BRIAN
Brian durchstreift diesen Flussabschnitt, um sich die Pfade einzuprägen, auf denen die Biber zwischen ihrem Bau und ihren Nahrungsverstecken wechseln. Er stellt die Falle an einer schwarzen glasigen Stelle auf, wo das Wasser tief ist und das Ufer glitschig von ihren Bäuchen und ihren darübergleitenden Schwänzen und die Tiere kleine Schlammhäufchen über ihrem Bibergeil aufgetürmt haben. Die Falle – eine Außenfeder-Springfalle – sieht aus wie eine metallische Mottenart. Er ködert sie mit Weidenzweigen behängt mit Moschussäckchen, die nach essigsauren, ungewaschenen Genitalien riechen. Er platziert die Falle dreißig Zentimeter unter der Wasseroberfläche und befestigt eine Tauchschlinge daran.
Normalerweise ist er geduldig. Er weiß, er sollte warten bis zum späten Winter, dem frühen Frühling. Er weiß, dass ihre Felle dann am glänzendsten und dichtesten sind. Aber er hat ein Projekt – ein Näh-Projekt –, an dem er gerade arbeitet und das nicht warten kann.
Heute Morgen bläst stetig ein kühler Wind und schüttelt die Kiefern und reißt die goldenen Blätter von den Birken, die sich auf der Wasseroberfläche verteilen und auf ihrem Weg flussabwärts wie Münzen funkeln. Der Himmel ist gespenstisch grau und schwer von Wolken, die Regen tragen. Er steht am Ufer, seine Stiefel sinken langsam in den Schlamm, und er sieht den gefangenen Biber, einen schwarzen Umriss, etwa von der Größe und der Form eines übergroßen Footballs. Ein Fünfundzwanzigpfünder, schätzt er; den Hinterlauf von der Falle gehalten, treibt er in der Strömung. Das Wasser wölbt sich darüber, so dass eine kleine Stromschnelle entsteht.
Sein Vater brachte ihm das Fallenstellen bei und wie man das Tier häutet und ausweidet, wie man sein Fleisch brät und den Schwanz kocht, wie man das Fell bearbeitet und bei einer Auktion verkauft. Jeden Winter standen sie zusammen vor Sonnenaufgang auf, zogen ihre isolierten Overalls an, stapften durch den Schnee und hackten das Eis auf, um ihre Fallen zu kontrollieren oder neue aufzustellen. Er erinnert sich noch an die Dampfsäulen, die aus den Löchern im Fluss aufstiegen, den heißen Kaffee aus einer Thermosflasche, an das Blut, das im Schnee so grell leuchtete.
In seiner Tasche meldet sich sein Handy, der Klingelton ist das Lied einer Meise. Er holt es heraus, schaut auf den Monitor und sieht eine Nummer, die er nicht kennt. Er hat heute Morgen noch mit niemandem gesprochen, und der Kaffee, den er zuvor getrunken hat, ist noch nicht ganz durch sein System gekrochen, deshalb nimmt er sich einen Augenblick, um sich zu räuspern und sich in der Welt der Menschen zu orientieren, die von diesem dichten Waldstück und dem rauschenden Wasser so weit entfernt scheint.
»Hier Brian von Pop-A-Lock Schlüsseldienst und Schlosserei.«
Er ist nur knapp einssechzig groß, aber seine Springerstiefel lassen ihn ein wenig größer wirken. Er trägt eine schwarze Jeans und eine passende Jeansjacke. Sein Gesicht ist kantig, seine Augen groß und fast unheimlich türkis, seine Mundwinkel sind immer nach unten gezogen, sodass er aussieht, als wäre er beständig mürrisch oder beunruhigt. Er trägt die Haare kurz und hoch ausgeschnitten – eine Gewohnheit, die er aus seiner Militärzeit behalten hat –, und das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Delle in seiner Stirn, eine rötliche, untertassenförmige Stelle, die aussieht wie ein mit Haut überzogenes drittes Auge. Er hat die nervöse Angewohnheit, den Rand immer mit dem Finger nachzufahren, so auch jetzt, als er merkt, dass die Stimme am andern Ende der Leitung einer Frau gehört.
Ihr Name sei Karen – sie käme sich so dumm vor, sie wisse, sie sollte draußen irgendwo einen Schlüssel verstecken –, ihr Name sei Karen und sie sei eben vom Joggen zurückgekommen und habe die Tür verschlossen vorgefunden. Es wäre ihr Ehemann gewesen, der Idiot. Sie könne nicht glauben, dass er ihr das angetan habe. Manchmal treibe er sie zum Wahnsinn. Jetzt sei sie im Haus einer Nachbarin. Sie müsse bald in die Arbeit. Sie bitte Brian, sich zu beeilen, falls er könnte.
