BRIAN

Manchmal scheint die größte Herausforderung des Tages die Entscheidung zu sein, welche Fernsehsendungen er sich anschauen soll. Er lässt sich auf die Couch fallen, zappt durch die fünfhundert Kanäle, die ihm zur Verfügung stehen und schiebt sich Doritos in den Mund, bis die Tüte leer und sein Tarnfarben-T-Shirt orange bepudert ist. Vor ein paar Monaten stieß er im Discovery Channel zufällig auf eine Sendung über Hautläuferinnen. Das waren Navajo-Hexen, die in Wolfsfelle gehüllt auf allen Vieren herumkrochen. Ihre Augen brannten in ihren blassen Gesichtern wie rote Milben auf Pilzen. Sie sangen ihre Gesänge rückwärts, um böse Geister zu rufen, und sie öffneten Gräber und stahlen den Toten Haare und Haut und Fingernägel und zermahlten alles zu einem Leichenpulver, das sie einem ins Gesicht bliesen, um eine Geisterkrankheit auszulösen.

Er war schon immer fasziniert vom Übernatürlichen. Als Junge kaufte er sich von seinem Taschengeld die Comichefte der Geschichten aus der Gruft-Reihe, er stibitzte sich vom Bücherregal seines Vaters die Romane von Stephen King und er fragte, ob er bei einem Nachbarn übernachten dürfe, nur weil er sich dort Horrorfilme für Erwachsene anschauen durfte. Nachts wickelte er sich oft so tief in seine Decke ein, dass sie ihn umhüllte wie ein Kokon und nur am Mund ein kleines Atemloch frei blieb.

In der achten Klasse verkleidete er sich zu Halloween als Affe. Er trug ein Ganzkörperkostüm und eine Maske voller Zähne. In der Schule wusste niemand, wer er war. Er ging zu Mädchen, starrte sie an und sagte nichts, und sie drückten sich an ihre Spinde und versteckten sich hinter ihren Freundinnen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Einige lachten, aber so nervös, dass ihr Lachen gezwungen und keuchend klang. Es war das erste Mal, dass er sich mächtig fühlte.

Er behielt das Affenkostüm in seinem Schrank und manchmal zog er es an und stellte sich vor den Spiegel und trommelte sich auf die Brust – einmal, zweimal –, während er heftig in seine Maske atmete. Er wusste nicht warum, aber er bekam davon eine Erektion. Normalerweise kam sein Vater erst zum Abendessen nach Hause, und so dachte er, er könne gefahrlos in seinem Affenkostüm durchs Haus laufen und fernsehen und seine Hausaufgaben machen, aber eines Tages kam sein Vater früh nach Hause, und weil Brian den Fernseher sehr laut gedreht hatte, hörte er weder das Motorgeräusch noch das Knirschen der Kieseinfahrt noch das Klirren der Schlüssel. Als sein Vater, aus der Garage kommend und mit einer Pizza in der Hand, die Tür aufstieß, sprang Brian von der Couch hoch. Sein Vater schrie erschrocken auf und ließ die Pizza zu Boden fallen – das Pappemaul des Kartons rülpste Käse und Peperoni.

Motten – Pandora-Motten groß wie Handteller – flatterten von draußen herein, während sein Vater an der offenen Tür lehnte und Brian mit zusammengekniffenen Augen anschaute, die seine Neugier und seine Enttäuschung verrieten. »Was ist denn los mit dir?«, fragte er schließlich. Noch an diesem Abend wanderte das Affenkostüm in den Müll, aber Brian hat nicht aufgehört, daran zu denken – so wie ein Amputierter nie aufhören wird, an den verlorenen Körperteil zu denken –, zu stark ist die Erinnerung an das Gefühl der Macht, das dieses Kostüm ihm gab.

In den letzten Monaten hat er in seinen Fallen Wiesel und Baummarder und Kojoten und Biber und sogar einen Vielfraß erlegt. Bei allen bis auf den Biber, bei dem ein kompletter Frontalschnitt nötig war, schnitt er knapp unter dem Fesselgelenk kreisförmig um die Hinterläufe, dann an der Rückseite der Läufe bis zum Anus, und zog von dort aus das Fell von den Hinterläufen. Den Schwanzknochen entfernte er, indem er an der Unterseite des Schwanzes vom Anus bis zur Spitze schnitt und dann den Knochen herauslöste. Schließlich zog er die Haut behutsam von den rosigen Körpern, als würde er einer Frau ein nasses Nachthemd ausziehen. Am Kopf angekommen, musste er die Ohrknorpel durchtrennen und Schnitte um die Augen und durch die Lippen setzen, um das Fell komplett abzuziehen.

Dann schabte er Fett, Fleisch und Knorpel von der Innenseite des Fells, wusch es mit Wasser und Seife und tupfte es schließlich mit einem Tuch trocken. In der Garage hat er mehrere hölzerne Spannrahmen, zentrierte die Felle darauf, zog sie straff und wartete einen Tag, bis sie trocken waren, dann drehte er sie um und wartete noch einen Tag, bestrich dann die Unterseiten mit Pflanzenöl, damit sie geschmeidig blieben, und bearbeitete die Felle mit einem Hundekamm, damit sie flauschig und glänzend aussahen.

In einem Goodwill-Laden kaufte er sich eine Kleiderpuppe, die er als Gerüst benutzte. Beim Militär hatte er Nähen gelernt, allerdings nicht mit Leder. Das Internet verriet ihm alles, was er nicht schon wusste, etwa, dass man das Loch sauber hält, indem man den Vorstich leicht befeuchtet und die Diamantahle vor jedem Stich mit einem Bienenwachsblock poliert. Mit einem gewachsten, fünffädigen Leinengarn vernähte er die Einzelteile in der Sattlerstichtechnik, wobei er sehr behutsam arbeitete, um das Garn nicht zu zerreißen oder das Leder zu beschädigen.

Zuerst schneiderte er das Beinteil aus vier grauen Kojotenfellen und fügte dann für das Oberteil die restlichen Felle nach Form und Farbe passend aneinander. So entstand eine Patchwork-Jacke, die ihm locker von den Schultern hing, damit sie nicht riss, wenn er rannte oder mit ausholenden Bewegungen auf Bäume kletterte oder über Wasserläufe sprang.

