Welpen als „Babysitter“ da war und diese Aufgabe auch noch als ihre Pflicht ansah, als die Welpen längst keine Welpen mehr waren, trat mit hängenden Schultern heran und stupste Stormchasers toten Körper mit der Schnauze.
Canis kannte viele Formen des Todes. Ihr Sohn Stormchaser war auf die ehrenvollste und höchste Art zu Tode gekommen: auf der Jagd nach Beute, um das Überleben des Rudels zu sichern. Er hatte seinem Namen und seiner Familie alle Ehre gemacht, und obwohl Canis schon viele ihrer Welpen und Familienmitglieder hatte sterben sehen, erfasste sie nun doch wieder die Leere, die sie schon so oft – zu oft – erfüllt hatte. Sie blickte hinauf zum „Großen Licht“, durch das Stormchasers „Wesen“ nun gegangen war. Die Öffnung der „Welt-Höhle“ durch die sie alle einmal gehen mussten. Kein Lebewesen, das die „Welt-Höhle“ durch das „Große Licht“ einmal verlassen hatte, konnte zurückkehren. Dort war das Reich ihrer Ahnen.
Stormchaser war von der „Ewigen Wölfin“, die die Mutter aller Wölfe war, in ihr Reich geholt worden. Denn diese Welt war nur eine Welpenhöhle, und das „Große Licht“ war der Ausgang in die „Unendliche Erstreckung“, wo Stormchaser nun als „Himmelswolf“ weiter lebte und durch den Sternenraum jagte.
Trotzdem spendete ihr auch dieses uralte Wissen nur wenig Trost, und sie wimmerte leise. Als Rudelmutter durfte Canis unter normalen Umständen keine Schwäche gegenüber den rangniederen Familienmitgliedern zeigen, wollte sie ihre Position nicht vorzeitig verlieren. Doch der Tod eines Mitgliedes der Rudeldynastie begrub für die Zeit der Trauer alle Rangstreitigkeiten.
Wieder hob sie den Kopf und intonierte den alten Klagegesang des Rudels, den sie zuletzt im sturmgepeitschten Winter nach Sunrays Ende angestimmt hatte. Nachdem Canis nach etwa einer halben Minute den Eröffnungspart beendete, fiel Windsong in die zweite Strophe ein, und auch Fasthowl bemerkte erst jetzt, dass er die alte, klagende Melodie kannte, und folgte ihr, ebenso wie seine Geschwister, mit seiner kräftigen, schnellen Stimme.
Der Gesang erzählte vom „Großen Licht“ und der
„Welt-Höhle“, der „Ewigen Wölfin“, die so grausam und gleichzeitig
doch so gut zu ihren Kindern war. Es war die Erzählung von den
„Himmelswölfen“, ihren Ahnen, die mit der „Ewigen Wölfin“ zusammen
über die Himmelskuppel jagten. Und nach dieser Erzählung, die
Fasthowl zwar kannte, aber noch nicht richtig verstand, erklang der
dritte und letzte Teil des Liedes. Der Teil, der jedes Mal aufs
Neue komponiert wurde, der einmalig war und auch nur einmal und nie
wieder gesungen werden würde. Es war die Leitstrophe für
Stormchaser, die seinem Wesen helfen sollte, sicher durch das
„Große Licht“ zur „Ewigen Wölfin“ zu gelangen und ihm auch den
Abschied von seinem Rudel erleichtern sollte. Sie erzählte von
seinen Taten auf dieser Welt. Von seinem tollkühnen Angriff auf das
Hirschkalb, von seinem Kampf mit der Hirschkuh. Aber auch von
seinem glänzenden Fell, seinen wachen Sinnen und seinem kräftigen
Heulen. Dieser Part war auch eine Bitte an die „Ewige Wölfin“,
Stormchaser in ihrem Reich willkommen zu heißen.
(Carsten Corleis; Wolf Magazin 3/99)