BRIAN

Zu der Zeit war das CSH-Bagdad das einzige Krankenhaus, das Verletzungen schwersten Grads behandeln konnte. Siebenundsiebzig Betten, drei Orthopäden, zwei Neurochirurgen, zwei Notärzte, ein Gefäßchirurg, ein Radiologe, ein Psychologe, ein Neurologe. Eine ganze Horde Anästhesisten und Krankenschwestern. Sie behandelten jeden, von Soldaten der USA oder der Koalition bis zu irakischen Soldaten, Zivilisten und Gefangenen, und sie behandelten alles, von Zahnschmerzen bis hin zu Vorfällen mit einer Vielzahl von Opfern, bei denen Körper zerrissen oder Schädel durchlöchert wurden, wie es bei Brian der Fall war.

Auch nachdem er sich an den Schock gewöhnt hatte, ein Loch im Kopf zu haben, blieb ein merkwürdiges Gefühl, das noch verstärkt wurde durch die Merkwürdigkeit seiner Umgebung, ein weißes Bett in einem weißen Zimmer voller weißer Betten, in denen Soldaten in weißen Verbänden wie in Kokons lagen. Nach dem Aufwachen aus dem roten Nebel der Operation hätte er am liebsten geschrien, die Augen geschlossen und sich geweigert, seine Lage zu akzeptieren. Das dauerte ein paar Minuten, und dann danach war er noch da und das Weiße und das Blut, das durch das Weiße sickerte und der Schmerz in seinem Schädel waren nicht verschwunden und letztendlich konnte er das alles nur akzeptieren, weil er dalag und die Ärzte und Schwestern mit ihm redeten – »Können Sie mir sagen, was für ein Jahr wir haben? Können Sie mir sagen, wie der Präsident heißt? Können Sie das Wort Hund buchstabieren?« Was konnte er denn schon tun außer glauben, dass dies fast die Wirklichkeit war?

Zwei Wochen war er dort. In dieser Zeit wechselten die Männer in den Betten neben ihm häufig, aber einer war ihm besonders im Gedächtnis geblieben, ein gewisser Gefreiter Mars aus Louisiana, der seine Hand verloren hatte, als der Truppentransporter, in dem er als MG-Mann im Schützenturm mitfuhr, einen Abhang hinunterstürzte und ihn unter sich begrub.

Sie lagen da und redeten, während klare Flüssigkeiten in sie hinein und dunkle Flüssigkeiten aus ihnen heraustropften. Sie redeten viel – ununterbrochen, wie es ihm erschien –, weil das Reden ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelte. Sie fühlten sich sicherer, als wenn sie mit ihren Gedanken alleine wären. Sie redeten darüber, wie durstig sie seien und wann die Schwester wieder mit Coke und Wasser vorbeikommen werde. Sie redeten über ihre Väter, die beide in Vietnam gedient hatten, und beide etwas dagegen gehabt hatten, dass sie sich meldeten. Sie redeten darüber, warum JJF die beste Erdnussbutter-marke sei. Sie redeten darüber, wie heiß Angelina Jolie sei und wie unglaublich ein Blow-Job bei diesen Lippen sein müsse. Das Einzige, worüber sie nicht redeten, waren ihre Verletzungen.

Bis Mars eines Tages Brian eine Geschichte über seinen Großvater erzählte, einen Veteranen des Zweiten Weltkriegs, der keine Beine mehr hatte. Er war auf den Philippinen, auf der Insel Mindoro, als unter ihm eine Landmine explodierte. Unterhalb der Knie hatte er so gut wie nichts mehr, ein paar Hautfetzen, Muskelfragmente und zersplitterte Knochen. Seine Einheit hatte ihren Sanitäter bei einem Feuergefecht verloren, also taten die Soldaten selber alles was in ihrer Macht stand. Drei Männer hielten ihn fest, während ein anderer mit einem Messer in seine Knie schnitt. Über einem Feuer erhitzten sie eine Machete, bis sie orange glühte. Damit kauterisierten sie die Arterien und strichen dann eine Salbe auf und klebten ein schützendes Pflaster aus dem Erste-Hilfe-Kasten darauf. Per Funk gaben sie seine Koordinaten durch und legten ihn an einem nahen Strand ab, und als einen Tag später ein Helikopter ihn abholte, hatte er hohes Fieber und dunkle Linien der Infektion krochen seine Schenkel hoch.