Und jetzt ist er fast fertig, er verknotet nur noch den letzten Stich für den Helm oder die Maske – er weiß nicht so recht, wie er es nennen soll –, entstanden aus dem Biber, den er vorgestern gefangen hat. Er ist im Wohnzimmer – sitzt auf derselben durchhängenden Couch und starrt in denselben Mitsubishi-Fernseher mit Holzgehäuse wie damals, als sein Vater ihn vor so vielen Jahren überraschte. Glücksrad läuft. Pat Sajak redet mit einem Kandidaten, einem Mann aus Kentucky mit einer wunderbaren Frau, der davon träumt, eines Tages eine Kreuzfahrt nach Alaska zu machen. Seine Hände sind deformiert. Sie sehen aus wie fleischige Hummerscheren. Ein anderer Kandidat dreht für ihn das Rad.

Die Sonne ist untergegangen. Die Vorhänge sind geschlossen. Die Schaufensterpuppe steht neben dem Sofa, auf ihr hängt das Fellkostüm. Im Fernseher dreht sich das Rad, und im Wohnzimmer beißt Brian einen Faden ab und verknotet ihn. Die Kategorie ist Tätigkeit. Die Lösung des Rätsels besteht aus zwei Wörtern. Brian schärft eine Schere mit einem Schleifstein, steckt seine Faust in die Fellmaske, um sie zu spannen, und schneidet zwei Augenlöcher und einen Schlitz zum Atmen hinein.

Das Rad wirbelt sein Kaleidoskop aus farbigen Tortenstücken und glitzernden Ziffern. Beinahe bleibt es bei Bankrott stehen, ruckt dann aber noch ein Feld weiter zum silbrigen Versprechen von tausend Dollar. »Nackt erwischen«, sagt Brian zum Fernseher. Und dann lauter: »Nackt erwischen heißt es, ihr Idioten!«

Der Mann schließt die Augen und hebt die deformierten Hände wie zum Gebet. Erst Sekunden später erkennt Brian, dass der Mann die Finger kreuzt. »Nase langziehen«, rät der Mann. Lichter blinken. Glocken läuten. Das Publikum klatscht und Pat Sajak lächelt und der Mann macht ein paar Tanzschritte und wirft den Kopf zurück und öffnet den Mund und zeigt eine schwarze Höhle des Lachens, das den ganzen Bildschirm zu verschlucken scheint, als Brian auf die Fernbedienung drückt und alles dunkel wird.

Brian steht von der Couch auf und geht zu der Puppe. Einen Augenblick starrt er in ihre leeren blauen Augen, bevor er ihr die Maske über den Kopf zieht. Er betrachtet seine Arbeit mit Schneideraugen, zieht einen Ärmel glatt, streicht fast zärtlich über das Fell. Ein modriger Geruch steigt aus dem Kostüm auf, irgendwie zwischen Zwickel und Hund – ein Geruch, der ihn umgibt, als er sich Minuten später nackt auszieht und in die Hose steigt und den Gürtel umschnallt und dann die Jacke überstreift und schließlich die Maske. Das Geräusch und die Hitze seines Atmens umgeben ihn, und er bekommt das altbekannte Gefühl der Macht und der Erregung. Eine Erektion pocht zwischen den Beinen. Es ist für ihn die erste seit Monaten.

Er geht vom Wohnzimmer einen schmalen Gang entlang in sein Schlafzimmer. In die Schranktür ist ein Ganzkörperspiegel eingearbeitet, er stellt sich davor und betrachtet sich. Die einzige Lichtquelle ist eine 40-Watt-Birne an der Decke. Sie hat ungefähr dieselbe Wirkung wie ein Scheinwerfer, denn sie wirft lange Schatten, die sich über seinen Körper winden, wenn er sich bewegt. Es gefällt ihm, wie präzise die Maske über sein Gesicht passt, wie eine Rüstung.

Als Brian noch jung war, nahm sein Vater ihn einmal mit zu einer No-Aufführung im Community College. Die Musik war anders als alles, was er bis dahin gehört hatte: das ruhige Murmeln der Bambus-Flöte vor dem Hintergrund des manchmal langsamen, manchmal manischen Schlagens der Taiko-Trommel. Vor allem aber erinnert er sich jetzt an die Masken, die die Darsteller trugen.

In jedem No-Stück gibt es fünf Typen von Masken – Götter, Dämonen, Männer, Frauen und die Alten –, die den grundlegenden Charakter der Figuren darstellen sollen. Und diese fünf Masken wurden danach in der Lobby verkauft. Er weiß noch, dass er die dämonische Maske mit der roten Gesichtsfarbe und den hervorquellenden Augen in die Hand nahm. Ein dünner Schnurrbart umrahmte den Mund und reichte bis zum Kinn. Aus der Stirn wuchsen Hörner. Wie kleine Jungs es eben tun, liebte er sie genau wegen ihrer Hässlichkeit. Er bat seinen Vater, ihm eine als Erinnerungsstück zu kaufen, aber sie waren zu teuer, und so gab er sich stattdessen mit einer Kassette mit der Musik des Stückes zufrieden.

Die Kassette hat er immer noch. Das Cover ist verblasst, und die Aufnahme rauscht ein wenig, aber sie ist noch spielbar. Sein Gettoblaster aus der Highschool steht noch immer auf seiner Kommode, und jetzt schiebt er die Kassette hinein und dreht die Lautstärke hoch.

Das schilfige Pfeifen einer Flöte füllt den Raum, gefolgt von einem Trommelwirbel wie Pistolenschüsse. Er fängt an zu tanzen. Das Fellkostüm wiegt ungefähr dreißig Pfund, und anfangs bewegt er Arme und Beine noch ziemlich unbeholfen – er muss sich erst an seine zweite Haut gewöhnen –, doch bald fühlt er sich darin wohler, und seine Bewegungen werden flüssiger. Schweiß läuft ihm über Rücken und Bauch. Unter der Maske ist das Atmen wie ein starker Wind.

Während die Musik läuft und er durchs Zimmer hüpft, wird sein Schädel zu einer Art Dunkelkammer. Bilder werden in ätzende Flüssigkeiten getaucht. Zuerst sind sie weiß. Dann schwärzen sie sich an verschiedenen Stellen und zeigen eine nackte Frau mit einer Papiertüte über dem Kopf, einen Mann, dem eine Pistole aus den Lenden wächst, einen Moslem, der einen Gebetsteppich aus Menschenfleisch ausrollt, ein brennendes Kamel, eine Hand mit sechs Fingern, die ihm den Stinkefinger zeigt.

Und dann geht er zur Anlage und schaltet sie aus und spürt ein stilles Gefühl der Macht durch seinen ganzen Körper pulsieren. Er zieht weiße Sportsocken und seine schwarz glänzenden Springerstiefel an.