»Ich kann«, entgegnet er ihr, »aber ich bin mitten in einer anderen Arbeit.« Er fragt sich, ob sie das klare Rauschen des Wassers hören kann und den Wind, der in den Kiefern seufzt. »Sobald ich fertig bin, komme ich gleich zu Ihnen. In zwanzig Minuten vielleicht?«
Sie nennt ihm die Adresse. »Ich bin gleich gegenüber, ich sehe Sie also, wenn Sie in die Einfahrt fahren.« Sie kommt von irgendwo anders her, das weiß er. Ihre Stimme ist flach, ohne die knappen Konsonanten und die gedehnten Vokale, diesen fast brutalen Rhythmus, der die Sprache der Einheimischen charakterisiert. Wegen des leichten Ploppens, das ihre Lippen am Ende eines Satzes machen, stellt er sich vor, dass sie Lippenstift trägt. Eine Frau, die beim Joggen Lippenstift trägt. Vielleicht ist das der Grund, warum er den Biber in der Falle hängen lässt, denn er weiß, das Wasser, das vom Gletscher kommt, wird den Kadaver bis zu seiner Rückkehr konservieren.
Sein Auto steht am Rand einer Forststraße westlich der Stadt. In schwarzen Blockbuchstaben steht der Name der Firma an den Flanken seines Ford F-10, zusammen mit ihrem Motto: »Wer hat Ihre Schlüssel?« Die Prospekte zeigen seinen Vater – glatt rasiert und muskulös, jemand, den Brian kaum erkennt –, wie er einer blonden Frau und ihrem blonden Sohn frisch gefräste Schlüssel überreicht. Alle lächeln, weil sie wissen, das Haus ist jetzt sicher, eine Festung. Keiner wird eindringen. Das ist es, was Pop-A-Lock mehr als alles andere herausstreicht: Angst und Vertrauen.
Ihre Kunden sind im Allgemeinen neue Hausbesitzer, die befürchten, dass ein früherer Hausbewohner eines Nachts seinen alten Schlüssel ins Schloss steckt und merkt, dass er noch gut passt, so dass er geräuschlos das Haus betreten und Schmuck und Tafelsilber mitnehmen und dann vielleicht mit einem Messer in der Hand und einem Grinsen auf dem Gesicht sein früheres Schlafzimmer betreten kann. Oder jemand findet seine Schlüssel nicht mehr und befürchtet, dass sie gestohlen sind. Oder jemand schließt sich aus seinem Auto oder seinem Haus aus und hat keinen Ersatzschlüssel unter dem Geranientopf versteckt. Brian macht Schlösser und überwindet Schlösser.
Er dreht den Zündschlüssel und fährt den Pick-up über ein Netz von unbefestigten Waldwegen, das in breitere Schlackewege übergeht und schließlich in asphaltierte Durchgangsstraßen mündet. Der Regen beginnt zögerlich, nur wenige dicke Tropfen klatschen auf die Windschutzscheibe und prasseln aufs Autodach, und es vergehen so viele Sekunden dazwischen, dass es klingt wie eine Unterhaltung, die ihren Rhythmus nicht so recht finden will. Doch plötzlich wirkt die Welt von einem Augenblick auf den anderen wie aus Wasser gemacht.
Brian bremst auf vierzig Meilen ab. Er schaltet die Scheinwerfer ein. Er dreht das Gebläse auf, um den Dunst zu vertreiben, der sich auf die Fenster legt. Seine Scheibenwischer schnellen hin und her, um klare Tortenstücke aus einer grauen Welt zu schneiden. Blitze zucken. Donner grollt.
Die meisten Leute sind so schlau, im Haus zu bleiben, sie sitzen gemütlich in ihren Lehnstühlen mit einer Tasse Kaffee in der Hand und einer Zeitung auf dem Schoß und stehen nur hin und wieder auf, um ans Fenster zu gehen und zu sagen: »Es stürmt noch immer.« Brian erkennt sie als Silhouetten in ihren Fenstern, wie sie die Vorhänge aufziehen, während er über den Highway 97 fährt, dann auf die Empire und schließlich, unterwegs zu ihrem Haus, auf die OB Riley einbiegt.
Durch den dichten Vorhang aus Regen sieht er einen grell orangefarbenen Kipplaster, der ihm mit blinkenden Warnlampen entgegenkommt, mit Sicherheit von einem der vielen Bauprojekte überall in der Stadt, beladen mit dem Abraum eines Hügels, der von Dynamit eingeebnet oder von Baggern abgenagt wurde. Als er daran vorbeifährt, röhrt sein Motor und die Reifen preschen durch eine Pfütze und schleudern eine meterhohe Welle hoch, die an seine Tür prasselt.
