JUSTIN
Als sie zum Fluss kommen, erstarrt Boo. »Siehst du das?«, fragt sein Vater und nickt zu dem Hund. »Er hat etwas gewittert. Vielleicht ein Schneehuhn oder ein Kragenhuhn.«
Boo steht etwa dreißig Meter entfernt, der Körper schwarz und steif wie ein Obsidian, die Schnauze auf etwas gerichtet, das sich am Wiesenrand versteckt, wo das Gras in Weidendickicht übergeht. »Aus!« Der Hund entspannt sich und wedelt mit dem Schwanz, wendet den Blick jedoch nicht ab.
Hier eine Weidengruppe, dahinter ihre Feuergrube. Daneben steht ein Zelt, ein braunes Kuppelzelt aus Vinyl, wie es sie in den späten Siebzigern zu kaufen gab. Der Reißverschluss am Eingang ist offen, die Klappen wirken klaffend und fleischig und zitternd, wie der Mund eines alten Mannes.
Das Zelt scheint leer zu sein, aber von drinnen ist ein Kratzen zu hören. »Hallo?«, sagt Justin und dann noch einmal, allerdings mit erhobener Stimme, damit er auch wirklich durch das Rauschen des Flusses zu hören ist. Das Kratzen hört auf.
Sie legen ihre Ausrüstung ab und nähern sich dem Zelt und ziehen die Klappen beiseite und spähen in das dämmerige Innere. Eine dunkle Gestalt stürzt auf sie zu und steigt kreischend in die Luft – eine Krähe, erkennt er, als sein Verstand den Schreck überwunden hat.
Der Hund bellt wild. Sein Sohn rennt ein paar Schritte davon, bevor er sich, die Hände schützend vor dem Gesicht, wieder umdreht. »O Gott!« Justin drückt sich die Hand ans Herz. Sein Vater starrt dem Vogel einfach nur nach – noch sichtbar, aber sich entfernend wie ein Aschewölkchen, das vom Wind davongetragen wird –, bevor er sich wieder zu dem Zelt umdreht.
»Sollen wir unser Zelt woanders aufschlagen?«, fragt Justin, als sein Herz sich wieder beruhigt hat. »Vielleicht campiert ja hier schon jemand?«
Einige Augenblicke starrt sein Vater das Zelt weiter an, dann legt er die Hand darauf, als würde er nach einem Puls tasten. »Nein«, sagt er. »Hier ist niemand.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Er hebt seine Hand. Die Innenfläche ist voller Pollen.
»Warum sollte jemand sein Zelt so hinterlassen?«
»Sag’s du mir.«
In diesem Augenblick hört Justin die Stille. Es ist wie ein Fehler in einem Musikstück – es bringt ihn dazu, den Kopf schief zu legen und zu lauschen –, als würde ein Finger auf einer Gitarre abrutschen, so dass der falsche Ton viel auffälliger ist, als es der richtige wäre. Das stetige Zischen des Winds, das abwechselnde Vogelgezwitscher, das Rascheln der Eichhörnchen im Unterholz – das alles hat aufgehört. Man hört nur noch den Fluss, der im Hintergrund murmelt.
Dann steigt aus dem nahen Wald ein Schwarm Schwalben in den Himmel, als hätte etwas sie aufgeschreckt. Sie kreisen über ihnen und ihre Schatten sprenkeln die Wiese und ihr hektisches Zwitschern erfüllt die Luft.
Sein Vater wischt sich die Hand am Oberschenkel ab und schaut seine Handfläche an.
Inzwischen ist Graham wieder bei ihnen. »Wisst ihr eigentlich, dass Pollen nie verdirbt?« So redet er oft, listet Belanglosigkeiten auf, die er sich gemerkt hat, als er im Internet surfte oder in seinem Lexikon las. »Das ist eine der wenigen natürlich abgesonderten Substanzen, die unbegrenzt halten.«
»Unbegrenzt!« Sein Großvater schnaubt, weil das Wort ihn amüsiert.
»Weißt du, was das heißt?«, fragt Graham, nicht herablassend, sondern erpicht darauf, es zu erklären.
»Habt ihr gewusst, dass gewisse Pflanzenarten Fleisch fressen können?«
»Wo hast du denn dieses Zeug bloß her?«
»Ich hab es gelesen.«
»Wo?« Die Ansätze eines sarkastischen Grinsens wachsen unter dem Bart seines Großvaters. »Im Internet?« Er spricht das aus wie ein fremdländisches Gericht, von dem er einmal Verstopfung bekam.
»Nein«, sagt Graham. »Auf der Rückseite einer Müsli-Packung.«
»Oh.« Aus dem sarkastischen Grinsen wird ein Lächeln, und sein Großvater hebt die Arme und lässt sie wieder sinken, als gebe er sich geschlagen.
Justin berührt das Zelt und zerreibt den gelben Blütenstaub zwischen Daumen und Zeigefinger. »Das ist lustig.«
Sein Vater hebt die Augenbrauen und fragt: »Was?«
»Dass so ein bisschen Staub diesen Ort hier überdauern kann. So wie wir ihn kennen wenigstens. Sogar unsere Erinnerung daran überdauern kann.«
Sein Vater puhlt sich mit dem Daumennagel etwas zwischen den Zähnen heraus und betrachtet es mit funkelnder Intensität. »Weißt du was?«, sagt er. »Du redest wie ein Englischlehrer.«
»Da das von dir kommt, muss ich wohl davon ausgehen, dass das nicht gut ist?«
Er tritt gegen einen Stein und sieht ihn rollen und ein Stückchen weiter vorne liegen bleiben.
Ihr Lager schlagen sie fünfzig Meter flussaufwärts auf. Obwohl sie davon ausgehen, dass das andere Zelt unbewohnt ist, bereitet es ihnen Unbehagen, und direkt daneben zu campieren ist für sie so, als würden sie nur wenige Meter vom faulenden Kadaver eines gestrandeten Wals picknicken.
Während Boo am Ufer entlangplatscht und dem Silberblitzen der Fische nachjagt, hebt Justin eine neue Feuergrube aus. Sein Vater und Graham gehen noch einmal zum Bronco, um die Kühlbox und einen Kleidersack und Klappstühle und sein altes Armee-Leinwandzelt aus dem Bronco zu holen. Es ist undicht und riecht nach Mottenkugeln und Schimmel. Nach jeder Nacht, die Justin darin verbracht hat, ist er verquollen und schniefend aufgewacht.
Letztes Weihnachten hat er ihm ein neues Zelt von REI gekauft – eins dieser supermodernen, wasserdichten, winddichten Vier-Mann-Dinger mit lebenslanger Garantie und eingebautem Mondfenster. »Was ist mit dem neuen Zelt passiert, das ich dir gekauft habe?«
»Dieses Zelt war immer gut genug für uns.« Er klopft liebevoll auf das Tuch. »Ich mag dieses Zelt.« Er schaut Justin nicht an, sondern macht sich daran, die Leinwand auszubreiten und die Heringe zu setzen.
Seine Stimme wird schrill, und er versucht, sie zu kontrollieren. »Das Zelt hat mich fast dreihundert Dollar gekostet, und du lässt es einfach auf dem Dachboden vergammeln?«
Er schlägt ein letztes Mal mit dem Hammer auf einen Hering und richtet sich dann zu seinen vollen Einsachtzig auf. Unter seinem Starrblick kommt Justin sich vor, als würde er um mindestens zehn Zentimeter schrumpfen, als hätten seine Brustbehaarung und seine Muskeln sich zurückgebildet – und plötzlich wird er wieder zwölf Jahre alt.
Mit einer Hand auf dem Bauch mustert sein Vater Justin von oben bis unten.
»Hab um das Ding nicht gebeten. Und wollte es auch nicht.« Er fängt an, sich den Bauch zu reiben, als könnte er so den Geist seines Zorns beschwören. »Und wann kapierst du endlich, dass Qualität nicht immer ein Preisschild hat? Hör dir doch nur mal selber zu. Du bist so schlimm wie ein Kalifornier!«
»Graham hat Allergien, weißt du. Ich hoffe nur, sie werden von dem Schimmel nicht ausgelöst.«
»Graham hat Allergien.« Er zieht amüsiert die Nase hoch. »Ist doch eher so, dass du Allergien hast.«
»Wir haben beide Allergien.«
Paul schnieft noch einmal. Er hat noch nie an den tränenden Augen und der Kurzatmigkeit gelitten, die Herbst und Frühling mit sich bringen, deshalb betrachtet er allergische Symptome mit Argwohn, als wären sie nur dazu da, Mitleid zu heischen. Er drückt Graham den Hammer mit solcher Kraft in die Hand, dass er einen Schritt zurücktaumelt. »Ich habe eine Arbeit für dich. Schlag die restlichen Heringe ein.«
An den Ufern des South Fork stehen Weiden in dichten Gruppen. Die Welt will sich im Wasser spiegeln, kann es aber nicht. Die Wolken und die Bäume und die Sonne fallen auf die Oberfläche und verschwinden sofort wieder, werden weggespült von der weißen Gischt, wie es auch mit ihren Gesichtern passiert, als sie im Abstand von zwanzig Metern am felsigen Ufer stehen und ihre Spinnköder ins Wasser werfen. Sie müssen aufpassen, dass ihre Leinen sich nicht in den Ästen verfangen, wenn sie ihre Ruten mit kurzen, seitlichen Bewegungen aus dem Handgelenk herausschnellen lassen.
Justin sieht seinem Sohn zu. In seinem Gesicht bemerkt er eine gewisse Erregung, die er kennt. Wenn er früher den Wald betrat und einem Wildwechsel zum Fluss folgte, unter eine Sonne, die schräge Strahlenbündel durch die Bäume warf, in kühlen, nach Kiefern duftender Luft, mit der Angelrute in einer Hand und dem Ausrüstungskoffer in der anderen, träumte er von Forellen mit gesprenkelten Rücken und leuchtend weißen Bäuchen und spürte, wie sein Herz einen Satz machte vor Erregung.