»Ich gehe aus«, ruft er dem Haus zu und bleibt einen Augenblick in der Tür stehen, als würde er auf eine Antwort warten.

Vor Jahren beschlossen sie, sich wiederzutreffen, seine Freunde aus dem Krieg. Sie kamen aus den entferntesten Winkeln des Staates, aber sie trafen präzise zur vereinbarten Zeit – um acht Uhr abends, 20:00 Uhr – in Portland ein, in einer irischen Bar namens The Book of Kells, dessen dunkler, holzgetäfelter Gastraum Brian an den Bauch eines Schiffes erinnerte. Alle drei waren Angehörige derselben Einheit, und obwohl sie einander seit vielen Monaten nicht gesehen hatten, fühlten sie sich in der Runde sofort wohl. Aus beidhändigem Händeschütteln wurden Umarmungen und fleischiges Schulterklopfen. Jim war ein rundgesichtiger Mann, der für den Tigard Kurierdienst arbeitete und seinen Kopf kahl geschoren hatte und am Ende jedes Satzes entschuldigend auflachte, Dave dagegen war groß und schmächtig, hatte seine schütteren Haare zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengefasst und unter den Augen dunkle Tränensäcke wegen der vielen Überstunden, die er als Manager bei Kinko’s machen musste. Sie sagten: »Wie geht’s, Mann« und »Siehst gut aus«, während sie sich zwischen Leibern und Tischen hindurchquetschten und im hinteren Teil der Bar ein gemütliches Plätzchen fanden. Eine trübe Lampe hing über dem Tisch und ließ ihre Haut und ihre Zähne gelb erscheinen.

Eine Kellnerin in schwarzem Rock und weißer Bluse fragte sie, ob sie die Speisekarte wollten, und sie sagten »Bitte« und bestellten Burger und einen Krug Bud Light, und als sie fragte, ob Carlsberg auch okay sei, sagten sie: »Na klar« und machten dann Jim – der den Treffpunkt vorgeschlagen hatte – die Hölle heiß, weil er einen Laden ausgesucht hatte, der sich zu fein war, seinem Kumpel Budweiser zu servieren.

Anfangs lachte und witzelte Brian mit ihnen, während sie ihre Burger mampften und sich Pommes in den Mund stopften und Ketchup von den Fingern leckten, doch dann bemächtigte sich der Alkohol seines Verstands und seine Gedanken trübten sich zusammen mit dem Licht und er sagte weniger und weniger, nickte nur zum Gespräch der anderen und rieb sich die Delle in seiner Stirn.

Dave redete dauernd und konnte nicht still sitzen. Er war schon immer nervös gewesen, aber Brian fiel auf, dass jetzt seine Fingernägel bis zum Ansatz abgekaut waren. »Erinnert ihr euch noch an die Zeit?«, fragte er. »Wisst ihr noch? Mit Big Back?« Er erzählte die Geschichte des Hotelkomplexes, in dem sie für kurze Zeit stationiert waren. Es gab kein fließendes Wasser, und deshalb wurden, um den Gestank zu reduzieren, draußen Dixi-Klos aufgestellt. Ein Obergefreiter – ein ehemaliger Highschool Footballstar mit dem Spitznamen Big Back – saß mit dem Hustler auf dem Klo, als der Komplex mit Mörsern und Raketen angegriffen wurde. Während Rauch wirbelte und die Luft zitterte und Männer in alle Richtungen rannten, wurde er mit der Hose an den Knöcheln und seinem Schwanz noch in der Hand aus dem Klo geschleudert. »Wahrscheinlich die lustigste Sache in der Weltgeschichte.«

Brian hatte sich gefreut, sie wiederzusehen – das hatte er wirklich –, aber als er jetzt zusah, wie Dave mit vollem Mund, aber wie ein Schnellfeuergewehr Geschichten erzählte und Jim kollerte – ha-ha-ha, eher ein schweres Atmen –, kam er sich leer vor, als hätte das Loch in seiner Stirn sich geöffnet und seine Flüssigkeiten wären herausgequollen und sein Körper könnte in jedem Augenblick davongeweht werden, nichts als eine papierene Hülle. Er hatte genau das Gegenteil erwartet; er hatte erwartet, dass dieses Zusammentreffen ihm eine Art Nahrung lieferte, wie dieser englisch gebratene Burger, der auf seinem Teller blutete. Das waren schließlich die Männer, mit denen er geduscht und geschissen hatte, die Männer, neben denen er geschlafen und ihr Schnarchen, ihr Murmeln im Traum gehört hatte. Zusammen hatten sie stramm gestanden und Poker mit Tittenkarten gespielt und zugesehen, wie orangene Leuchtspurmunition durch den nächtlichen Himmel raste. »Wie krank seid ihr, ihr Hurensöhne?« hatte ein Lieutenant sie bei ihrem zweiten Einsatz gefragt. »Krank. Wir sind kranke Hurensöhne, Sir«, hatten sie geantwortet. »Wir bluten grün. Marines bis ins Mark.« Alle hatten sie das Emblem aus Adler, Erdkugel und Anker in Schwarz auf die linke Schulter tätowiert.

Als die Kellnerin kam, um sie zu fragen, ob sie noch einen dritten Krug wollten, war Brian der Letzte, der Ja sagte.

Sein ganzes Leben lang lebte er schon in diesem Haus – einer Ranch mit drei Schlafzimmern, einem Kamin aus Lavagestein und einer mit roter Schlacke bestreuten Einfahrt – in Deschutes River Woods, einer dicht bewaldeten Siedlung am Stadtrand. Hier gibt es keine Straßenlaternen. Nur die Sterne blinken am Himmel und der Mond starrt durch die Bäume wie ein narbiges Auge aus einer anderen Welt. Einen Augenblick lang steht Brian in der Einfahrt, damit seine Augen sich anpassen können, und läuft dann in den nahen Wald.

In so vieler Hinsicht scheint ihm ein Netzhautnerv zu fehlen, der es ihm ermöglichen würde, die Welt so zu sehen wie andere. Er weiß, dass die meisten Menschen mitten im Wald und mitten in der Nacht eine gewisse Angst verspüren. Er nicht. Eher fühlt er sich getröstet von der schwarzen Einsamkeit, die der nächtliche Wald ihm bietet. Wenn man gesehen hat, was er gesehen hat, wenn man weiß, dass in einer anderen Welt die Menschen ins Einkaufszentrum gehen und Frisbees werfen und Kaffee in einem Straßencafé trinken, akzeptiert man irgendwann, dass alles, wovon man glaubte, dass es einen Sinn hat, keinen Sinn hat.