Sie wohnt in einer bewaldeten Nachbarschaft, wo jedes Haus auf einem kiefernbestandenen Grundstück steht. Die Häuser sind eher bescheiden. Vorwiegend Farmhäuser, mit zerklüfteten Armen aus Lavagestein als Fundament, so dass sie aussehen, als würden sie aus dem Boden wachsen.
Die Straße führt einen Hügel hoch und schlängelt sich durch eine Reihe von Basalt-Auswüchsen, verziert mit Vogelkot und Wurzelgeflecht. Abgesehen von einigen wenigen Autos gehört die Straße ihm allein, so dass er es sich leisten kann, eine Kurve zu schnell zu nehmen. Er erlebt einen Augenblick der Schwerelosigkeit, als der Pick-up aufschwimmt und auf die Gegenfahrbahn schlittert – und dann finden die Reifen wieder Halt und der Pick-up tuckert vorwärts. Zu beiden Seiten der Straße schwanken Bäume im Wind. Über und hinter ihnen kann er schnell dahinziehende Wolken mit grauer Unterseite sehen, allerdings kaum, da so viele frische Tropfen die Windschutzscheibe sprenkeln, dass die Wischer gar nicht schnell genug arbeiten können.
Das Haus ist ein einstöckiges, im Neo-Kolonialstil gehaltenes, mit einer grauen Backsteinfassade. Er weiß das, weil er in einem früheren Leben einen Kurs für Architekturgeschichte am Central Oregon Community College belegt hat. Die Bücher stehen noch immer in seinem Regal, aus diesem Kurs und aus einigen anderen, und er blättert noch gelegentlich darin. Das war, bevor er sich zur Armee meldete, als er noch vorhatte – er weiß gar nicht genau was –, irgendetwas zu werden.
Sie trägt rosafarbene Laufshorts, ein weißes Trägertop, einen Sichtschirm, aus dem ihre rabenschwarzen Haare in einem hohen Pferdeschwanz herausragen. Sie marschiert auf ihn zu. Die Arme pumpen, die Hände sind zu kleinen Fäusten geballt. Die überdeutlich modellierten Muskeln ihrer Oberschenkel explodieren bei jedem Schritt, als wollten sie aus der Haut platzen. »Danke fürs Kommen«, sagt sie, während sie den Abstand zwischen ihnen verkleinert.
»Kein Problem.«
Sie ist ein paar Jahre älter als er, Anfang dreißig, und ungefähr genauso groß. Dafür ist er dankbar. Es fällt ihm schwer, mit Leuten, vor allem mit Frauen zu reden, die viel größer sind als er. Oft stellt er sich auf eine Stufe oder einen Bordstein oder die Steigung einer Hügelflanke, damit er es ist, der nach unten schauen kann.
Fast streckt er ihr die Hand entgegen, aber er tut es nicht, denn er weiß noch gut, was sein Vater gesagt hat: Eine Frau muss zuerst die Hand ausstrecken, alles andere betrachtet sie als Bedrängung. Aber das Verlangen, sie zu berühren, ist stark. Er wendet sich ab, um die Plane aufzuziehen, die Heckklappe herunterzulassen und seine Werkzeugkiste zu holen, eine große rote Craftsman mit einem schmuddeligen Rechteck darauf, dem Überrest eines Marine Corps-Aufklebers, den er mit Spucke und einem Messer abgeschabt hat.
Sie stellt sich unter das offene Vordach, um sich vor dem Regen zu schützen. Sie hat die Arme verschränkt. Sie schafft kaum ein Lächeln, so verkniffen ist ihr Gesicht vor Verlegenheit und Wut. »Das ist ja so ärgerlich, jemanden bezahlen zu müssen, damit der mich in mein eigenes Haus lässt.«
»Tut mir leid.«
»Nein, nein, nein.« Sie berührt ganz kurz seinen Unterarm. An der Stelle bleibt eine Kerzenflamme der Wärme zurück. »Es sind ja nicht Sie, der Ärger bereitet. Das wollte ich damit nicht sagen. Offensichtlich sind es nicht Sie. Es ist mein Mann.«
Er weiß nicht, was er darauf antworten soll, und so stehen sie einen Augenblick nur da und schauen sich an. Über ihnen hängt ein regennasser Basketballkorb wie ein Kronleuchter. Der Wind wird stärker und wirft eine Regenwand auf sie, die ihre Kleidung dunkel macht.
Ein Zittern geht durch ihren Körper, und sie schaut sich über die Schulter und er folgt ihrem Blick über die Straße zu einem weißen Ranchhaus mit grünen Läden. Im Panoramafenster steht ein älteres Paar und beobachtet sie. »Meine Nachbarn«, erklärt sie. »Sie haben nicht viel zu tun.«
Er hebt den Arm, um ihnen zu winken, und sie weichen vom Fenster zurück, als hätte er einen Stein nach ihnen geworfen.