Jetzt spürt er etwas Ähnliches. Der dunkle Wald. Die grüne Wiese. Die narbigen, unerklimmbaren Wände des Canyons, der sie umgibt. Er sieht das alles und merkt, dass er sich tatsächlich danach gesehnt hat. Es ist wie einen alten Song im Radio zu hören. Einen, den man geliebt, aber vergessen hat. Die Wiederentdeckung macht einen glücklich.
Er fragt sich, was seine Frau macht. Vielleicht Liegestützen auf dem Boden im Wohnzimmer, während sie sich eine DVD mit The Survivor ansieht. Er hat nicht mehr an sie gedacht seit der Abfahrt heute Morgen, als sie Graham fest an die Brust drückte und dann ihn so flüchtig in den Arm nahm, als wäre es ein Handschlag, und sagte: »Pass auf unseren Jungen auf!«
Zuvor hatten sie sich gestritten. Er weiß nicht mehr so recht, was der Grund war – irgendetwas Triviales –, vielleicht seine Unachtsamkeit mit der Schüssel, die er angeschlagen hatte, als er den Rest Milch ins Spülbecken kippte. Doch es dauerte nicht lange, und sie beide knallten mit Schranktüren, stöhnten laut und versuchten, einander mit scharfen Worten oder bösen Blicken zu treffen. Er erinnert sich, dass er »Darf ich vielleicht mal?« gesagt hat, als er sich mit der Kühltasche an ihr vorbeidrückte.
Er hatte nicht so wegfahren wollen – mit dem ungelösten Streit. Er weiß noch sehr gut, dass am Tag ihrer Hochzeit, als Freunde und Familie aus der Kirche geströmt waren, um sie zu umarmen und die Hände zu schütteln, seine Großmutter ihm zugeflüstert hatte: »Geht nie im Streit ins Bett. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.« So hatte sich das Wegfahren heute Morgen angefühlt, als würden sie ins Bett gehen und einander den Rücken zukehren, und der Streit würde ihnen die Träume verderben. Er hatte sich überlegt, sie von unterwegs anzurufen, hatte sogar schon das Telefon in der Hand gehabt. Aber dann wurde ihm klar, dass sein Vater das Gespräch mitbekommen würde, und er steckte das Handy wieder in die Tasche. Er schämte sich, sie anzurufen, weil es etwas gab, wofür er sich schämen musste, eine Vorgeschichte: Wie die Situation auch sein mochte, auch wenn er sich völlig unschuldig fühlte, er entschuldigte sich immer, nur um die Sache zu beenden, um die Spannung zu lösen, die ihm nur Verwirrung und Kopfschmerzen bereitete.
Früher bereinigten sie so etwas mit Sex – nein, Ficken war das richtige Wort dafür. Mitten in einer Schreierei bekam einer von ihnen einen hungrigen Blick und schubste den anderen gegen eine Wand oder drückte ihn zu Boden, sie rissen einander die Kleider auf, um eine Brust zu entblößen und in einen Schenkel zu beißen, und ihr Küssen war eher wie Fressen. Nackte Haut wurde rot vom rauen Teppich oder den Fingernägeln des anderen. Und ihr Keuchen wurde zu Jaulen und das Jaulen zu Schreien, wie es besser nicht ging, und dann erschlafften sie, entleert, befriedigt, schwer atmend. Er vermisste diese Zeit.
Er wendet die Aufmerksamkeit wieder dem Fluss zu, aus dem er drei Regenbogenforellen zieht, jede so groß wie sein Unterarm. Als er in ihre schimmernden Augen schaut und ihnen den Haken aus dem Maul zieht, kann er sich gegen eine merkwürdige Freude nicht wehren, auch als ihm bewusst wird, dass er eben ein Lebewesen aus seinem Zuhause in eine kalte weiße Welt gerissen hat, von deren Existenz es bis zu dieser Sekunde noch gar nichts wusste. Sie nehmen die Fische aus und werfen die Köpfe in den Fluss.
Als sie ins Lager zurückkehren, geht Graham zum Zelt, um sich eine Jacke zu holen. Von drinnen kommt ein wütendes Rasseln, als würde ein Dutzend Rumbakugeln heftig geschüttelt.
»Da drin ist was«, sagt er. Nun hört man etwas wie das Schlagen eines Stocks gegen die Leinwand.
»Es ist eine Schlange.« Großvater hat keinen Zweifel. »Eine gottverdammte Klapperschlange ist das.«
Jetzt wissen sie, was ein Erdhörnchen fühlt, wenn es zu seinem Bau zurückkehrt und etwas Zusammengerolltes findet, das zum Kampf bereit ist und fett von den Körpern der zurückgelassenen Babies. Ohne nachzudenken legt Justin den Arm um seinen Jungen und zieht ihn zu sich.
Sein Vater holt einen langen Stock aus dem Wald und schnitzt das eine Ende mit seinem Messer schnell zu einer gelben Spitze. Damit schlägt er von außen auf das Zelt. »Hey! Hey, Schlange! Raus da, du Schlange!«
Schließlich gleitet eine große Klapperschlange aus dem Zelt, hält kurz inne, um die Luft mit der Zunge zu prüfen und windet sich dann schnell durch das knöchelhohe Gras. Johlend vor Aufregung jagt Justins Vater ihr nach, und Justin jagt ihm nach, weil er sicher ist, dass jemand gebissen wird. Beim Geräusch ihrer Schritte rollt die Schlange sich zusammen wie ein Seil und dreht ihnen den Kopf entgegen. Ihr Schwanz rasselt wieder eine Warnung, die Justins Vater zum Verstummen bringt, indem er den Speer nach vorne schnellen lässt, als wäre er eine Verlängerung seines Arms. Die Spitze durchdringt den Kopf der Klapperschlange und nagelt sie an den Boden.
Er grinst Justin breit an, bevor er den Speer aus der Erde zieht und ihn ihm hinhält. An der Spitze hängt die Klapperschlange. Sie zieht sich zu einem S zusammen und erschlafft dann zu einem mehr als eineinhalb Meter langen Strick mit Rautenzeichnung auf dem Rücken. Es ist die größte Klapperschlange, die Justin je gesehen hat. Sie ist wie eine eigene Spezies. Der Schwanz mit der Rassel berührt den Boden und zeichnet ein Zickzackmuster in die Erde.
Anscheinend sieht Justin erschrocken aus – er ist erschrocken – denn sein Vater lacht, als er auf den Schwanz tritt und die Schlange vom Speer zieht. Der Kopf ist jetzt ein eigentümlicher Sattel mit einem Loch in der Mitte.
Graham sagt: »Würde mich überraschen, wenn das nicht die größte Klapperschlange im ganzen Universum ist«, und sein Großvater grinst ihn an wie eine große, dumme Katze mit einer Maus im Maul.
Die Schlange weigert sich zu sterben. Stattdessen führt sie einen Tanz auf, verdreht und verknotet sich zu kalligraphischen Mustern, der Schwanz rasselt, das Maul ist manchmal geschlossen, manchmal geöffnet und so leuchtend rosa wie Kaugummi. Justin ist überzeugt, dass sie ihn anstarrt. Als könnte sie das Maul so weit aufsperren.
Minuten vergehen, und die Schlange verknotet sich weiter zu einem immer sich bewegenden Gewirr. Hin und wieder stupst Justins Vater sie mit dem Speer an. »Darf ich auch mal?«, fragt Graham, und nun wandert der Speer zwischen den beiden hin und her und beide stechen und stupsen.
Der Schlange zuzusehen ist wie einem Lagerfeuer zuzusehen, eine kontrollierte Bedrohung. Eine lange halbe Stunde vergeht, und dann rührt sie sich nicht mehr, wie fest Justins Vater sie auch anstößt. Das Sonnenlicht weicht bereits aus dem Canyon, als er die Schlange zum Lagerfeuer trägt und sie auf einen Stamm legt und sich mit einem Ausbeinmesser an die Arbeit macht. Er schneidet den Kopf ab und legt ihn beiseite. Dann öffnet er den Kadaver, um ihn auszunehmen und die Haut abzuziehen und das Fleisch in Würfel zu schneiden und sie mit einer Scheibe Speck in eine Pfanne zu legen.
Sie stehen um das Lagerfeuer herum und sehen zu, wie das Fleisch im Speckfett brutzelt. Es riecht irgendwie nach Pilzen.
»Habt ihr gewusst«, sagt Graham, und die Nervosität in seiner Stimme weicht einem akademischen Tonfall. »Habt ihr gewusst, dass man, wenn man eine tote Schlange findet, sie begraben soll, weil sonst Bienen und Wespen ihr Fleisch fressen, und wenn sie das tun, wird das Schlangengift zu ihrem Gift, so dass, wenn sie einen stechen, der Stich tödlich ist?«
»Hast du das auf der Rückseite einer Müsli-Schachtel gelesen?«
»Nein.« Er spitzt furchtbar ernsthaft die Lippen. »Das habe ich im Discovery Channel gesehen.«
Sein Großvater nimmt den Kopf, ein weiches Juwel, zwischen Daumen und Zeigefinger und drückt zu. Das Maul öffnet sich. Kleine, klare Tropfen hängen an den Spitzen der Giftzähne. »Hast du gewusst, dass die Chinesen das Gift für ein Aphrodisiakum halten? Und dass die Indianer glauben, dass es heilsame Kräfte hat?«
»Die Indianer?«, fragt Graham. »Oder die Inder?«
»Beide.«
Mit dem Messer verbreitert er das Grinsen der Schlange und entfernt die Giftdrüsen. Es sind durchsichtige Säcke von gelblich weißlicher Farbe, die aussehen, wie aus Spinnennetzen gemacht. Er steckt sie in eine Flasche Jack Daniels. »Ein Snack für später.«
Das inzwischen gare Fleisch ist leuchtend rosa, wie Plastik. Er würzt es mit Salz und Pfeffer, bevor er es auf einen Teller löffelt. »Haut rein.« Sie füllen sich den Mund mit Schlange, und die Schlange ist so gut – wie etwas zäheres Schweinefleisch –, dass es ihnen Appetit macht. Sie spüren, wie es sich in ihren Bäuchen entrollt und rasselt und zischt und nach mehr verlangt. Deshalb füttern sie sie.