»Wenn ich an diese Geschichte denke, glaube ich, dass ich Glück gehabt habe.« Beim Sprechen gestikulierte Mars mit seinem Stumpf, und Brian konnte beinahe sehen, wie geisterhafte Finger durch den Raum deuteten, einen Raum voller Blut und Stöhnen. »Wir haben Glück gehabt.«

Vielleicht zum ersten Mal fühlt Brian sich so – als hätte er Glück gehabt –, als er nun durch die Nacht eilt. Das Glück, noch einmal zu Karen gehen zu können. Genug Glück, um die Jäger zu ignorieren, die auf der Suche nach ihm noch immer den Wald durchstreifen. Obwohl die Schatten dicht sind, bewegt er sich vorsichtig, wie ein Soldat in feindlichem Gebiet, er springt von Baum zu Baum, duckt sich immer wieder hinter einen Strauch, um nach entfernten Schüssen zu lauschen. Er trägt sein Fellkostüm, und das gibt ihm ein Gefühl der Unsichtbarkeit und Macht.

Die Erinnerung an ihre Berührung ist noch sehr präsent – so lebendig, als würde sie seine Hand halten und ihn durch den Wald zu sich ziehen. Er widert sie nicht an. Darauf kommt er immer wieder zurück, dass seine Verletzung sie ihm nähergebracht hat und ihr Gesicht mit Sympathie und Herzlichkeit furchte. Es ist, als hätte er das Prinzip des Magnetismus entdeckt – er stößt sie nicht ab, er zieht sie an –, und jetzt eilt er zu einem Versammlungsort.

Als er ankommt, ist es nach Mitternacht, und ihr Haus ist so dunkel wie der Wald, die Fenster zeigen kein Lampenlicht oder den zitternden, wässrigen Schein eines Fernsehers. Wo der Waldrand an den Rasen stößt, bleibt er stehen und lauscht nach Verkehr auf der Straße. Als er nichts hört, rennt er über das Gras zur Garage und späht durch das Fenster der Seitentür, um nachzusehen, ob ihr Ehemann zu Hause ist. Im Dunkeln sieht er nur ihr Auto, und dann geht er die Verandastufen hoch, steckt den Schlüssel ins Schloss und zieht ihn wieder heraus und tritt durch die Tür.

Einen Augenblick steht Brian im Eingang. Da ist der vertraute Anblick der neben der Tür aufgereihten Schuhe, der Jacken auf den Haken. Da ist der vertraute Geruch nach Nudeln und Leder und Papier. Er kennt dieses Haus. Es fühlt sich schon fast wie ein Zuhause an.

Er macht einen Schritt vorwärts, in diesen Übergangsbereich, vor ihm erstreckt sich der Gang, und links und rechts gehen Türen ins Wohnzimmer oder ins Esszimmer ab. Aus dem Augenwinkel heraus sieht er die Uhr des Videorekorders blinken – rot, rot, rot, wie eine Warnleuchte. Offensichtlich ist sie nach dem Sturm, der vorgestern durch den Ort fegte und die Stromversorgung lahmlegte, nicht mehr gestellt worden.