»Schätze, ich jage ihnen Angst ein«, sagt er.
Sie schaut ihn von oben bis unten an und ihre Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. »Schätze.« Regentropfen hängen ihr an den Wimpern und perlen über ihre nackten Schultern.
»Hören Sie. Sie gehen besser zu Ihren neugierigen Nachbarn zurück. Das hier kann eine Minute oder auch dreißig dauern.«
»Bitte beeilen Sie sich«, flüstert sie übertrieben leise. »Dort drüben riecht es entsetzlich nach Mottenkugeln.«
»Ach, und ich dachte, das ist Ihr Parfum.« Normalerweise ist er nicht so gewitzt. Der Satz überrascht ihn selbst.
»Sie.« Sie verzieht in gespielter Verärgerung das Gesicht und hebt die Faust, als wolle sie ihn schlagen, wird sich dann aber bewusst, dass sie sich überhaupt nicht kennen. »Okay. Dann gehe ich jetzt.«
Er sieht ihr nach, und ihre Laufschuhe schleudern Wasserschwänze hoch. Eine Krampfader wandert die Rückseite ihres Beins hoch wie ein sich windender Wurm.
Auf der vorderen Veranda stellt er seinen Werkzeugkasten ab und kauert sich davor. Daneben steht eine Holzbank mit eingeschnitzter Efeu-Verzierung, links und rechts davon stehen zwei Tonschalen voller roter Geranien. Auf der Bank liegt ein verwitterter Kürbis, ein Überbleibsel von Halloween. Seine eingesunkenen Augen und das durchhängende Grinsen sind mit schwarzem Schimmel gesprenkelt. Brian riecht seinen süßlichen Fäulnisgestank. Ein Geländer aus Holzlatten umgibt die Veranda. Dahinter liegt ein halbmondförmiges Beet mit Chrysanthemen, Herbstzeitlosen und Goldrute. Er stellt sich vor, wie sie dort kauert, verwelkte Blumen stutzt, Unkraut jätet. Im Regen spritzt Schlamm vom Mulch hoch und sprenkelt die Seitenwand des Hauses.
Er nimmt das alles auf, während er seine Werkzeuge aus dem Kasten holt. Schließlich sucht er sich einen Dietrich aus. Er dreht den Türknauf. Er lässt sich frei drehen. Er drückt, und der Sperrriegel blockiert die Tür. Er schiebt den Dietrich ins Schloss. Vorsichtig wie ein Zahnarzt, der Plaque von einem empfindlichen Zahn kratzt, zählt er die Menge der Stiftsäulen. Dann nimmt er einen Schlüsselrohling, poliert den Teil, mit dem die Stiftsäulen in Kontakt kommen werden, steckt ihn dann ins Schloss und dreht ihn, um den Kontakt mit den Stiften herzustellen. Er ruckelt ihn ein paar Mal hin und her, bevor er ihn wieder herauszieht. Das polierte Messing zeigt jetzt die Abdrücke der Stifte. Mit einer Rundfeile bearbeitet er den Rohling, feilt an den Stiftmarkierungen nur wenige Tausendstel des Messings heraus, bevor er den Rohling wieder poliert und erneut ins Schloss steckt. Diesen Vorgang wiederholt er mehrmals. Feuchtes Wetter macht Schlösser widerspenstig. Nach zwanzig Minuten dreht der Schlüssel sich im Schloss, die Tür geht auf, und er späht kurz in die dunkle Diele, bevor er sich umdreht, um sie zu sich zu winken, dabei aber sieht, dass sie bereits auf ihn zugelaufen kommt.
Sie eilt die Stufen hoch und fährt sich mit der Hand über die Stirn, um den Regen wegzuwischen. »Sie sind mein Retter!« Sie lächelt. Er wird das Gefühl nicht los, dass an diesem Lächeln etwas Freudloses ist. Ihre Lippen sind rot. Ihre Zähne sind lang und weiß, sie erinnern ihn an Knochen, die man in einer Wunde sieht.
Er nickt. »Ich bin Ihr Retter.« Er kann nicht aufhören zu nicken. Sie hat den Kopf schief gelegt, schaut ihn neugierig an und wartet darauf, dass er noch etwas sagt – wahrscheinlich Auf Wiedersehen! –, aber er steht einfach gerne auf ihrer Veranda, während der Regen zischt und die Kiefern schwanken. Er spürt gerne ihre Hitze neben sich. Er riecht gerne ihren Schweiß vermischt mit dem feuchten Beifuß, den der Regen mit sich trägt. Deshalb versucht er, den Augenblick zu verlängern, indem er etwas sagt, das ihn länger hier sein lässt – gleich das Erste, was ihm in den Sinn kommt: »Sie laufen gerne?« Er kann das Zucken, das sich seines Gesichtes bemächtigen will, kaum unterdrücken.