Sie legen die Forellenfilets in die Pfanne, wo sie wütend zischen. Justins Vater dreht sie mit einem Teleskop-Wender um, brät sie weniger als fünf Minuten und serviert sie auf Blechtellern, die noch feucht sind von der Schlange. Sie essen das bröselige graue Fleisch mit den Fingern und spucken die Gräten aus, während der Canyon um sie herum immer dunkler wird.
Lange Zeit hört man nur das Rauschen des Flusses und gelegentliches Knacken, wenn eine Coors-Dose geöffnet wird. »Ich dachte, Dad hätte mir gesagt, der Arzt hat dir gesagt, du sollst nicht mehr trinken«, sagt Graham, und sein Großvater sagt: »Das heißt aber nicht, dass ich deswegen weniger trinke.« Dann verfällt er in ein sehr privates Schweigen und sieht aus wie ein Stillleben, die Hand auf Boos Kopf, bewegungslos, den Blick mit distanziertem Ausdruck ins Feuer gerichtet.
Justin sammelt die Teller ein und trägt sie zum Fluss und schrubbt sie mit Sand und einem Spritzer biologisch abbaubarem Spülmittel, das den Fluss hinunterschäumt. Zurück im Lager packt er die Kochutensilien in einen großen Leinensack, den er später an einen Baum hängen wird.
Inzwischen ist die Luft schwer von den Schatten, die der frühe Abend bringt, jetzt, da der Herbst in den Winter übergeht, jeden Tag ein bisschen früher. Lautes Schreien lässt Justin zum Himmel schauen, wo ein Schwarm Gänse in V-Formation nach Süden zieht. Eine von ihnen scheint betrunken zu sein, sie geht tiefer und entfernt sich kreisend von den anderen. Er sieht, dass es eine Eule ist, die Motten aus der Luft pickt.
Dann entdeckt er noch eine. Und noch eine dritte. Er nimmt sein Bier und schlendert vom Lager weg und in der immer tiefer werdenden Dämmerung beobachtet er die Eulen, die von hohem Ast zu hohem Ast fliegen, um sich einen Schlafplatz zu suchen.
Sein Vater kommt zu ihm. »Was machst du?«
»Ich schaue nur. Schaue mir die Eulen und die Bäume und alles andere an.«
»Bäume hast du schon immer gemocht«, sagt er. Justin riecht das Bier in seinem Atem und hört es in seiner Stimme, in dem freundlicheren, entspannteren Ton. »Ich weiß noch gut, als du ein Baby warst. Eines Abends wolltest du einfach nicht aufhören zu weinen. Also habe ich dich nach draußen getragen und mich mit dir unter einen Baum gestellt, und du bist sofort eingeschlafen.«
Justin schaut ihn an wie zum ersten Mal. »Diese Geschichte habe ich noch nie gehört.«
»Du hast Bäume immer schon gemocht.«
»Wirklich?«
»Klar.«
Die Dunkelheit kriecht bis direkt ans Feuer. Justins Vater sitzt auf dem Klappstuhl, während Graham und Justin mit den Stämmen vorliebnehmen, die sie zuvor aus dem Wald geschleift haben. Die Pyramide des Feuerholzes glüht gelb an der Spitze und orange in der Mitte, während die Holzkohle ganz unten schwarz glasig glänzt wie Obsidian. Die Flammen werfen dunkle Schatten auf die Weiden der Umgebung und sprühen Funken in die Luft, und die Nacht wird zu einer flackernden Vision aus orangem Schein und sich bewegenden schwarzen Umrissen. Aus weiter Ferne kommt ein klagender Schrei, der alle anderen Geräusche im Canyon unterbricht.
Graham steht auf. »Was ist das?«
»Das ist eine Eule«, sagt Justin.
»Es klang wie ein Dinosaurier. Ich meine, wie die Dinosaurier in den Filmen.«
Boo trottet zum Rand des Lagers und bellt einmal. Nachdem er sich selbst bewiesen hat, kommt er schleunigst zurück.
Graham setzt sich auf den Baumstamm. Ein paar Minuten vergehen, bevor das Kreischen wieder anfängt. Aus dem Wald ertönt eine andere Eule, dann noch eine, einige mit Stimmen wie metallisches Raspeln, andere wie ein zwitscherndes Tröten. Graham schaut sich über die Schultern, vielleicht fragt er sich, ob er heute Nacht aufwachen und irgendein Phantom über ihm lauern sehen wird. »Sie klingen traurig«, sagt er schließlich.
Sein Großvater nickt und trinkt einen Schluck Bier. »Das tun sie wirklich.«
Eine Weile sitzen sie nur da und lauschen dem Gesang der Eulen, ihrem entfernten Klagen.
»Wenn ich so ein Lied singen könnte«, Großvater stochert mit einem Stecken im Feuer, und die Funken steigen hoch und werden kleiner und kleiner, bis die Dunkelheit sie umschließt. »Ein Lied darüber, wie ich mich fühle. Das wäre dann aber ein Lied.«
Von seinem Gürtel zieht er einen Gerber Hirschfänger und klappt die Fünfzehn-Zentimeter-Klinge auf, die fleckig und schartig ist von vielen Jahren des Tierehäutens und Fischeausnehmens und Holzschnitzens. Damit spitzt er seinen Stecken an. »Kennst du irgendwelche Geschichten, Graham? Gruselige?«
Graham überlegt eine Weile und setzt dann zu einer Geschichte an, die er in der Schule gehört hat. Es geht um einen buckeligen Alten, der unter der Stadt lebt und kleine Jungs nach unten in die Dunkelheit zerrt, wenn sie die Hand durch Gullyroste stecken, um ihre verlorenen Baseball-Bälle zu holen. »Wisst ihr, dass Pepto Bismol die Kacke schwarz macht? Na ja, dieser Kerl ist so böse, dass er schwarz kackt, auch wenn in seiner Kacke gar kein Pepto Bismol ist.« Er redet noch eine Weile weiter, bis sein Großvater ihn unterbricht und sagt: »Ich habe eine Geschichte.«
Eine Motte flackert vorbei und verschwindet.
»Dann erzähl«, sagt Justin.
»Vor langer Zeit«, sagt er, so langsam wie Atmen, »ist hier etwas Dunkles passiert.« Er mustert Graham und Justin, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu versichern. »Es war der Sommer von Red Mornings fünfzehntem Jahr, und wie jeder Indianerjunge machte er sich auf zu einer Visionssuche.« Inzwischen hat er sechs Bier, und seine Stimme klingt, als würden sie bereits Wirkung zeigen. »Hier in diesem Canyon.« Er zielt mit dem Messer zur Betonung auf den Boden, bevor er sich wieder an sein träges Schnitzen macht.
»Also, wenn man auf eine Visionssuche geht, darf man nicht essen oder trinken oder schlafen. Man muss einfach dasitzen – auf deinem Büffelfell oder was auch immer – und eins werden mit der Natur und irgendwann kommt dann dein Geisttier aus dem Wald und sagt dir etwas, das du nie vergessen wirst, zumindest eine ganze Weile nicht. Und dann kehrt man als Mann in sein Dorf zurück. Dieser Red Morning findet also eine hübsche Wiese und wartet, dass die Geister ihn rufen, vielleicht zwei Wochen, und dann –«
»Ohne Wasser hält man es nur vier Tage aus«, sagt Graham. »Dann stirbt man.«
»Indianer sind aus anderem Holz geschnitzt. Sie sind zäher.« Er zeigt mit dem Messer auf Graham. »Und wenn du mich noch einmal unterbrichst, werfe ich dich in den Fluss.«
Graham lächelt und bedeckt das Lächeln mit den Händen.
»Er wartet also drei Wochen. Die Lippen platzen auf. Die Haut wirft Blasen. Spinnen und Ameisen und Moskitos beißen ihn. Und schließlich kommt sein Geisttier. Als er es aus dem Wald kommen sieht, denkt er anfangs, es ist ein Mann, der in Felle gewickelt ist. Aber das ist es nicht. Es ist groß und nackt und über und über mit groben schwarzen Haaren bedeckt. Es riecht nach verdorbenem Fleisch. Und es hat lange gelbe Klauen. Aber Red Morning hat keine Angst. Er weiß, es wird ihm etwas Wichtiges sagen. Es sagt nur ein einziges Wort, bevor es in den Wald zurückkehrt: ›Töte.‹«
Er bekommt einen verträumten Ausdruck und erzählt mit leiser Stimme, wie Red Morning dann aufsteht und seine schmerzenden Muskeln streckt und eben sein Büffelfell zusammenrollen will, als er ganz in der Nähe, nur um eine Biegung des Canyons herum, Rauch in den Himmel steigen sieht.
»Er läuft nach Hause wie nur ein fünfzehnjähriger Indianerjunge laufen kann, so schnell, dass seine Füße den Boden verlassen und er richtig fliegt. Er spürt keinen Hunger und keinen Durst mehr. Er hat noch einen Schmerz in der Magengrube, aber das ist ein anderer Schmerz, als würde das ganze Blut in seinem Körper sich heiß dort sammeln.
In der Nähe des Dorfes klettert er auf eine Böschung, damit er sehen kann, was los ist, bevor er sich ihm stellt. Ungläubig starrt er die Szene unter sich an. Das Räucherhaus brennt. Die Schwitzhütte wurde eingetreten. Mehrere Tipis sind aufgeschlitzt und aufgerissen. Überall liegen Leichen, darunter sein Vater und seine Mutter, mit faustgroßen Löchern in Brust und Bauch. Dann entdeckt er die Soldaten. Sie tragen graue Hosen und blaue Röcke, die sich hinten gabeln wie der Schwanz des Teufels. Es sind fünf, und sie stehen in einem Halbkreis, drehen sich Zigaretten und lachen leise.