Eine Eule schreit. Der Wind lässt sie wieder verstummen. Der Mond scheint auf einem hohen Randfelsen zu ruhen. In sein blaues Licht getaucht, sieht die Welt aus wie von Wasser überspült. Er läuft zwischen den Bäumen hindurch, schiebt Äste beiseite, weicht Wurzeln aus, springt über gefallene Stämme und landet auf allen vieren und bewegt sich so ein Stück weiter, bevor er sich wieder aufrichtet. In sich spürt er einen dunklen Wind wie von einem kalten Blasebalg.

Seine Stiefel knirschen durch die sandige Erde und stoßen gegen furchigen Basalt im Takt seines Herzens, während er sich nordwärts bewegt und sich an den Sternen und den blau getönten Bergen orientiert, die immer wieder durch die Bäume blitzen. Und der Mond, immer der Mond, folgt seinem Weg.

Im Book of Kells, im hinteren Eck ihrer Nische, schwitzte sein Glas und er wischte die Feuchtigkeit mit dem Daumen weg. Als er das Glas hob und an die Lippen führte, hinterließ es auf dem Tisch einen Ring, ein feuchtes Auge, das ihn durch die Holzmaserung anstarrte. Er fragte sich, was es wohl sah, was sie sahen, wenn sie ihn anschauten und in ihr Gespräch mit einbeziehen wollten. Sie fragten ihn, ob er vom Krieg träume, und er antwortete: »In manchen Nächten.« Sie fragten ihn, ob er sich erinnere, wie Eugene sich einmal ein Papierhandtuch in den Arsch gesteckt und es angezündet und den Tanz des brennenden Arschlochs aufgeführt habe. »Ja«, antwortete er nach einem großen Schluck Bier. »Ich erinnere mich.« Sie versuchten, ihn aufzumuntern, ihm ein gutes Gefühl zu vermitteln. Aber er gab ihnen rein gar nichts zurück, und so hörten sie nach einer Weile auf, ihm Fragen zu stellen, schauten ihn nur hin und wieder mit zugleich besorgten wie verärgerten Blicken an. Er ruinierte ihnen den Abend. Es sollte doch eine Zeit sein, in der sie in ihren Geschichten und ihren bodenlosen Gläsern ein gemeinsames Heilmittel fanden.

Er fragte sich, ob der Krieg sie überhaupt noch quälte, ob sie sich von ihm beschädigt fühlten. Dave hatte Schrapnelle im Bein. Jim war auf dem rechten Ohr taub. Aber ansonsten schien es ihnen gut zu gehen. Sie wirkten wie Männer, die ihren Hunden beibrachten, sich auf dem Boden zu wälzen, die im Supermarkt die Etiketten der Gläser mit Spaghettisauce lasen und den Löwenzahn im Garten mit Werkzeugen ausstachen, die speziell für diesen Zweck verkauft wurden. Er fragte sich, ob sie sich wohl und sicher fühlten, glücklich. Er fragte sich, ob sie einen Vorrat an Zoloft und Trazodone in ihren Medizinschränkchen hatten. Er fragte sich, ob sie überall im Haus Waffen versteckt hatten – hinter dem Tafelsilber, neben der Zahnpasta, zwischen Matratze und Lattenrost. Er fragte sich, ob sie je ihre Erinnerungen mit einem Sechserpack Bud und Gläsern voll Jim Beam betäubten. Er fragte sich, ob sie je mitten in der Nacht aufwachten und ihre Frauen irakische Schweine schimpften und versuchten, sie zu erdrosseln. Er fragte sich, ob sie sich je auf den Boden warfen und den Kopf mit den Armen bedeckten, weil sie das Knirschen von Kies unter Autoreifen für Maschinengewehrfeuer hielten.

»Ich fahre da also auf den Parkplatz gegenüber vom Außenministerium und stelle mich neben diesen gelben irakischen Armeelaster.« Dave redet laut und gestikuliert mit den Händen, seine abgenagten Fingerspitzen stechen durch die Luft. »Ich gehe über die Straße und höre dieses Bumm – Kabumm –, so laut, dass ich es in meinen Eingeweiden, in meinen Knochen spüre. Ich drehe mich um und sehe den Laster in einer Wolke aus Rauch und Feuer durch die Luft segeln. Und mein Hummer ist hinüber, nur noch ein schwelender Schrotthaufen. So dicht dran war ich – nur eine Minute entfernt von siebzig Jungfrauen und tausend Cheeseburgers oder was einen auf der anderen Seite sonst erwartet. Der Sprengsatz war mit Magneten an der Unterseite des Lasters befestigt. Knapper geht’s nicht. Außer eben doch. Das müsst ihr euch vorstellen – ich spüre diese Hitze, dieses Stechen und schaue nach unten und sehe dieses Loch in meiner Hose, groß wie ein Vierteldollar, von einem Schrapnell direkt in die Leiste gebrannt.« Er reißt die Augen auf. »Verdammte Scheiße!«

Es war eine Geschichte, die sie bereits gehört hatten. Brian fragte sich, ob er sie auch bei Kinko’s erzählte, vielleicht im Pausenraum im Kreis seiner Angestellten, mit vorgerecktem Kinn, das dunkelrote Hemd in die Kakihose gesteckt und mit einem Sierra Mist in der Hand. »Du bist jetzt zu Hause«, wollte Brian ihm sagen. »Hör endlich auf, den harten Hund zu spielen.« Mit einem leisen Schmatzen öffnete sich sein Mund, aber es kamen keine Wörter.

Sein Kopf fühlte sich warm an und sein Hirn wattig und seine Blase, als würde sie gleich platzen, deshalb entschuldigte er sich und ging auf die Toilette und suchte sich eine Kabine und setzte sich auf die Schüssel, weil er nicht die Energie zum Stehen hatte. Er stützte den Kopf in die Hände und lauschte den gurgelnden Waschbecken und den röhrenden Trocknern und den Männer, die an den Urinalen zu laut miteinander sprachen. Im beständigen Kommen und Gehen schwang die Tür auf und wieder zu und es klang wie das langsame Knattern von Rotorblättern. »Ich bin müde«, sagte er zu allen und keinem. Hinter seinen Augen pochte es. Er schloss sie, vielleicht für eine Minute, vielleicht für eine Stunde.