»Ich laufe jeden Morgen.«
»Und das gefällt Ihnen?«
Mit der Andeutung eines Stirnrunzelns und einem brüsken Kopfschütteln antwortet sie: »Danach fühle ich mich besser.«
Seine Hand will zu seiner Stirn wandern, um die Delle dort zu berühren, aber er stoppt sie im letzten Augenblick, weil er ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Verletzung lenken will. So hängt die Hand in der Luft, als wollte er sie nach ihr ausstrecken.
Ihre Hand umklammert die seine wie eine Falle, ein überraschend starker Griff. Sie glaubt, er will ihr zum Abschied die Hand anbieten. Für ihren Fehler ist er so dankbar, dass es aus ihm herausplatzt: »Aufs Haus!«
Sie lässt seine Hand los und schaut mit überraschter Miene zum Dach. »Was?«
»Ich.« Er kauert sich auf den Boden und sammelt sein Werkzeug ein. In der Ferne grollt Donner. »Der Service, meine ich. Das Aufschließen der Tür.«
»Oh. Jetzt haben Sie mir aber einen Schrecken eingejagt.« Sie lacht nervös auf und legt sich die Hand an die Brust. »Ich dachte, Sie meinen – sind Sie sicher? Ich bezahle Sie gerne. War ja schließlich selber schuld.« Ihr Lächeln verschwindet. »Mein Mann.«
Er klappt den Deckel zu, lässt die Schnallen einrasten und steht auf. Das Gewicht des Werkzeugkoffers zieht ihn seitlich nach unten. »Ich würde mir blöd dabei vorkommen.«
»Aber warum denn? Das ist doch Ihr Geschäft.«
»Ist mir ein Vergnügen.« Er nickt ihr zu, bevor er die Stufen hinunterpoltert und in den Regen läuft, wo er mit dem Daumen über die Zacken des frisch gefeilten Schlüssels fährt und ihn dann in die Tasche steckt.
Der Regen wird stärker und macht aus der Welt ein einziges graues Element. Dicke Schlammzungen lecken über die Straße. Vom Wind gepeitschte Äste kratzen über die Scheiben. Im Herbst passiert immer das Gleiche. Der ausgedörrte gelbe Sommer weicht einem plötzlichen Grau, wenn der Sturm über die Cascades kriecht und Säcke voller Wasser aus dem Pazifik mit sich bringt.
Was bedeutet, dass das vernichtende Weiß des Winters viel zu schnell kommen wird. Wie er den Winter hasst. In der Kälte schmerzt alles mehr. Ein Fingernagel, der an einem vorstehenden Schraubenkopf hängen bleibt. Ein Knie, das man sich auf einem vereisten Bürgersteig anschlägt. Ein Knöchel, der beim Reifenwechsel über den Asphalt schürft, so dass man den Halt am Kreuzschlüssel verliert. Sein Kopf. Vor allem sein eingedellter Kopf.
Er stellt sich das Innere seines Körpers als Höhle vor, durch die ein roter Fluss fließt, und wenn die Temperatur sinkt, verdichtet sich der Fluss zu einer roten Eisströmung, und rote Eiszapfen hängen in jedem Winkel seines Inneren, so dass, wenn er gegen etwas stößt oder ihn etwas anstößt, das Eis bricht und die Eiszapfen stechen. Und in einem Ort wie Bend, wo der Winter mehr als fünf Monate den Himmel verdüstert und die Straßen einfriert, gibt es viel, was schmerzen kann.
Heute fühlt es sich an, als würden die Schmerzen anfangen, eine pochende Mahnung an Bevorstehendes. Noch bis zum Abend gilt die Warnung vor heftigen Gewittern und Starkregen. Die Temperatur liegt bei etwa fünfzehn Grad, im Wind fühlt es sich aber eher an wie zehn. Acht Zentimeter Regen sind bereits gefallen – und fünf sollen noch kommen, bevor der Sturm ins östliche Oregon weiterzieht, wo er immer mehr an Kraft verlieren und sich über der Wüste auflösen wird.
Das alles hört er, als er sich durch die Radiosender schaltet – überall die aufgeregten Stimmen von Wetteransagern, die über wechselnde Luftdruckfronten, Windrichtungsmuster, Oberflächentemperaturen und Taupunkte reden – unterbrochen von süßlichen Popsongs. Nichts über den Irak. Darüber kommt nie was.