Das sind die weißen Männer, von denen er schon Gerüchte gehört, an die er aber nie wirklich geglaubt hat. Diejenigen, die Wapitis und Hirsche nur wegen der Geweihe töten, sie absägen und die Kadaver einfach liegen lassen, damit sie verfaulen. Hier haben sie alle getötet und ihre Proviantbeutel und Satteltaschen mit getrocknetem Wildbret und Knochen-Halsketten und schön geschnitzten Pfeifen und Obsidianmessern und Pfeilspitzen gefüllt. Alles, was hübsch glänzt oder verspricht, ihnen die Bäuche zu füllen, nehmen sie mit. Angeführt werden sie von einem Mann mit Hakennase, der einen weißen Hut trägt.
In diesem Augenblick fällt Red Morning das Wort ein, das die Kreatur ihm zugeflüstert hat. Töte. Sein Herzschlag passt sich seinem Rhythmus an. Töte.«
Hier hält Justins Vater kurz inne, um seine Kehle mit einem Schluck Bier zu befeuchten. Sein Gesicht wirkt im Feuerschein rot und hohläugig. Seinen Stecken hat er zu einem Span zusammengeschnippelt. Holzsplitter bedecken seine Oberschenkel.
Er fährt fort und erzählt ihnen, dass Red Morning die Hände vor dem Mund zu einem Trichter formt und ein Kriegsgeheul ausstößt, die Kehle weit macht und die Zunge vibrieren lässt, so dass seine Stimme den ganzen Canyon ausfüllt, von den Wänden und Bäumen widerhallt, so dass es klingt, als wäre die ganze Welt voller Indianer, die nach den Skalps weißer Männer gieren.
»Die Soldaten werfen ihre Zigaretten weg und schauen in alle Richtungen. Zuerst scheinen sie kampfbereit zu sein, aber wofür sollen sie kämpfen? Sie haben alles genommen, was es zu nehmen gab. Also springen sie auf ihre Pferde. Als der Mann mit der Hakennase sein Pferd zum Galopp treibt, reißt der Riemen seines Proviantsacks, er rutscht ihm von den Schultern und entleert seinen Inhalt auf die Erde. Das Essen und der Schmuck und die Waffen fallen als kompakte Masse, die in viele Einzelteile zerfällt und zwischen den Hufen seines Pferds rollt und springt. Es stolpert und bockt und wirft ihn aus dem Sattel. Seine Männer reiten noch gute dreißig Meter weiter und bleiben dann zögernd stehen, weil der ganze Canyon widerhallt von Red Mornings Kriegsgeheul.«
Die Schatten auf dem Gesicht von Justins Vater bewegen sich beim Sprechen. Aber sonst nichts. Das ist das Einzige, was sich bewegt. Sein Körper ist absolut bewegungslos. Sogar seine Stimme ist ein gleichmäßiges Fließen, so langsam, dass man jedes einzelne Wort aus der Luft greifen und untersuchen kann.
»›Stopp‹, ruft der Mann mit der Hakennase und krabbelt zu seinem Gewehr, das er ebenfalls verloren hat. ›Kommt und helft mir!‹ Er will eben noch einmal nach ihnen rufen, als ein Pfeil seinen Hals trifft und ihm die Stimme nimmt und ihn taumeln lässt. Sein Hut rutscht ihm vom Kopf und saugt einen Blutstrahl auf, der aus seiner Halsschlagader spritzt. Er versucht, sich aufzurichten. Ein zweiter Pfeil verfehlt ihn knapp. Dann kommt ein dritter, er findet sein Ziel und wirft ihn zu Boden.
Die anderen Männer lassen ihn dort liegen, aber jeder von ihnen findet ebenfalls den Tod, einigen werden die Kehlen aufgeschlitzt, anderen der Schädel mit einem Stein eingeschlagen. Er findet sie alle.« Die Stimme von Justins Vater hebt und senkt sich und wird dann wieder normal. »Und dann häutet er sie, nimmt sie aus und isst ihr Fleisch, bricht ihre Knochen auf und saugt das Mark aus ihnen. Mit jedem Bissen werden seine Haut dunkler und seine Nägel länger, sie wachsen zu langen und scharfen Klauen.«
Graham lacht und sein Großvater wirft ihm einen strengen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit dem dunklen Wald und dem weniger dunklen Himmel zuwendet. »Wenn du durch den Wald gehst und einen Baum mit Kratzern in der Rinde findest?«
Sie folgen seinem Blick und erwarten beinahe, einen solchen Baum zu sehen. »Der Indianer, der früher Red Morning genannt wurde, war dort und hat Klauen und Zähne geschärft. Er durchstreift den Wald, noch immer rachedurstig, er sucht Männer mit Gewehren, jemanden, den er zur Verantwortung ziehen kann für das, was mit ihm und seiner Familie passiert ist.«
Graham macht große Augen, doch er grinst dabei, um zu zeigen, dass er keine Angst hat.
Die nächsten Minuten sitzen sie schweigend da. Dann fliegt eine Eule über das Feuer hinweg, die Flügel biegen sich im Aufwind nach oben, die Flammen flackern in der Luft, die sie verwirbeln. Justin bewegt die Beine. Seine Füße kribbeln wie von Nadeln gestochen, sie sind ihm eingeschlafen. Und der Stamm unter ihm fühlt sich plötzlich kalt und hart und unbequem an.
Justin wacht mit voller Blase auf und wagt sich aus dem Zelt und in die nächtliche Stille. Der Mond ist verschwunden, der Canyon wird nur noch vom grauen Licht der Sterne erhellt. Nach ein paar Schritten bleibt er stehen, und der Hall seines letzten Schritts und seines letzten Atemzugs sind die einzigen Geräusche. Die Haare auf seinen Unterarmen stellen sich auf, wie es oft passiert, wenn man sich beobachtet fühlt. Er denkt an die Geschichte seines Vaters, kann sie einen Augenblick lang, schlaftrunken, wie er ist, sogar beinahe glauben. Dann schüttelt er den Kopf und damit schüttelt er die Spinnwebe seiner Angst ab. Er bewegt sich zögernd weiter, weg vom Lager, hin zu der Stelle, die sie zu ihrer Toilette bestimmt haben.
Als er dann einen dampfenden Strahl Pisse ablässt, wandert sein Blick über den Himmel. Eine Eule fliegt eine Kurve und kreist dann, ihre Silhouette verdeckt die Sterne in der Form eines Munds. Er folgt ihr, bis sie mit dem Hintergrund aus einer Anhäufung schnell treibender Wolken verschmilzt. Sie kommen aus dem Westen. Eine Weile steht er so da – halb schlafend, verzaubert vom grauen Mysterium der Nacht –, und fünf Minuten lang oder vielleicht länger beobachtet er, wie sich die Wolken zu einem Gewitter wandeln, das kreuz und quer durchzogen ist von Blitzen wie von leuchtenden Drähten. Bald wird der Canyon dunkel werden vor Regen. Er schüttelt ab und eilt zum Lager zurück und dabei fällt sein Blick auf das verlassene Zelt in der Nähe. Sein schwarzer Höcker sieht aus wie die kauernden Überreste eines großen Tiers, das gerannt und gerannt ist, um genau hier zusammenzubrechen und zu verenden, wie die schattenerfüllten Skelette von Rindern in den John-Wayne-Filmen.
Er liegt wach, bis die Nacht erfüllt ist vom dumpfen, gleichmäßigen Geräusch des Regens. Die ganze Welt scheint zu zischen. Der Wind frischt böig auf, die Leinwand knattert und flattert, und dazu mischt sich ein Geräusch wie Peitschenknallen, als Äste von Bäumen brechen. Er schaltet seine Taschenlampe an und beleuchtet ihre vier Körper dicht zusammengedrängt in einem Zelt, das um sie herum durchhängt und atmet, mit vielen feuchten Flecken auf den Bahnen, von denen es auf seinen Schlafsack tropft.
Wenn man den Kopf aufs Kissen legt und lauscht – wirklich lauscht –, kann man Schritte hören. Das ist der eigene Herzschlag, die Adern in den Ohren, die sich ausdehnen und zusammenziehen und deren Bewegung sich auf die Baumwolle überträgt. Jetzt hört er seinen – ein Untergeräusch, hinter dem Regen –, nur ist sein Kopf nicht einmal in der Nähe seines Kissens. Er hat sich auf den Ellbogen gestützt.
Da ist es. Oder bildet er es sich nur ein? Das raschelnde Stapfen, das ein Fuß in feuchtem Gras macht – in einem Augenblick hinter dem Zelt, im nächsten davor, das Geräusch umkreist das Zelt.
Die Vorderklappe bläht sich im Wind auf, und der Wind trägt den scharf feuchten Geruch von Hasenpinsel herein, einen Geruch, bei dem er immer an Stacheldrahtzaun, an Sterben und Angst denken muss. Draußen verfangen sich Tausende Regentropfen im Strahl seiner Taschenlampe und blitzen auf. Er stellt sich vor, dass da draußen etwas ist, hereinstürzt – wie einfach wäre das – und sein Umriss Gestalt annimmt, wenn es aus der Dunkelheit ins Licht tritt.
Sein Vater stößt einen lauten Schnarcher aus. Justin richtet die Taschenlampe auf ihn, will Pst sagen. Die Finger seines Vaters zucken wie die Beine des Hundes, über den er seinen Arm gelegt hat. Sein Mund formt stumme Wörter, seine Augäpfel zucken unter den Lidern, und – nicht zum ersten Mal – fragt Justin sich, was da drinnen vor sich geht, in ihm.
Am Morgen weckt ein Niesanfall Justin. Er schnäuzt sich und wischt sich die Augen und sieht, dass sein Vater bereits aufgestanden ist, sein Schlafsack liegt zerknüllt und leer auf seiner Pritsche wie eine abgestreifte Haut. Justin riecht Holzrauch und hört das Knistern des Lagerfeuers aus dem Holz, das sie im Zelt aufbewahrt haben, damit es nicht nass wird.