»Ich bin müde.« Das war nicht seine Stimme. Die Stimme kam aus dem CSH, dem Bett neben ihm, in dem ein völlig mit Gaze umwickelter Mann lag. Er hatte als Spurensucher in Saqlawiyah gearbeitet. Eine Bombe hatte ihm die linke Seite seines Gesichts weggeschmolzen. Die Sprengladung war in einem Abwassergraben am Straßenrand platziert. In der Bombe war Seifenpulver, das Feuer klebte deshalb an ihm und hinterließ etwas, das aussah wie gekauter Gummi mit roten Farbspritzern. Die Ärzte nannten ihn Two Face, Doppelgesicht. Er lebte nur noch drei Tage, und in dieser Zeit war von ihm nichts zu hören außer diesem geflüsterten »Ich bin müde, ich bin müde«.

Sein Vater hatte dasselbe gesagt. Sein Vater, der gesoffen hatte, der seine Frau an einen anderen Mann verloren hatte, den Sportlehrer mit der Pfeife um den Hals und Bürstenschnitt, Lonnie. M. Wise, der an derselben Grundschule unterrichtete wie sie. Es lag nicht daran, dass Brians Vater irgendetwas getan hatte. Sie hatte ganz einfach die Liebe zu ihm verloren. So einfach war das. Sie und Lonnie waren nach Eugene gezogen, um dort ein neues Leben anzufangen, hatten Brian und seinen Vater alleingelassen mit ihrer Tiefkühlnahrung und ihren Haufen schmutziger Wäsche. Brian war zu der Zeit ein Teenager. Eines Abends wachte er vom Geräusch brechenden Glases und dem Schreien seines Vaters auf. Er kroch aus dem Bett und steckte den Kopf aus der Tür, um im Gang einen Keil gelben Lichts zu sehen. Er folgte ihm in die Küche und sah dort seinen Vater mit dem Rücken am Kühlschrank auf dem Boden sitzen. Er drückte sich Daumen und Zeigefinger gegen die Nase und versuchte, dort einen Schmerz zu lösen. Es war kalt in der Küche, und als Brian zum Fenster über dem Waschbecken schaute, sah er, dass die halbe Scheibe fehlte, eine hindurchgeworfene Bierflasche hatte ein schwarzkantiges Loch gerissen. Draußen schneite es und die Flocken wehten durchs Fenster in die Küche, wo sie herumwirbelten und die Szene, die Brian vor Augen hatte, aussehen ließen wie eine traurige, frisch geschüttelte Schneekugel.

»Dad?«

Sein Vater ließ die Hand sinken und betrachtete Brian mit zugekniffenen rot geränderten Augen.

»Dad? Kann ich was für dich tun?«

»Nein.« Die Stimme seines Vaters klang heiser. »Es gibt nichts, was du tun kannst oder sonst irgendjemand –« Er versuchte, sich aufzusetzen, kippte ächzend nach vorne und rutschte dann wieder in seine Ausgangsposition am unteren Rand des Kühlschranks. Kein Wunder: Die Küchenanrichte war vollgestellt mit Flaschen Coors Light, viele davon mit abgekratzten Etiketten. Als sein Vater den Kopf schüttelte, riss er einige Magneten von der Kühlschranktür, die klappernd zu Boden fielen. Er lachte freudlos. »Schau dir deinen Alten an. Schau ihn dir an. Und hör zu.« Er drohte mit dem Finger in eine Richtung, wo Brian nicht stand, wo nur Schneeflocken wie feuchte Fetzen geschredderten Papiers fielen. »Hör auf ihn, wenn er dir sagt, wenn du nicht aufpasst, kannst du wo landen, wo du es gar nicht erwartet hast. Man kann sich entscheiden im Leben. Und du kannst die falschen Entscheidungen treffen, die aussehen wie die richtigen – das geht sehr leicht –, und bevor du deinen ersten Fehler korrigieren kannst, merkst du …« Er schaute sich um, als wollte er in der Küche die richtigen Worte finden. Er hob einen Magneten auf – einen Clown mit einer Handvoll Luftballons – und wog ihn in der Hand. »… merkst du, dass du ein Leben führst, das du eigentlich gar nicht erwartet hast.«

Er schwieg lange. Er biss sich auf die Unterlippe, als wollte er wieder verschlucken, was er eben gesagt hatte, weil er vielleicht erkannt hatte, dass man so etwas nicht zu seinem eigenen Sohn sagt, der ja nur ein Junge und noch blind für den Schmerz der Welt war. Vielleicht erkannte er, dass Brian sich ein Leben lang an diesen Augenblick erinnern würde, immer und immer wieder daran denken würde, die Erinnerung kristallisiert wie eine Schneeflocke, die nicht schmelzen will. Sein Gedächtnis war sein Geschenk und seine Behinderung. Er erinnerte sich an alles. Er erinnerte sich sogar an seine Träume, so dass sie gestochen scharf mit seinem wachen Leben verschmolzen. Und an diesen Augenblick erinnerte er sich ganz besonders, weil sein Vater immer so optimistisch gewirkt, gelächelt, gepfiffen und gesagt hatte: Sieh’s von der positiven Seite. Dass er so traurige Gedanken in sich trug, verfolgte Brian und half ihm, den Unterschied zwischen der Oberfläche und dem Wesen, der Wahrheit der Dinge zu erkennen. Und so kam es Jahre später, als sein Vater ihn schüchtern fragte, ob er vielleicht für ihn arbeiten wolle, worauf Brian antwortete, er denke eher ans College, und sein Vater erwiderte: »Mir ist beides recht. Mir ist alles recht, solange du nur glücklich bist«, dass Brian dies als Lüge durchschaute. Wenn er sich dazu entschied, in den weißen Pick-up zu steigen, in Schlösser zu spähen und seine Werkzeuge auf Türschwellen im ganzen Deschutes County zu schärfen – wenn er sich für dieses Leben entschied –, könnte sein Vater dieses zerbrochene Küchenfenster reparieren und die Worte, die er am Kühlschrank lehnend gesagt hatte, wieder löschen. Sein Leben würde wieder lebenswert werden und die Entscheidungen, die er vor so langer Zeit bedauert hatte, diese falschen Entscheidungen würden ihm wieder als die richtigen erscheinen. Brian begriff das und präsentierte als Antwort auf die Lüge seines Vaters nun seine eigene, er werde, er werde es tun, habe tatsächlich schon immer vorgehabt, bei Pop-A-Lock zu arbeiten, nur wolle er zunächst Abenteuer erleben, wolle lernen und deshalb habe er vor, sich beim Reserveoffizier-Ausbildungskorps zu melden. Sie würden seine College-Ausbildung bezahlen und er würde den Marines vier Jahre schenken und dann würde er nach Bend zurückkehren, zu seinem Vater. Er hatte nie vor, das Versprechen zu halten. Wenn er zu dieser Zeit zu McDonald’s ging oder einen Mülllaster über die Straße rumpeln sah, empfand er eine grässliche Form des Mitgefühls, stellte sich sein Leben wie das ihre vor – über den Grill gebeugt Fleischscheiben umdrehend und nach ihrem Fett riechend oder am Heck eines Lasters hängend, der Müll schluckte und triefte vor Hühnerblut und saurer Milch, zu Hause nichts, auf das er sich freuen konnte, außer einer Frau mit dickem Hintern und drei plärrenden Kindern. In Bend war das die Falle, die ihn erwartete, welchen Berufsweg er auch einschlug. Also ließ er das links liegen und unterschrieb die Papiere, wobei er nie auf den Gedanken kam, dass die Türme einstürzen würden und in diesem feurigen Augenblick das, was ihm als die richtige Entscheidung erschienen war, schrecklich falsch wurde, denn es setzte ihn aus auf dieser Kreuzung des Lebens, in dieser Bar in Portland, unter diesen Männern, die ihn an alles erinnerten, was er vergessen wollte, mit einem durchlöcherten Schädel und einem vernarbten Hirn, das weder Freundschaft noch Liebe noch sonst ein menschliches Sehnen verarbeiten konnte außer Wollen und Nichtwollen.