Er berührt die Delle in seiner Stirn. Sie hat angefangen zu pochen, als hätte ein Puls das gesamte Blut seines Körpers dort konzentriert. Im Augenwinkel sieht er ein Aufblitzen, das er zuerst für einen Himmelsblitz hält. Es folgt aber kein Donner. Und das Blitzen – ein weißes Blitzen, das am Rand des Gesichtsfelds aufleuchtet und wieder verlöscht – geht weiter und wird schlimmer. Er steuert mit einer Hand und reibt sich mit der anderen die Delle, versucht, den Druck dort zu lindern, versucht, an etwas Angenehmes zu denken – an die Frau, Karen –, aber der Regen und die kurvige Straße und sein Kopf, sein schmerzender Kopf, lassen es nicht zu. So fangen seine Migräneanfälle immer an.
Bald wird sein Mund nach Metall schmecken. Bald wird die Übelkeit, das saure Rumoren in seinem Bauch außer Kontrolle geraten. Bald wird sein rechtes Auge völlig weiß werden, wie vom grauen Star vernebelt. Der Schmerz, der hinter den Augen anfängt und sich langsam im ganzen Körper ausbreitet, bis er an den Fingerspitzen summt, wird ihn völlig im Griff haben.
Vor sich sieht er eine BP-Tankstelle, das vertraute grüne Schild taucht langsam aus dem regenschweren Dunst auf. Er schaltet das Radio aus. Er bremst ab und umklammert das Lenkrad mit beiden Händen und konzentriert sich so sehr auf einen leeren Parkplatz, dass er den schwarzen BMW übersieht, der von der Zapfanlage wegfährt. Er schneidet ihm den Weg ab, und der Fahrer bremst quietschend und drückt auf die Hupe und schreit etwas Wütendes aus dem Fenster, das Brian nicht verstehen kann.
Er schaltet auf Parken und öffnet das Handschuhfach und holt eine Flasche Excedrin heraus. Er öffnet sie mit dem Daumen und schüttet sich drei Pillen auf die Hand und kippt sie sich in den Mund und zerkaut sie zu einem bitteren Brei, und obwohl er bei dem Geschmack den Mund verzieht, weiß er, dass die Medizin so viel schneller wirkt.
Ein Schatten taucht am Seitenfenster auf – ein Mann, wie Brian erkennt, als das Gesicht vor ihm klar wird – der Mann aus dem BMW. Er trägt ein regengesprenkeltes gelbes Polohemd. »Was ist denn los mit dir, du blödes Arschloch?«, sagt er und knallt die Faust gegen das Fenster, wo sie einen Schmierfleck aus Regenwasser hinterlässt. »Was ist denn los mit dir?«
Brian antwortet nicht, und der Mann verschwindet und der Regen trommelt und der Pick-up schwankt und die Windschutzscheibe sieht aus wie gewellt, als der Wind darüberfegt. Er schließt die Augen und wartet, bis der Schmerz voll einsetzt.
Als seine Augen geschlossen sind, als die Welt dunkel ist und er nirgendwo mehr Zuflucht findet außer in den Höhlungen seines Bewusstseins, denkt er an den Irak: außerhalb von Ramadi, in al Anbar: 2nd Battaillon, 34th Marines. An einzelne Tage kann er sich nicht mehr so gut erinnern. Sie vermischen sich und werden zu Splittern und Spritzern eines einzigen unerträglichen Tages, an dem sich nie etwas änderte und alles bis zur Farblosigkeit ausgebleicht war. Die immer gleichen, wässerigen Kartoffeln in einem Haufen auf dem Tablett als Verpflegung. Die immer gleichen Kartenspiele. Das immer gleiche Hantelstemmen auf der verrosteten Bank im Fitnesszelt. Die immer gleichen Wüsten-Kampfanzüge mit Salzflecken an Kragen und Zwickel. Das immer gleiche Brummen der Hummers und Knattern der Helikopter und Fauchen der Mörser und Ballern der Handfeuerwaffen. Die immer gleichen Unterhaltungen über Muschis und Basketball und Actionfilme und aufgemotzte Autos. Die immer gleichen Drei-Stunden-Wachen am Außenposten – Fingernägel kauen und Camels rauchen und in Pornomagazinen blättern und mit dem Absatz ein Loch in die Erde graben und hineinwichsen und zusehen, wie die Soße im Sand versickert –, wonach er fast betäubt vor Langeweile war. Das immer gleiche Nasenbluten, die immer gleichen aufgesprungenen Lippen. Die immer gleichen Dixi-Klos voller Fliegen und der scheißesatten Hitze, die daraus hervorquoll. Die immer gleichen Sandalen, Kaftane, Turbane, Bärte. Die immer gleichen Eukalyptusbäume und Ravennagrasstauden und Gebetsteppiche und Krähen auf Telefondrähten. Die immer gleichen schwarzen Augen hinter schwarzen Hijabs, ein Meer schwarzer Geister, das immer wieder ins Blickfeld wogt. Das immer gleiche Alles. Und alles mit Sand darin, von seinem Diet Pepsi zu seinem M-16 zu seinen Schamhaaren.