Sein Sohn schläft noch, einen Arm über dem Gesicht, deshalb steht Justin so leise auf wie er kann, zieht seine Jeans und das langärmelige Shirt von Patagonia an, das er viel zu teuer bezahlt hat, als er mit Graham im REI beim Einkaufen war und sich mitreißen ließ. Über 400 Dollar gab er aus, nachdem eine übereifrige Verkäuferin in einer grünen Weste sie quasi in eine Familienmitgliedschaft drängte und sie von Kleiderständer zu Kleiderständer führte, während sie wie ein Schnellfeuergewehr davon sprach, wie wichtig Ausrüstung sei – das war das Wort, das sie dauernd benutzte, Ausrüstung – und unter anderem betonte, wie wichtig das sogenannte Dry-Core-Weave bei jedem Shirt sei, da diese Webtechnik die gefährliche Feuchtigkeit von der Haut fernhalte usw. Jetzt denkt er, er hätte das Geld lieber für eine Luftmatratze ausgegeben. Er war seit Jahren nicht mehr Zelten, und an die Nächte ohne sein Bett ist er nicht mehr gewöhnt. Sein Rückgrat fühlt sich an, als wären alle Gelenke steif geworden, als wäre das Öl aus ihnen ausgelaufen.
Er tritt nach draußen, streckt den Rücken und schaut sich den Morgen an – die Bäume, die tief unten noch im Schatten sind, während das Sonnenlicht die obersten Äste entzündet. Dann bemerkt er das taufeuchte, niedergetrampelte Gras, das in einer Spur um das Zelt herum führt. Langsam folgt er der Spur, als würde er erwarten, dass ihn hinter jeder Zeltecke etwas anspringt, bis er den Kreis komplett abgegangen ist. Dann verlässt er die Spur niedergetrampelten Grases und starrt sie lange an, denn die Erinnerung an die vergangene Nacht steigt ihm wieder ins noch vernebelte Hirn. Er spürt die Angst nicht mehr, die er nachts gespürt hat, nur ein leichtes Unbehagen, ausgelöst von seiner Beobachtung: Was immer sie besucht hat – Hirsch oder Bär oder Kojote, fragt er sich –, hat sich nicht nur angeschlichen, um mal kurz zu schnuppern. Der breite Pfad niedergetrampelten Grases deutet auf ein ausdauerndes Kreisen hin, das ihn an Geier am Himmel erinnert.
Ein Harzeinschluss platzt und lenkt seine Aufmerksamkeit zum Lagerfeuer, das im Augenblick unbeobachtet ist.
Er schaut sich nach seinem Vater um, schaut nach Westen, wo die letzten Wolken langsam von ihm wegziehen und das blaue Gewicht des Himmels hinter sich herzuschleifen scheinen. Der Regen hat Feuchtigkeit hinterlassen, die als milchiger Dunst aus dem Boden kriecht. Knapp kniehoch bedeckt er die Wiese und macht alles, was mehr als zehn Meter entfernt ist, grau und undeutlich. Während er hineinstarrt, schießt ein Rotschulterstärling heraus und huscht an ihm vorbei zum Fluss, wo er einen Hund bellen hört.
Er entfernt sich ein paar Schritte vom Lager, geht auf das Brausen des South Fork zu, bis der Fluss sichtbar wird. Der Dunst zieht in dichten Schwaden zur Wasserfläche. Er entdeckt seinen Vater, er steht nackt am Ufer. Er sieht aus wie auf einer Wolke. Einen Augenblick lang verdeckt ihn ein plötzlicher Dunstwirbel. Und dann taucht er, sich mit den Fingern durch die feuchten Haare fahrend, aus den dichten Schwaden auf, als würde er einen Umhang abwerfen.
Das kalte Wasser hat seine Haut gestrafft und gerötet, und seine feuchten Haare wirken völlig schwarz und kleben wie Algen an seinem Kopf. Einen Augenblick lang sieht Justin ihn so wie er war, vor so vielen Jahren. Wie das blühende Leben. Er erinnert sich, wie sein Vater im Keller Gewichte stemmte, und wie das Haus vibrierte, wenn er zweihundertfünfzig Pfund über den Kopf stemmte und dann wieder zu Boden krachen ließ. Wie er in einem Winter, als sein Holzstapel schneller schwand, als er sollte, ein Loch in einen Scheit Feuerholz bohrte und mit Schießpulver füllte und mit Kitt verschloss – und als dann einige Tage später das Wohnzimmer seines Nachbarn Mr. Ott explodierte, rief Justins Vater mit einem Grinsen auf dem Gesicht die Feuerwehr und ließ Blumen ins Krankenhaus liefern.
In dieser Hinsicht ist er wie eine Naturgewalt, er bewegt sich mit unbekümmerter Ausgelassenheit durchs Leben, wischt jeden Widerstand weg, wie ein Sturm ein Dorf wegwischen würde, das leise Brummen seiner Stimme wie der ferne Ruf des Donners, der einen innehalten lässt, was man auch macht.
Jetzt trocknet er seinen Körper mit einem Handtuch ab und verdreht es zu einer Peitsche, um nach Boo zu schlagen, der aufgeregt bellend ein paar Schritte von ihm wegrennt und dann wieder zurück. Er zieht eine abgetragene Wrangler Bluejeans und ein langärmeliges Thermo-Unterhemd an, dessen Ärmel er über die Ellbogen hochschiebt. Dazu Wollsocken und Browning-Stiefel, die er mit einem Doppelknoten bindet. So fertig angezogen, wirft er sich das Handtuch über die Schulter und kommt auf Justin zu. Er scheint dabei älter zu werden, Fältchen fächern sich von seinen Augen auf und das Gelb kriecht in seine Zähne, als er zur Begrüßung lächelt. Altersflecken sprenkeln seine Haut. Pflaumenfarbene Säcke wölben sich unter seinen Augen. Er sagt nichts, legt Justin nur eine feuchte Hand auf die Schulter. Die Kälte bleibt, auch nachdem er die Hand wieder weggenommen hat. Justin schaudert, als sein Vater durch das taufeuchte Gras davongeht und eine dunkle Spur hinterlässt.
Boo folgt dem Kreis um das Zelt herum und schnuppert aufgeregt, die Schnauze dicht am Boden. Hin und wieder bleibt er stehen und presst mit wedelndem Schwanz die Schnauze noch tiefer ins Gras. Dann erstarrt er und jault und schaut kurz zum Wald, bevor er sich wieder den unsichtbaren Tentakeln des Geruchs zuwendet, den er wittert.
»Er hat das vorher schon gemacht.« Justins Vater rubbelt sich Haare und Bart mit dem Handtuch ab, bevor er es über einen Stamm nah am Feuer hängt. »Irgendwas hat sich da gestern Nacht angeschlichen, um ein bisschen zu schnuppern. Oder, Boo?« Er kauert sich neben den Hund und klemmt sich seinen Kopf unter den Arm und küsst ihn auf die Schnauze. »Was riechst du, Boo? Riechst du einen Waschbären? Riechst du ein Opossum? Riechst du den großen, bösen Wolf?«
Er geht zum Waldrand, der etwa zwanzig Meter entfernt ist. Dort hat er einen roten Leinensack aufgehängt, der aussieht wie eine riesige Wurst. Er enthält ihre Kleidung und ihre Küchenutensilien, alles, was den Geruch von Essen tragen könnte. Am hinteren Ende des Sackes ist ein Henkel, und er hat das Vierzig-Fuß-Seil durchgezogen und einen Laufknoten gebunden, den er festgezogen hat. Dann hat er das freie Ende des Seils über den untersten Ast in etwa sieben Meter Höhe geworfen und daran gezogen, bis der Sack knapp unter dem Ast hing, wie ein gigantischer Kokon. Das freie Ende des Seils hat er um den Stamm gewickelt und mit einem Ankerknoten gesichert, den er jetzt löst und den Sack herunterlässt, bis er mit dem metallischen Klappern der Töpfe und Pfannen und Teller auf den Boden knallt.
Justins Vater sagt ihm, er soll Wasser für den Kaffee holen. Er zieht den Reißverschluss des Sacks auf und stöbert darin, bis er den Kessel findet und Justin zuwirft, der ihn etwas ungeschickt fängt. Im nahen Wald ist eine kalte Quelle. Daraus sickert ein morastiges Rinnsal, eins von so vielen, die zum Canyonboden rinnen und die South Fork speisen. Inzwischen ist der Dunst fast ganz verschwunden, nur ein paar Fetzen umringen noch die Bäume und verwirbeln unter seinen Schritten. Ein Schwarm winziger, brauner Frösche springt davon, als er sich der Quelle nähert.
Da ist sie – etwa so groß wie eine Badewanne – umgeben von Weiden und sonnenfleckigen Steinen. Und direkt daneben ist ein Paar zerlumpter Stiefel, der eine liegt flach am Boden, der andere zeigt himmelwärts, wie ein Grabstein. Er ist stehen geblieben, ohne es zu bemerken. Jetzt macht er ein paar zögerliche Schritte vorwärts, um hinter die Stiefel sehen zu können, wo ein verstreutes Gewirr aus Knochen und Knorpeln den ungefähren Umriss eines Körpers bildet.
Der Kessel rutscht ihm aus der Hand und fällt scheppernd auf den Waldboden.
Der Mann ist schon lange tot. Bis jetzt kann Justin ihn nur anhand seiner Kleidung als Mann identifizieren, doch ganz sicher ist er sich noch immer nicht. Jeans und Flanellhemd sind zerrissen und liegen als Fetzen herum, als wäre er explodiert und hätte die Schrapnelle seines Körpers im Unkraut verstreut. Die Geier und die Kojoten und die Fliegen und die Würmer haben sich darüber hergemacht und die Haut von den Knochen geleckt. Seine Knochen haben die Farbe von altem Papier, ein gelbliches Schwarz, die Oberfläche ist gefurcht von nagenden Zähnen. Justin stellt sich vor, wie die Kojoten heulten, als sie die Überreste fraßen, und sich um die saftigsten Brocken stritten.