Und da war wieder sein Vater, halb ausgestreckt auf dem Boden, mit den Schneeflocken, die durchs Fenster wehten, den Boden bestäubten und um das Deckenlicht wirbelten, so dass es aussah wie eins von Van Goghs Sternenbildern. »Geh einfach ins Bett, Brian. Wir sollten beide ins Bett gehen.« Wieder versuchte er aufzustehen, Brian streckte ihm die Hände entgegen, und sein Vater nahm sie und drückte sie, massierte ihre Knöchel und sagte: »Achte nicht auf deinen Alten. Ich bin betrunken. Du kannst mich sehen, aber ich bin nicht da.«

Als Brian in ihre Gesichter sah, wusste er, dass sie genau das dachten: Wir können dich sehen, aber du bist nicht da. Du bist nicht Brian. Und in gewisser Weise hatten sie recht.

Dave sagte: »Alles okay?«

»Mir geht es gut. Bin nur müde.«

Eine Weile saßen sie schweigend da, hoben die Gläser an den Mund, kauten die wenigen kalten Fritten, die noch auf ihren Tellern lagen. Dann fing Dave an zu erzählen, dass er nach seiner Heimkehr aus »dem Theater« – so nannte er den Krieg immer, das Theater – sich angewöhnt hatte, seine Uniform zu tragen. »Macht ihr Jungs das auch manchmal? Sie einfach anziehen, um sich an das Gefühl, den Geruch zu erinnern? Den Rucksack mit Steinen füllen und im Garten herummarschieren und vor einem Baum salutieren?« Er grinste verlegen, was er eben gesagt hatte, war ihm peinlich. Sein Blick konzentrierte sich auf die gelbe Tiefe seines Biers, aus der Blasen aufstiegen und aus dem Glas entwichen, so wie Gedanken in seiner Kehle aufstiegen und durch den Mund entwichen. »Wie auch immer. Einmal habe ich sie im Supermarkt getragen. Man spürt da irgendwie eine Energie, wisst ihr. Eine gewisse Macht.« Seine Aussprache war feucht und weich, die Wörter undeutlich. »Wenn man herumgeht und alle lächeln einem zu und schauen einen an, mit, na ja, ihr wisst schon, einer gewissen Ehrfurcht? Es ist, als wäre man was Besonderes, nicht nur ein X-Beliebiger. Ich bin also im Safeways und da kommt dieser kleine alte Mann auf mich zu und schüttelt mir die Hand und sagt: Ich bin stolz auf Sie. Das war ein gutes Gefühl.« Er nagte an seinem Daumennagel, verstümmelte ihn mit kleinen Bissen seiner Zähne. Blut quoll heraus, und er leckte es ab und wickelte den Daumen dann in eine Papierserviette.

Dave war stolz auf sich selbst, auf das, was er dort drüben getan hatte, Brian dagegen fühlte überhaupt nichts – weder Stolz noch Groll –, nur eine gewisse Leere, wie eine Stelle auf einer Tafel, über die man einen Schwamm gezogen hatte, so dass die Wörter unter dem weißen Schmierfilm noch schemenhaft zu erkennen waren. Er nahm den Krug und goss sich noch ein Glas ein. Er musste sich konzentrieren, um das Glas zu treffen, um das Bier nicht überfließen zu lassen.

Jim und Dave begannen nun eine Geschichte über einen Marine, den sie gekannt hatten und der die amerikanische Botschaft bewacht hatte, einfach völlig durchdrehte und mit seinem Auto über den Rand des Grand Canyon gerast war. »Das Theater«, sagte Jim immer wieder. »Das Theater.« Brian fragte sich, ob Dave das Wort in einer Nachrichtensendung gehört oder in einem Buch gelesen und für so bedeutend gehalten hatte, dass er es in seinen Wortschatz aufnahm, das Theater. Brian störte das Wort entsetzlich – das Prätentiöse daran –, aber schlimmer noch, es ließ ihn an den Irak als eine Art Bühne denken, auf der sie alle Kostüme trugen und leere Sätze leierten und Papppanzer fuhren, die man mit der Faust durchlöchern konnte, während im Zuschauerraum Menschen mit leeren Gesichtern saßen, die gähnten und auf die Uhr schauten und ungeduldig auf das Ende der Aufführung warteten.

Falls irgendetwas das Theater war, dann dies – diese Welt, die er seit seiner Rückkehr bewohnte. Wie ein Schauspieler musste er sich überlegen, wie andere ihn in jedem beliebigen Augenblick sahen, musste sich zu einem Lächeln zwingen, wenn ein Kunde einen Witz riss, Interesse vorschützen, wenn man ihn nach den Portland Trailblazers fragte, den Zerknirschten spielen, wenn er beim Zurücksetzen mit seinem Pick-up einen Spielzeugpudel überfuhr. Und auf einer noch tieferen Ebene – jeden Morgen aufstehen, sich anziehen, Essen schlucken, den Drang bekämpfen, in den Wald zu laufen und sich eine Höhle zu suchen – war das alles nur eine künstliche Fassade. Die Leute täuschten viele menschliche Interaktionen vor, aber er war Spezialist für eine viel raffiniertere Form der Täuschung. Er täuschte auch jetzt etwas vor, indem er hier saß, mit den Zähnen knirschte und um seine Selbstbeherrschung kämpfte, weil er wusste, dass er sich glücklich fühlen sollte, dass er lächeln sollte, dass er nicht so heftig mit der Hand auf die Tischplatte schlagen sollte, dass ihre Gläser hüpften und das Bier überschwappte, so wie er es jetzt tat, als Dave wieder einmal das Wort Theater sagte.