Natürlich gab es Augenblicke, die das gleichförmige Vergehen der Tage durchbrachen, die Löcher in seine zyklische Erinnerung an den Irak schlugen. Der Junge in zerschlissenem braunem Kaftan, der einen Stein nach ihm warf und dann in eine Gasse flitzte. Die alte Frau, die sein Gesicht mit ihren Händen berührte und etwas sagte, das klang wie ein wütendes Lied. Das Kamel, das zum Spaß mit einer Leuchtkugel beschossen wurde und mit brennendem Hinterteil schreiend im Kreis lief, weil es den Flammen entkommen wollte. Der Taube, den man mit Kabelbinder gefesselt und zu Boden geworfen hatte, weil er auf ihre Befehle nicht reagierte. Das verkohlte Gerippe eines Chinook Hubschraubers, das man samt der mit seinem Sitz verschmolzenen Leiche des Piloten in den Außenposten geschleppt hatte.
Die Bombe, die ihm ein Loch in den Schädel riss.
Bomben waren überall. Versteckt unter Autos, Überführungen, Müllhaufen. Vergraben im Sand einer Piste. Eingenäht in eine Weste. Hineingestopft in die Kadaver toter Hunde. Sie waren in Napalm getränkt oder mit Schwarzpulver vollgestopft oder mit Plastiksprengstoff verklebt. Sie waren mit Nägeln bestückt oder mit Edelstahlkugeln, die einen Körper durchlöcherten wie Schrotkugeln ein Stoppschild.
Der Tag ist wie eine Serie kaputter Bilder, eine zerrissene Filmrolle, die in einem Projektor flattert. Vierzig Kilometer westlich von Bagdad. Falludscha. Zwei Humvees. Acht Männer, Brian darunter. Sie transportierten Nachschub zu der Basis, die dort aufgebaut wurde, rumpelten durch eine sandfarbene Ansammlung von Gebäuden, die aussahen, als wären sie von den Shamal-Winden aus den Dünen gefräst worden. Der Tag war ruhig gewesen, die Straßen relativ leer. Er erinnert sich, sooft ihnen ein Auto entgegenkam, hielt er für eine oder zwei Minuten den Atem an, um den Staub zu überstehen, den es aufwirbelte. Er hörte die Explosion nicht und sah sie auch nicht. In einem Augenblick fuhren sie noch. Und im nächsten nicht mehr. In einem Augenblick war der Himmel hellblau – und im nächsten rot vom Feuer, schwarz vom Rauch.
Er erinnert sich, wie er vom Humvee wegtaumelte und sich mitten auf die Straße setzte und zusah, wie sein Schatten durch das Blut, das aus ihm herausquoll, immer dunkler wurde. Er erinnert sich, wie er das verbogene Gewirr flammenden Metalls anstarrte und die heraushängenden Leichen sah, wie er davon wegkroch und dachte, jetzt muss doch jemand etwas tun. Er erinnert sich an das Geräusch von Gewehrsalven in der Ferne, die für eine Hochzeit oder eine Beerdigung sein oder von einer anderen Patrouille kommen konnten. Er erinnert sich an den Rotorlärm des Blackhawk, der den Staub von der Straße hochwirbelte und an die Fliegen, die von seinem Kopf hochschwirrten, als der Hubschrauber landete, um ihn ins CSH in Bagdad zu bringen. Die Infusionen, die feuchten Tücher, die weißen Laken, der Nebel der Schmerzmittel.
Er habe Glück gehabt, sagte man ihm. Er war nicht tot. Und es ging ihm nicht so wie Williams, der einen Wirbelsäulenbruch erlitten hatte und den Rest seines Lebens gelähmt in einem motorisierten Rollstuhl verbringen wird. Es ging ihm nicht so wie Jones, der sich nicht aus dem Geschützturm hatte befreien können und dessen Haut im lodernden Benzin weggeschmolzen war. Es ging ihm nicht wie Carlson, der seine Beine verloren hatte, und sich jetzt auf sogenannten C-Beinen durchs Leben schleppte, Prothesen mit Mikroprozessoren, die Bewegungen registrieren und die Hydraulik kontrollieren.
Die Schrapnelle pfefferten ihn an Arm und Schulter mit kleinen Metallsplittern, die später mit einer Pinzette herausgezogen wurden. Heute muss er zwischen den Haaren suchen, um überhaupt noch Narben zu finden. Der echte Schaden entstand an seinem Schädel – ein Stück von sieben Zentimetern Durchmesser, einfach weg, herausgesägt von einem durch die Luft schießenden Metallfragment.