Seine dunkel gewordenen Rippen sehen aus wie die nach innen gebogenen Beine einer toten Spinne. Fingerhirse wächst durch die Knöchel und wie Haare um seinen Schädel. Er scheint aus der Erde herausgewachsen zu sein und jetzt wieder darin zu verschwinden. Eine Motte landet auf dem Schädel, streckt die Flügel und kostet vom schwarzen Tümpel einer Augenhöhle, bevor sie wieder davonfliegt.
In diesem Augenblick scheint die Welt stehen zu bleiben. Die Motte fliegt nicht mehr, steht wie erstarrt mitten in der Luft. Ein von der Brise gebogener Ast versteinert. Ein von einem anderen Ast fallender Kiefernzapfen hängt bewegungslos in der Luft, und ein steifes Eichhörnchen sieht zu, wie er nicht fällt.
Justin spürt einen faustgroßen Druck in der Brust, denn er hat die Luft angehalten. Mit einem Keuchen verschwindet der Druck, und die Welt löst sich aus der Starre, nimmt ihren Fluss wieder auf, während die Motte davonfliegt und der Kiefernzapfen zu Boden kracht.
Und dann rennt er. Er rennt und schafft wahrscheinlich fünfzig Meter, bevor er stehen bleibt und seine Beherrschung wiederfindet und seine Atmung sich beruhigt und er langsam zur Quelle zurückkehrt. Er hat einen Geschmack wie salzige Pennies im Mund, und er merkt, dass er sich in die Wange gebissen hat. Er schluckt das Blut und ruft seinen Vater. Und dann noch einmal, bevor eine Stimme aus dem Lager schwach antwortet: »Was ist?«
»Du musst herkommen. Komm sofort hierher.«
Anscheinend hat irgendwas in seiner Stimme seinen Vater beunruhigt, denn einen Augenblick später hört Justin ein Krachen im Wald und dann neben sich Atmen. Boo will weiterlaufen, aber sein Vater packt ihn am Halsband, bevor er die Skelettreste durcheinanderbringen kann.
»Das ist übel.« Er trägt eine John-Deere-Kappe mit abgenagtem Rand. Jetzt nimmt er sie ab und starrt in die Höhlung. »Das ist eine verdammt schlimme Sache.« Er sieht aus wie ein Mann, der aus einem Nickerchen aufgewacht ist und nicht weiß, wo er ist.
Justin zieht sein Handy aus der Tasche und schaltet es ein. Es springt piepsend an, und das Display leuchtet grünlich. Keine Überraschung: Hier gibt es kein Netz, sie sind viel zu weit vom nächsten Sendemast entfernt. »Wenn wir hinauf auf den Canyonrand fahren«, sagt er. »Wenn wir ein bisschen höher sind, bekomme ich vielleicht ein Signal. Einen Versuch wär’s auf jeden Fall wert.«
»Nein.« Sein Vater setzt die Kappe wieder auf und schiebt sie zurecht.
»Wie bitte?«
»Nein.«
»Er ist tot.«
»So was kommt vor. Menschen sterben.« Er hebt die Hand und lässt sie klatschend auf den Oberschenkel fallen. »Ich sag dir eins: Er hat’s nicht mehr eilig.«
Justin versteht das überhaupt nicht. »Dad?«
»Nein.«
Seine Miene wirkt besorgt, aber Justin ist überzeugt, das hat mehr damit zu tun, dass sie ihren Jagdausflug abbrechen müssten, als mit dem toten Mann, der da vor ihnen liegt. Sein Vater legt ihm die Hand auf die Schulter und drückt gerade so fest zu, dass Justin versteht, er meint es ernst.
»Schau. Ist doch zu einem wunderschönen Tag geworden, nicht?« Und er hat recht – es ist wirklich ein schöner Tag –, ein Tag von einem so strahlenden Blau, dass alles seine Farbe verliert. »Wie wär’s, wenn wir ihn genießen?« Er betrachtet den Toten, und Justin bemerkt, dass seine Wange sich aufwölbt, weil er mit der Zunge dagegendrückt. »Ist wahrscheinlich an einem Herzinfarkt gestorben. Dagegen kann man nichts mehr machen. Wenn wir morgen Abend aufbrechen, dann fahren wir nach John Day und melden es der Polizei. Aber nicht heute.«
Sein Vater lässt Boo los, und der kriecht auf den Toten zu, den Körper dicht am Boden, alle Muskeln angespannt, als erwarte er, dass dieser geschwärzte Haufen Knochen jeden Augenblick aufspringt und ihn angreift. Als er es nicht tut, entspannt er sich und fängt fröhlich an zu japsen und watet in die Quelle, um zu saufen.
»Okay, Justin?«
Justin schaut seine Füße an – was er manchmal tut, wenn er nachdenkt – und entdeckt dort eine verwitterte Packung Marlboros, die Zigaretten, die diesen Toten nicht schnell genug töten konnten. Daneben liegt etwas Glänzendes. Es sieht aus wie eine schlammverkrustete Murmel. Vor gedankenloser Neugier hebt Justin es auf und wischt den Staub ab und dreht es um. Eine wässerig grüne Pupille starrt ihn an. Ein Auge – das erkennt er jetzt – ein Glasauge. Es hat einen Sprung, vielleicht hatte ein Kojote es zwischen den Zähnen oder eine Krähe pickt darauf herum, um es aufzubrechen. Als er angewidert aufschreit und das Auge fallen lässt, prallt es ein paar Mal vom Boden ab und bleibt dann so liegen, dass die Pupille nach oben schaut. Ohne Fleischtasche, in die es sich zurückziehen könnte, blinzelt es nicht, sondern schaut für immer wachsam.
»Justin?«, sagt sein Vater noch einmal, mit ruhiger Stimme, als würde er das alles nicht ungewöhnlich finden.
Justin wischt sich die Hände an seiner Hose und wünscht sich eine Handvoll Seifenlauge. »Okay«, hört er sich mit einer Stimme sagen, in der er die Stimme seiner Kindheit wiedererkennt. »Gut.« Das ist es, was seine Frau gemeint hat, das begreift Justin jetzt, die Fähigkeit seines Vaters, ihn in jede Form zu biegen, die er will. Justin ist derart daran gewöhnt, seinen Anweisungen zu folgen, dass er nicht daran denkt, eine so grausige Entscheidung in Frage zu stellen, und wenn, dann höchstens ganz für einen Moment, winselnd.
Sie verstummen und stehen eine Weile nur nebeneinander. So wie sie hier stehen, mit steifen Rücken, müssen sie aussehen, als wären sie selbst Teil des Waldes, eine gestutzte Baumgruppe. Schließlich schiebt Justin mit dem Fuß Erde über das Auge. Das Gefühl, beobachtet zu werden, nimmt dadurch nicht ab, wie er es erhofft hatte. Das Gefühl von letzter Nacht fällt ihm wieder ein, und er stellt sich vor, wie das Auge auf der mondhellen Wiese auf ihn zurollt.
Schließlich kommt aus der Ferne das Geräusch einer Hupe, ein Holzlaster, der über einen entfernten Highway donnert, und das erinnert ihn daran, dass man, auch wenn man sich hier fühlt wie mitten in tiefster Wildnis, es nicht ist.
Als sie ins Lager zurückkehren, schaut Justin nach Graham, der noch im Zelt liegt. Er starrt ausdruckslos das Zeltdach an, seine Brust hebt und senkt sich, er keucht schwach. Inzwischen hat die Sonne die dunkle Leinwand durchtränkt, die Luft ist warm und feucht, und er kommt sich vor, als hätte er einen Mund betreten.
»Graham?«
Sein Sohn hebt den Kopf, um Justin mit Augen anzuschauen, die rot gerändert und wässerig sind.
»Alles okay mit dir?«
»Ich glaube, ich brauche meinen Inhalator.« Seine Stimme klingt verwaschen, ein Hinweis auf mangelnde Sauerstoffversorgung.
Justin wühlt in seinem Rucksack und findet das Albuterol neben Zahnbürste und Seife. Er gibt es seinem Sohn, der sich aufsetzt und den Inhalator schüttelt und tief einatmet, als die Lösung in seinen Mund zischt. Er lässt den Brustkorb gebläht und behält die Medizin dreißig Sekunden in der Lunge, bevor er sie mit einem atemlosen Keuchen wieder ausatmet.
Justin reibt ihm den Rücken. »Besser?«
Er nickt und sprüht sich dann noch eine Dosis.
Justin verkneift es sich, ihm von dem Skelett zu erzählen und ihm zu sagen, er solle seine Sachen zusammenpacken. Noch eine Minute, dann zieht der Junge sich an, streift ein weißen Thermo-Unterhemd mit Waffelmuster über und steigt in eine kakifarbene Nylonhose mit vielen Taschen und Reißverschlüssen an den Knien, so dass man die Hosenbeine abnehmen kann, wenn es heiß ist. Sie gehen nach draußen und sehen Justins Vater frisches Holz aufs Feuer legen. Gestern Abend hat er einen Grill aufgestellt und jetzt steigen die Flammen durch das Gitter, um den Kessel zu erhitzen. Aus dem Ausgießer steigt bereits Dampf.
»Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden«, sagt Justin.
Sein Vater nimmt den Blick nicht vom Feuer und stochert mit der Stiefelspitze in den Kohlen. »Ist irgendwas?«
»Graham hat sich beim Aufwachen krank gefühlt.«
»Grippesaison.« Er brummt es eher, als er es sagt.
»Nicht diese Art von krank. Allergisch krank.«
Sein Vater stöhnt auf, aber als er Graham ansieht – die geröteten Augen und die dunklen Flecken darunter –, wird seine Miene sanft. »Weißt du, was gut ist gegen Allergien?«
»Pillen?«, fragt Graham.