Sehr langsam bewegt er sich durchs Haus, schiebt langsam die Füße vorwärts, setzt langsam sein Gewicht auf, achtet darauf, dass sein Stiefel nicht gegen einen Beistelltisch stößt oder eine Diele knarzen lässt. Er setzt sich auf die Couch. Sanft berührt er die Stacheln eines Kaktus. Er steht vor einem Hirschkopf an der Wand und starrt in seine großen, glasigen Augen und berührt eins davon, bevor er mit der Hand am Hals entlangstreicht, wo das Fell trocken und rau ist. Er schaut in die kalte Höhle des Kühlschranks. Er streicht mit den Fingern über die Arbeitsflächen. Er nimmt ein Glas mit einem Lippenstiftfleck zur Hand, das neben dem Spülbecken steht. Die Rose, die darin steht, legt er beiseite, bevor er das Glas an den Mund hebt und daran schmeckt. Er pisst in die Toilette, setzt sich dazu hin, um kein Geräusch zu machen. Er riecht an der Zahnpasta. Ins Zimmer des Jungen schaut er hinein, betritt es aber nicht. Im Arbeitszimmer blättert er in einem Stapel Papiere und hält sie gegen das Mondlicht, das durchs Fenster fällt, und steht dann neugierig vor dem hölzernen Kinderbettchen, bevor er zum Schlafzimmer geht.

Er erinnert sich daran, wie sein Vater immer wieder versuchte, einen Biber zu fangen, es aber nie schaffte und schließlich voller Wut ihren Damm zertrat und die Tiere, die ihn aus ihrem feuchten, dunklen Bau heraus anfauchten, mit einem Baseballschläger erschlug. Als er jetzt, umgeben von Dunkelheit, in ihrer Tür steht und sich zugleich stark und verletzlich fühlt, stellt er sich vor, zugleich der Schläger und der Biber zu sein.

Am Türknauf hängt ein lila BH. Er reibt ihn zwischen den Fingern. Unter der Bettdecke erkennt er ihren Umriss. Er hört den langsamen Rhythmus ihres Atems. Er macht einen Schritt ins Zimmer und glaubt, einen Wecker zu sehen, der auf dem Nachtkästchen blinkt – doch als er den Kopf in diese Richtung dreht, huscht das Licht von ihm weg und immer weiter weg, als er versucht, ihm nachzuschauen, es ist immer in seinem Augenwinkel, ein rotes Blinken.

»O nein«, sagt er ins Zimmer. Er fasst sich an die Stirn und massiert die Delle. Das Blinken wird intensiver rot. Und jetzt spürt er den ersten der vielen schmerzhaften Drähte, die sich an seiner Wange, seiner Kehle, seinem Arm entlangwinden. Der Kopfschmerz hat sich an ihn herangeschlichen. Er hat ihn nicht bemerkt, zu sehr war er zuerst mit dem Wald, dann mit seinen Gedanken beschäftigt – und jetzt ist er da, streckt sich und will unbedingt wachsen.

So leise es geht, kehrt er in die Diele zurück und findet seine Beine plötzlich schwer. Er stößt gegen die Wand und klammert sich am Türgriff fest, um sich aufrecht zu halten. Er taumelt durch die Diele und versucht, sich an den Weg zu erinnern, aber der Kopfschmerz lässt es nicht zu. Da ist nur noch ein pulsierender roter Stern, der mit seinem Licht alles auffrisst. Er taumelt in ein Zimmer, das Zimmer des Jungen. An der Decke leuchten aufgeklebte Planeten und Sterne, die Sternbilder verschwimmen vor seinen Augen. Er will nur noch ins Bett springen und die Decke über den Kopf ziehen, aber sogar jetzt weiß er noch, dass er das nicht tun darf. Er geht in äußerste Dunkelheit. Er geht in den Wandschrank und zieht die Tür hinter sich zu.

Er verzieht das Gesicht und stellt sich ein hässliches schwarzes Netz vor, das sich über Hals und Arme und das Geflecht seiner Adern ausbreitet, während seine Überraschung nachlässt und der pulsierende Schmerz ihn nun ganz durchströmt wie Elektrizität. Nur noch ein Arm scheint zu funktionieren, und damit stützt er sich ab, um sich hinzusetzen und den Rücken gegen die Schrankwand zu lehnen. Erst dann kann er die Augen schließen und sich vom Schmerz überwältigen lassen.