Dave streckte die Hände aus, wie um die Gläser zu fangen, und die Serviette rutschte ihm vom Daumen, so dass die blutende Wunde dort zu sehen war. »Verdammt, was ist denn los, Brian?«

»Hör auf, das zu sagen.« Dass das von ihm kam, merkte er erst, als er es gesagt hatte.

»Was zu sagen?«

»Dieses Wort. Theater

»Du bist wirklich nicht du selbst. Du führst dich auf wie –«

»Hör auf dieses Wort zu sagen.«

»Ist doch nur ein Wort. Was ist denn falsch daran?«

»Wenn du es sagst, möchte ich dich am liebsten umbringen.«

Der Lärm der Bar trat in den Hintergrund, und Jim und Dave schauten einander bedeutungsschwanger an, bevor sie sich wieder ihm zuwandten. »Wo übernachtest du heute?«, fragte Jim. »Wir rufen dir ein Taxi.«

»Ich will nicht, dass ihr mir ein Taxi ruft. Ich will, dass ihr aufhört, euch als Kriegshelden aufzuspielen.« Als er dies gesagt hatte, verschwand die Bar und an ihrer Stelle breitete sich eine große Wüste aus, in der vom Wind hochgewehte Bimssteinkörner einem die Haut abschmirgelten und die Hitze einem die Haut abschälte, so dass eine Röte zum Vorschein kam, das eigene Innere. Das Gefühl des Irak legte sich über Brian, die Weite der Wüste und der blaue Himmel darüber, der heiße Wind wie der Atem eines Brennofens, die Skorpione, die unter jedem Stein dösten. Es war ein Ort, dem er oder sonst ein Mensch völlig gleichgültig war, weil er in seinem Alter so viele hatte sterben sehen und so viele geboren wurden, nur um später zu sterben.

In diesem Augenblick tauchte die Kellnerin mit einem zahnreichen Lächeln neben ihm auf. »Alles okay bei euch, Jungs?«

Seine Hand antwortete ihr, sie schnellte vom Tisch hoch und packte sie am Unterarm. »Hast du schon mal von Falludscha gehört?«

Sofort fiel ihr das Lächeln aus dem Gesicht. Vor Schmerz und Angst kniff sie die Augen zusammen. Sie versuchte, sich loszureißen. »Bitte lass mich los.«

»Al-Anbar?«

»Bitte.«

Ihr Arm war so dünn und zart. Er wusste, wenn er ein bisschen fester zudrückte und drehte, wäre ein feuchtes Krachen zu hören. »Siehst du?«, sagte er zum Tisch. »Sie hat keine Ahnung. Kein Mensch weiß, dass dort Krieg ist. Kein Mensch schert sich darum.

»Lass Sie los!« Das war Dave, mit tiefer, strafender Stimme. Er krümmte die Hand zur Schelle und schloss sie um Brians Handgelenk. Wo seine Fingerspitzen auf Adern und Sehnen drückten, durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz.

Brian ließ die Kellnerin los und warf sein ganzes Gewicht über den Tisch – konzentriert in der Faust, die Daves Gesicht traf – seinen Mund, so dass die Lippen an den Zähnen aufplatzten. Sofort Blut. Sein Mund sah aus wie mit Lippenstift verschmiert. Er schrie nicht, aber die Kellnerin tat es, ein Schrei, der heulte und heulte wie eine Sirene, so dass jeder in der Bar sich ihnen zudrehte.

Ein Augenblick entstand – bevor seine Knöchel anfingen zu schmerzen, bevor Jim ihn an die Wand drückte, bevor Dave eine Handvoll Servietten aus dem Spender riss und sich aufs Gesicht drückte, bevor der Barkeeper das Telefon unter der Bar hervorzog und 9-1-1 eintippte –, ein Augenblick, in dem die Welt zu erstarren, alles für Sekundenbruchteile zu erstarren schien, als könnte Brian sich noch umdrehen und in eine friedlichere Zeit zurückkehren.

Er hatte Dave nicht schlagen wollen. Das hieß nicht, dass er es bedauerte, sondern nur, dass er nicht die Absicht gehabt hatte, ihn zu schlagen. So viele seiner Entscheidungen schienen inzwischen rein instinktiv, entstanden auf der allerprimitivsten Ebene, wie damals, als die Bombe detoniert war und er die Arme hochgerissen hatte, um sein Gesicht zu schützen – und plötzlich war er wieder auf dieser Straße, als die Explosion den Hummer erfasste, ihn hochhob und aufriss, und ihn einfach nur überraschte, nicht ängstlich oder wütend oder sonst etwas machte, nur überraschte, während die ersten Funken des Adrenalins durch ihn rasten, wie bei der plötzlichen Schussfahrt einer Achterbahn, kreischendes Metall, Himmel und Erde durcheinander, etwas, worüber er später lachen sollte.

Und dann bewegte die Welt sich wieder, schlingerte vorwärts, und Dave schrie ihn mit einem Mund voller Blut an: »Bei dir stimmt doch im Kopf was nicht!«

Er erreicht eine Wiese, einen Kreis aus Mondlicht, und er eilt zum anderen Ende des silbrigen Freiraums, wo der Wald weitergeht. Dort warten die Schatten auf ihn – so tief, dass sie greifbar erscheinen, wie Umhänge, in die er sich einhüllen kann. In den Schatten fühlt er sich am sichersten. Sie gleiten über seinen Körper, als würden sie ihn lecken, voller Freude über ihre Wiedervereinigung. Unter den Bäumen ist es schwer, etwas zu sehen, und manchmal kann er Dinge hören, die durchs Unterholz brechen, aber er hat keine Angst, ist nur ab und zu überrascht, etwa, wenn eine Eule durch eine Säule Mondlicht fliegt, die Flügel still, das Gesicht so rund und weiß wie ein Teller.