»Nein, Kaffee.«
Graham hat sich eine Pendleton-Decke um die Schultern gewickelt und er zieht sie ein bisschen fester, als er sich ans Feuer setzt. »Kaffee schmeckt wie Dreck-Kotze.«
»Na, der ist anders. Das ist Cowboy-Kaffee.« Er wartet, dass Graham eine Erklärung verlangt, und als er es nicht tut, bekommt er trotzdem eine. »Ein Liter Wasser. Ein Pfund Kaffee. Eine Stunde lang kochen. Eine Patrone hineinwerfen. Wenn sie schwimmt, ist er fertig.«
»Wirklich?«
»Nein. Nicht wirklich.« Er nimmt eine alte Sportsocke, spannt sie straff über einen Blechbecher, nimmt den Kessel vom Rost und gießt ein. Der schwarze körnige Kaffee filtert durch die Socke und füllt den Becher. »Aber stark ist er.«
Zum Frühstück braten sie eine Pfanne Speck, kochen einen Topf Bohnen und tunken das Fett mit Toastbrot auf. Nach dem Essen sitzen sie ein paar Minuten vor dem Feuer und reiben sich zärtlich die Bäuche wie Frauen ein paar Wochen vor der Geburt. Justins Vater gießt sich noch einen Becher ein und rührt mit dem Messer um, obwohl er nichts hineingetan hat, denn er mag ihn lieber schwarz. Er zieht das Messer aus dem Becher, legt es neben sich auf den Stamm und hebt den Becher, um zu trinken.
Dann reißt er sie aus ihrer trägen Versonnenheit, indem er sich Graham zuwendet und fragt: »Weißt du irgendwas über Waffen?«
»Eigentlich nicht.« Graham gräbt mit der Stiefelspitze ein Loch in die Erde und schiebt es wieder zu. Nach dem gespannten Ausdruck in seinem Gesicht scheint er eine weitere Lehrstunde zu erwarten.
Justins Vater trinkt seinen Kaffee aus, stellt den Becher weg, klatscht sich auf die Schenkel und steht auf. »Ich habe da eine Waffe, und ich will, dass du sie dir ansiehst.« Er verschwindet im Zelt und als er wieder auftaucht, hat er einen Karton mit Munition und ein brandneues .30-30 Repetiergewehr mit Unterhebelladung. Es ist aus Walnussholz und blauem Stahl gefertigt. Er setzt sich neben Graham, legt sich das Gewehr quer über die Schenkel und streicht mit den Händen über die gesamte Länge.
Er erklärt, dass es diese spezielle Waffe, das Modell 94, früher als Modell 83 bekannt, seit 110 Jahren gibt. »Und immer noch eine sehr gute Waffe.« Seine Stimme bekommt etwas Entrüstetes, als er erklärt, dass es Leute gibt, die meinen, die Waffe sei nicht stark genug, solche, die damit auf der Jagd waren und ein Tier entweder verfehlt oder nur verwundet haben und dann sofort auf ein Kaliber .243 oder ein noch größeres umgeschwenkt sind. »Schätze, es ist einfacher, der Waffe die Schuld zu geben, als sich einzugestehen, dass man ein lausiger Schütze ist.« Er klopft auf den Schaft. »Aber diese Waffe funktioniert, und sie funktioniert gut. Es war mein erstes Gewehr. Es war das erste Gewehr deines Vaters.«
Ein Repetierkarabiner hat etwas Spezielles, sagt er. Das Fleisch schmeckt besser – die Trophäen sehen an der Wand hübscher aus –, wenn man damit jagt. Er steht auf und demonstriert, wie einfach die Waffe sich an die Schulter anschmiegt, ohne dass man lange darüber nachdenken muss. »Siehst du? Man zielt ganz natürlich damit. Es ist leicht. Es ist handlich. Es ist leicht abzufeuern. Es hat nur einen sehr schwachen Rückstoß, aber ziemlich viel Durchschlagskraft.«
Wenn er von Waffen spricht, bekommt seine Stimme fast etwas Professorales, er erklärt dann ausführlich Details, die seine Zuhörer kaum verstehen können. Die Begriffe, die er verwendet, bedeuten Graham kaum etwas, aber der Junge hört aufmerksam zu und schaut mit einem verzauberten Ausdruck im Gesicht, als wäre das Gewehr ein langes, wohlgeformtes Bein, das in roten High Heels steckt.
Justins Vater erklärt, dass die Kammer auch andere, stärkere Patronen als die .30-30 aufnehmen kann, etwa die 3.38-55 oder die .32 Spezial, aber dass er die 150 Gran X-Patrone mit Flachspitze bevorzugt. Sie hat eine tiefe Hohlspitze, die sich mit .30-30-Geschwindigkeit ausdehnen kann. »Lass dir eins sagen«, erklärt er, als er den Munitionskarton öffnet und das Magazin mit der Hand belädt. »Die hat einen Durchschlag, dass einem die Spucke wegbleibt.« Die Patronen gleiten hinein und der Verschluss klickt mit einem öligen Schnappen ein, wie Zähne, die aufeinanderbeißen.
Er hält sie Graham hin, und Graham steht auf, leckt sich die Lippen und wischt sich die Hände an den Knien, bevor er sie nimmt. Die Waffe ist ihm fremd – schenkt ihm aber augenblicklich Selbstvertrauen. Justin sieht das an den geweiteten Augen, der aufrechteren Haltung. Justin denkt an das erste Mal, als er eine Waffe in der Hand hielt. Das Gefühl – die Macht, das lauernde Vergnügen, wie gut das kalte Metall in seine warme Hand passte – bleibt unvergesslich.
»Gefällt sie dir?«, fragt Justins Vater.
»Ja.«
»Gut.« Die Haut um seine Augen runzelt sich wie Seidenpapier. »Denn ich habe sie für dich gekauft.«
Graham sagt: »Nein«, und eine Sekunde später auch Justin, allerdings mit anderer Betonung.
Graham dreht sich ihm mit der Waffe fest in der Hand zu. »Komm, Dad. Sei doch nicht so ein –« Er sieht Justin selbstbewusst in die Augen, sein Blick ist hässlich und machtvoll. Justin ist von seiner Reaktion überrascht. Er gehört zu den Kindern, die Gemüse essen, wenn man es ihnen sagt, die den Fernseher abschalten, wenn ihre Sendung zu Ende ist, die nie mehr verlangen, als man ihnen zugestanden hat. Nun eine solche Herausforderung zu hören, wirft Justin kurz aus dem Gleichgewicht.
»Sei nicht so ein was?«, fragt Justin schließlich.
»Na komm, Dad.«
»Na komm, Dad. Nichts.«
Der Blick, den er nun erhält – ein dunkles, bedrohliches Starren –, erinnert ihn stark an seinen Vater. Justin fragt sich, was aus dem blassen Jungen geworden ist, der vor ein paar Minuten noch asthmatisch zitterte. Sein Sohn öffnet den Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann scheint er es sich anders zu überlegen und presst die Lippen fest zusammen.
Justin nähert sich seinem Vater, bis er nur einen knappen halben Meter vor ihm steht. »Muss mit dir reden.« Seine Stimme klingt heiser.
»Jetzt?«
»Jetzt sofort.« Justin versucht, ihn zu ziehen – packt ihn an der Schulter, die fest ist wie Holz –, aber sein Vater bewegt sich nur, wenn er sich bewegen will, deshalb lässt Justin ihn los und geht ein paar Schritte vom Lager weg in die Wiese und wartet dort auf ihn. Justin hört seinen Vater zu Graham sagen: »Gib sie mir besser kurz zurück.« Dann geht er, mit dem Gewehr in der Hand, langsam durchs Gras. Unterwegs bückt er sich, um eine Blume zu pflücken und daran zu riechen, bevor er sie wegwirft.
»Weißt du, was du da tust?«, fragt Justin.
»Ich schenke ihm ein Gewehr. Du hattest ein Gewehr, als du in seinem Alter warst.« Er schwenkt den Arm, als läge die Erinnerung an Justin – einen Jungen auf der Jagd – irgendwo da draußen im Wald.
»Ja, aber ich bin nicht du, und er ist nicht ich. Er hat noch keinen Sicherheitskurs für Jäger gemacht. Er hat keine Jagdlizenz. Und –«
»Um Himmels willen. Wann hast du hier draußen zum letzten Mal einen Ranger gesehen?«
»Und?« Justin hebt die Hand, um seinem Vater zu verstehen zu geben, dass er zuhören soll. »Seine Mutter hat ausdrücklich gesagt, dass er nichts schießen darf außer Fotos.«
»Seine Mutter«, näselt Paul. »Dir ist schon klar, dass du durch so was zum Mann geworden bist? Lässt du dich von deiner Frau –«
Sein Vater hat keine Ahnung von den Problemen mit Karen. Er weiß nicht, dass Justin oft auf der Couch schläft, dass Karen oft durch Graham mit ihm spricht, dass Justin sich oft damit begnügt, sie an der Schulter zu berühren, und auch das nur, wenn er meint, er müsse sie beruhigend drücken oder ihr zu verstehen geben will, sie solle beiseitegehen, damit er sich ein Glas aus dem Schrank nehmen kann.