Manchmal stapft er durch Bärentraubengestrüpp und manchmal folgt er Wildwechseln – festgetretene und gefurchte Erde, einen knappen halben Meter breit –, die mal links, mal rechts abbiegen, selten gerade verlaufen, ein beständig sich windender Korridor, der die Löcher in der Wand aus Bäumen findet. Äste krallen nach ihm, aber sein Kostüm schützt ihn, ein beweglicher Panzer. Er schiebt sich durch Heidelbeergestrüpp und der Geruch der drallen, späten Beeren bleibt bei ihm, schwärzt seinen Pelz mit ihrem Blut. An manchen Stellen wird der Boden unvermittelt weich, Schlammtümpel, die der Sturm hinterlassen hat. Der Schlamm klebt an seinen Stiefeln, und hin und wieder bleibt er stehen, um ihn an einem Stamm abzukratzen. Er hört das Rauschen des Flusses, lange bevor er ihn sieht, und als er um eine Ecke biegt und einen Abhang hinuntersteigt, bleiben die Bäume zurück und er steht in Mondlicht getaucht. Der Fluss hat die Farbe von Quecksilber. Er läuft am Ufer entlang bis zu einem umgestürzten Baum, der breit genug ist, um seitlich darüberzubalancieren, und taucht dann wieder in den Wald ein, der jetzt bis zur OB Riley reicht, zu ihrer Straße, ihrem Viertel.

Etwas bewegt sich in ihm. Seit er diese Frau, Karen, kennengelernt hat, hat er, was man nur als Gefühle beschreiben kann. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt er sich, als wäre er mehr als eine Reflexmaschine, mehr als jemand, der nur will und nicht will. In diesem Fall ist natürlich Wollen da, aber unter diesem Wollen liegt eine gewisse menschliche Zärtlichkeit, vielleicht. Es ist ein Labyrinth der Gefühle, dessen Ende er nicht kennt und dessen Verlauf er durch den Wald folgt.

Er ist draußen, lehnt, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, an einem Streifenwagen. Ein Pfütze Erbrochenes dampft vor seinen Füßen. Sein Mund schmeckt nach Säure. Ein stämmiger Beamter steht neben ihm, und ein anderer etwa zwanzig Meter entfernt, er schreibt etwas auf einen Block und spricht mit Dave und Jim, die mit verschränkten Armen dastehen. Die Nacht hat sich über die Stadt gelegt. Trotz der Straßenlaternen, der Scheinwerfer und dem roten und blauen Blitzen des Streifenwagens sind die Schatten so dicht, dass alles wie eine Bedrohung aussieht, die Leute, die über den Bürgersteig gehen und ihn anschauen, ihre Gesichter scharf und zahnreich, Hemden und Jeans dunkel, so dass sie mit der Nacht zu verschmelzen, von einem Augenblick zum nächsten zu verschwinden und wieder aufzutauchen scheinen.

Seine Stirn pocht im Rhythmus seines Herzens. Sein Sehvermögen schlingert auf gelben Wellen der Betrunkenheit. Er ist nicht mehr wütend. Er fühlt sich taub, leer. Als er deshalb Dave reden hört – Dave, der versucht, den Beamten zu überreden, ihn nicht einzusperren, indem er sagt: »Man kann nicht einfach von kein Gesetz zu Gesetz wechseln. Das geht einfach nicht« –, war er ihm nicht so sehr dankbar, sondern hoffte einfach nur, dass das hier bald vorbei sein würde und er dann würde schlafen können.

In der Dunkelheit sieht ihr Haus anders aus – trutziger, abweisender –, seine Fenster sind rechteckige Augen aus gelbem Licht. Er kauert im Gebüsch, glaubt, dass es die richtige Stelle ist, aber erst, als er sie drinnen entdeckt – mit Pferdeschwanz und gerunzelter Stirn – krabbelt er auf allen vieren durch den Garten und duckt sich hinter eine Hecke, die unter dem Panoramafenster entlangläuft.

Zentimeter für Zentimeter richtet er sich auf, und sobald er die Augen über dem Fensterbrett hat, späht er durch das Fenster, quer durchs Wohnzimmer, und sieht sie in einer hell erleuchteten Türöffnung stehen. Es sieht aus, als wäre sie davon eingepackt und würde nur auf ihn warten.

Der Augenblick ist flüchtig. Die Küche liegt links des Wohnzimmers, und aus ihr kommt nun ein Mann – ein großer, dünner Mann mit dem Hemd in der Hose, obwohl es schon so spät ist. Er hat die rechte Hand in der Tasche, und bei der Art, wie sich der Kakistoff über ihr aufwölbt, stellt Brian sich vor, dass er ein Kleingeldklimperer ist, einer, der die Münzen in der Tasche herumdreht und sie zum Klingen bringt. Er sagt etwas zu Karen, ohne sie direkt anzusehen, sein Blick huscht zwischen ihrem Gesicht und dem Boden hin und her. Brian kann nicht verstehen, was er sagt – seine Stimme ist nur ein leises Murmeln –, aber in Karens Gesicht liest er einen offensichtlichen Widerwillen.

Das ist der Ehemann, der für ihr Türmalheur verantwortlich ist – der Idiot, wie sie ihn nannte. Wie ein Idiot sieht er auf jeden Fall aus. Er sieht aus wie ein Versicherungsvertreter, der das Wall Street Journal liest und an den Wochenenden Golf spielt und penibel auf seine winzigen Bleistifte achtet. Brian fühlt sich von seinem Hiersein angegriffen. Er wirkt fehl am Platz in diesem Haus – fehl am Platz neben Karen –, wie ein Möbelstück, das nicht zur restlichen Einrichtung passt.

Der Mann dreht sich zum Fenster, als würde er Brians suchendes Starren spüren. Aber Brian duckt sich nicht oder verdrückt sich in den Wald. Ja, er weiß, der Mann kann ihn nicht sehen, sieht nur ein Fenster voller Nacht, das ihm ein gespenstisches Spiegelbild seines Wohnzimmers zeigt – aber auch, wenn er es könnte, wenn die Sonne scheinen und ein Alarm losgehen würde, würde Brian ohne Angst auf diesem Grundstück bleiben.

Der Schlüssel vermittelt ihm ein Gefühl der Zugangsberechtigung, des Besitzens. Er kann sich gut sich selber in diesem Haus vorstellen – wie er auf dem Sofa sitzt, vom Hochzeitsporzellan isst, Zahnpasta ins Waschbecken spuckt, die Daumen tief in die Augen des Mannes rammt, bis Blut hervorquillt. Bei dieser Vorstellung spürt er eine Bewegung in sich, als würde das Elend seines Lebens sich nun ändern, eine neue Dimension annehmen, und alles nur wegen ihr.