»Hör zu«, sagt Justin. »Vergiss sie. Ich bin derjenige, der die Entscheidung trifft, wann er so weit ist.« Obwohl er sich bemüht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, klingt sie beinahe winselnd, worauf die Aufmerksamkeit in den Augen seines Vaters einem geringschätzig elterlichen Blick weicht. »Du untergräbst meine Autorität, Dad.«
»Du machst dir zu viele Gedanken. Du bist ein nervöser Typ.« Er lächelt und kneift ein Auge zu und zielt auf den Habicht, der über ihnen kreist. Das Sonnenlicht bricht sich im Waffenstahl und erhellt für einen Augenblick diese Seite seines Gesichts. »Peng!« Er gibt Justin die Waffe und sagt: »Wie wär’s, wenn du ihm das Gewehr gibst? Sag, es ist von uns beiden.«
»Dafür ist es ein bisschen zu spät.«
»Trotzdem. Gib du es ihm.«
Er klopft Justin auf die Schulter und geht zum Lager zurück, bleibt aber nach wenigen Schritten stehen und wühlt in seiner Tasche. »Hier. Nimm ein Werthers Original. Dann geht’s dir gleich besser.«
»Danke.« Er nimmt abwesend das Bonbon und wickelt es aus und steckt es sich in den Mund, und erst jetzt fällt ihm wieder ein, dass er Werthers Original überhaupt nicht mag.
Grahams Augen sind hellgrau, beinahe farblos, als er Justin anschaut, der sich nun vor ihm aufbaut. »Was meinst du?«, fragt er und fährt mit dem Daumen über den Kolben der Winchester, erspürt die Maserung des seidig braunen Holzes. »Meinst du, es ist ein Gutes?«
»Ja!« Eifer schleicht sich in Grahams Stimme. »Ich glaube schon.«
Justin betrachtet das Gewehr. Der Lauf ist sechsundsechzig Zentimeter lang und von einem wunderbaren, fast blau schimmernden Schwarz, das Metall liegt kalt in der Hand. Er kontrolliert die Sicherung und wischt einen Fleck von der Mündung, bevor er sie ihm hinhält.
Graham lässt die Waffe einen Augenblick in der Luft hängen und schaut Justin prüfend an. »Dann ist es also okay?«
»Ja. Ich glaube schon. Aber wir wollen deiner Mutter nichts davon sagen. Noch nicht. Okay?«
Er nimmt sie zögerlich mit beiden Händen. Justin hält sie noch einen Augenblick, bevor er sie loslässt. Wie alle Waffen hat auch die Winchester ein überraschendes Gewicht – als wäre etwas Großes, ein lebendiges Wesen, darin gefangen. Grahams Arme sinken unter dem Gewicht nach unten. »Klasse!« Er lässt das ss besonders scharf klingen. Und hebt sich sofort das Gewehr an die Schulter und zielt über den Lauf.
»Aber spiel nicht mit diesem Ding herum. Es ist gefährlich.«
Justins Vater steht ein paar Schritte hinter ihnen. Als Justin sich zu ihm umdreht, sieht er, dass sein Gesicht sich zu einem Lächeln verzieht. Er zeigt ihm den hochgereckten Daumen, und Justin antwortet darauf mit einem missbilligenden Kopfschütteln, obwohl er gleichzeitig eine gewisse Aufregung für seinen Sohn spürt.
»Wie wär’s, wenn wir was schießen?«, fragt Justins Vater, und Graham sagt: »Okay« und geht auf ihn zu, um ihm die Waffe zu geben.
»Warum gibst du mir das Gewehr? Das ist doch deins.«
»Es ist mein Gewehr«, sagt Graham leise, wie zu sich selbst. Er hält die Winchester an der Hüfte und dreht sich schnell, zeichnet einen silbernen Bogen in die Luft, als er erst auf diesen, dann auf einen anderen Baum zielt, auf die versteckte Bedrohung zwischen ihnen.
»Komm«, sagt Justins Vater. »Wollen doch mal sehen, was für ein Schütze du bist. Er winkt ihm, und sie gehen gemeinsam auf die Wiese, wo er Graham zeigt, wie man die Sicherung löst, und dann auf eine nahe Kiefer mit einem aufgesprühten X auf dem Stamm zeigt. »Wie wär’s, wenn du darauf –«
»Moment mal«, sagt Justin, aber sie überhören ihn beide. Das Gewehr sieht so bedrohlich in Grahams Armen aus, wie eine Schlange, die sich jeden Augenblick gegen ihn wenden kann und Löcher reißt, aus denen Blut fließt.
»Schieß auf diesen Baum«, sagt Justins Vater. »Genau auf das X. Kannst du das?«
»Das kann ich.« Graham starrt lange durchs Visier, bevor er abdrückt. Jedes andere Geräusch weicht einem ohrenbetäubenden Krachen, das sich Sekundenbruchteile später wieder in der Stille des Canyons verliert. Rechts des Baums spritzt Erde auf, wie Schlamm unter einem Vorschlaghammer.
»Verdammte Scheiße, ist das laut«, sagt Graham, hält sich die Hand ans Ohr und lacht laut.
Boo rennt zu der Einschussstelle und starrt gebannt, als würde er erwarten, dass Blut herausquillt. Justins Vater pfeift ihn zurück und stellt sich dann hinter Graham und zeigt ihm die richtige Haltung. »Versuch es noch einmal. Drück dir das Gewehr fester an die Schulter. So. Jetzt schieb die linke Hand vor, aber nicht zu weit. Und nicht den Atem anhalten. Schieß am Ende des Ausatmens.«
Sie über Waffen reden, sadistisch lachen zu hören – sich zu verhalten, wie Männer sich verhalten sollen – lässt Graham für Justin plötzlich in einem neuen Licht erscheinen, er wirkt reifer als je zuvor, ein kleiner Mann. Aber sollte nicht Justin derjenige sein, der ihn anleitet, der so etwas passieren lässt? Ist nicht er der Lehrer? Mit dem Talent, im Klassenzimmer abwechselnd witzig und streng zu sein und seine Schüler zu inspirieren?
Wieder macht das Gewehr in Grahams Händen einen Satz, der Knall donnert, breitet sich innerhalb einer Sekunde aus und fällt wieder zusammen, bevor der Nachhall den Canyon entlangrollt –, während auf dem Stamm sich eine weiße fleischige Nelke öffnet, genau in der Mitte des X.
»Du bist ein Naturtalent«, sagt Justins Vater und klatscht zweimal in die Hände, bevor er Graham seine nächsten Ziele zeigt.
Er schießt auf einen Stein, so dass der in die Luft springt. Er holt einen Fichtenzapfen von einem hohen Ast. Eine Königskerze versprüht eine Samenwolke. Jede Explosion zertrümmert etwas oder jagt etwas in die Luft. Der stechende Geruch von Schießpulver umwabert sie.
Nun schaut Justins Vater zu den Traktoren hinüber, die am Rand der Wiese stehen. In diesem Augenblick kann Justin durch seine Schädelkalotte und ins Räderwerk seines Hirns sehen, wie er sich überlegt, Graham zu sagen, er solle die Reifen und Scheiben kaputtschießen. Stattdessen deutet er auf einen Erdklumpen und sagt: »Wie wär’s da-–«
Verschwunden, bevor er den Gedanken beenden kann. Er ballt eine Faust und drückt sie sich schützend an die Brust, als hätte Graham versucht, auf sein Herz zu schießen. »O Mann.«
Er holt eine Elster von einem Ast, und ihre Flügel öffnen und schließen sich wie eine schwarze Hand. Er schießt auf ein Murmeltier, und es läuft noch ein paar Schritte, während aus beiden Flanken Blut quillt. Zwischen den Schüssen drückt er den Ladehebel durch, und die rauchenden Hülsen landen zwischen seinen Stiefeln.
Ein Lachen dringt tief aus der Kehle von Justins Vater. Er legt Graham den Arm um den Hals und drückt zu auf eine Art, die halb Würgegriff und halb Umarmung ist. »Du bist ein guter Junge.«
Justin sieht aus kurzem Abstand zu und bemerkt die rosige Tönung auf der Haut seines Sohns, so anders als seine normale Hautfarbe – das blasse Gelb einer Zwiebel –, die davon kommt, dass er zu viel Zeit im Haus verbringt, auf der Computertastatur herumtippt oder seine Fotos mit Photoshop bearbeitet oder in einem Buch blättert.
Es ist fast übernatürlich, wie unbefangen und behände Graham mit dem Gewehr wirkt. Justin erinnert sich noch gut, wie er in diesem Alter war, an die vielen Stunden, die er im Hinterhof verbrachte, Papierzielscheiben an Bäume tackerte und auf sie schoss, bis seine Schulter sich violett verfärbte. Damals hatte er sich immer bemüht, seinem Vater zu gehorchen, ihn so gut nachzuahmen wie es nur ging, ohne es je ganz zu schaffen, wie eine tapsige Marionette, deren Bewegungen offensichtlich von Holz und Drähten diktiert sind. Graham ist anders. Er ist kein Nachahmer. Er ist ein Schüler. Er lernt, was er wissen muss, indem er Fragen stellt und zuhört, so wie er es jetzt tut – richte das Visier über das Ziel, wenn du hügelaufwärts schießt, halte tief, wenn du hügelabwärts schießt – und Justin fragt sich, was dies für ihn bedeuten könnte, diese Ausbildung, und wie verändert er aus ihr hervorgehen könnte.
Justins Vater sagt: »Siehst du! Und du wolltest es ihm überhaupt nicht geben.« Er freut sich hämisch, als er das sagt. Dann hebt er eine der Patronenhülsen auf und geht zu dem Baum, auf den Graham als Erstes geschossen hat. Ein gelbes Rinnsal Harz tropft aus dem Einschussloch und süßt die Luft. Mit einem Ast gräbt Justins Vater ein Loch in die Erde, gut zehn Zentimeter tief. Er legt die Hülse hinein wie ein Samenkorn. »So. Als Erinnerung an diesen Tag. Wenn wir in zehn Jahren wiederkommen, wird die Hülse noch immer da sein. Sie wird dieselbe sein, aber wir werden anders sein.«
»Gut gemacht, Graham!« Justin lächelt und schaut dann das Gewehr stolz an.
»Es ist ein wirklich gutes Gewehr«, sagt Graham.
»Ja, das ist es.«
»Willst du es mal halten?«, fragt Graham, als wäre sein Vater ein Kind.
»Warum nicht?« Als Justin die Waffe nimmt, ist das Metall heiß, und Justin reißt die Hand herunter zum Kolben und versucht, nicht aufzuschreien.