Hier endete sein zweiter Einsatz mit einer ehrenvollen Entlassung und einem Purple Heart und einem Foto von ihm im Bend Bulletin, auf dem er dem Bürgermeister die Hand schüttelt, das Gesicht halb hinter Verbänden versteckt, der Mund ohne Lächeln, die Augen mit einer abgestumpften Entschlossenheit in die Kamera starrend, als wäre ein 60x80 mm Zielfernrohr auf ihn gerichtet. In diesen ersten Wochen zurück in Oregon wachte er jeden Morgen mit dem Gefühl auf, er wäre ins falsche Flugzeug gestiegen und an einem Ort angekommen, wo keiner ihn kannte und wo er nicht sein sollte und wo seine Angst jeden Augenblick die Herrschaft über ihn übernehmen konnte. Er wusste, das war Paranoia, wusste, dass diese schwarz geäderte Angst unvernünftig war –, aber trotz dieses Wissens konnte er nicht anders.
Die hohe Wüstenlandschaft machte es auch nicht gerade besser, denn dieses Central Oregon erinnerte ihn zu sehr an den Irak. Die sandige Erde, die in Wolken hochwirbelte und auf der Haut, in den Ohren klebte. Die kahlen Landstriche, wo es kein Leben gab außer dem Geier, der am Himmel kreiste, und den streunenden Ochsen, die Grasbüschel abweideten. Die Hitze der Tage wich Nächten, die so kalt waren, dass man den Atem sehen konnte. Und so war er zugleich in zwei Regionen, bewohnte ein graues Territorium. Laute Geräusche erschreckten ihn: das Pfeifen eines Zugs, die Fehlzündung eines Autos, eine Dynamitexplosion bei einem Bauprojekt auf einem Hügel. Er schaute sich die Unterseiten von Brücken und Überführungen sehr sorgfältig an, wenn er unter ihnen hindurchfuhr, suchte nach den Sprengsätzen, von denen er wusste, dass sie nicht da waren. Wenn in der Einkaufspassage oder auf dem Bürgersteig ihm jemand schnell entgegenkam, stellte er sich vor, wie er demjenigen zuerst gegen die Luftröhre schlug und ihn dann zu Boden warf, um ihn zu fragen, warum er es so eilig habe.
Kein Mensch fragte ihn je nach dem Krieg. Kein einziger Nachbar, kein einziger Freund oder früherer Lehrer, nicht einmal, wenn sie ein »Support Our Troops«-Band am Revers oder an der Stoßstange hatten. Sie sagten nur: »Gut, dass du zu Hause bist.« In solchen Augenblicken, vor allem, wenn sie seine Stirn anstarrten – zuerst den Verband, später das Narbengewebe, das Kaugummi-Rosa –, fühlte er sich dem Zusammenbruch nahe. Allein. Untauglich. Kein Teil des Irak, kein Teil Oregons. Kein Marine und kein Zivilist – nur ein Gefäß voller Blut und Knochen und Knorpeln, das durch die Luft taumelte. Lange Zeit fühlte er sich nicht in der Lage, wieder ein normales Leben zu führen, in irgendetwas Trost zu finden. Er hatte das Gefühl, mehr verloren zu haben als nur dieses Stück seines Schädels. Er hatte sich auch selber verloren.
Er gibt seinem Stirnlappen die Schuld. Er erinnert sich, wie die Ärzte ihm von der spinnenförmigen Läsion dort erzählten. Sie war der Grund, warum er anfangs solche Schwierigkeiten hatte, Worte aneinanderzufügen, Rechenaufgaben zu lösen und eine Erektion aufrechtzuerhalten. Sie war der Grund, warum sein Gesichtsausdruck sich kaum veränderte, seine Miene versteinert, fast wie tot war. Es gab ein gewisses Taubheitsgefühl, als hätte jemand einen Nerv in seinem Körper entfernt. Er erinnert sich, wie er in den ersten Wochen nach seiner Entlassung in einem Shari’s Restaurant saß, Kaffee trank und einen Erdbeerkuchen aß und eine Mutter mit Kind – ein rundgesichtiges Baby mit dichten schwarzen Haaren – sich in die Nachbarnische setzte. Als das Baby eine grüne Kreide zerbrach und untröstlich zu weinen anfing, musste er bei diesem schrillen Heulen an eine Luftalarm-Sirene denken und er stellte sich vor, wie er den Schädel des Kleinen gegen die Tischkante schlug, bis er aufplatzte und eine rote Masse herausquoll, die nicht viel anders war als die seines Kuchens. Er war sich nicht sicher, was er in diesem Augenblick empfand, während ein halb gekauter Bissen Erdbeere auf seiner Zunge schmolz. Wut? Nein. Wut war ein Wort mit zu viel Oktan darin. Er spürte einfach nur den Impuls zuzuschlagen. Das war die bessere Art, über sein Hirn und seine Neuverdrahtung nachzudenken, es als etwas zu betrachten, das auf Impulse reagierte. Er wusste, dass er nicht normal war. Er wusste, dass die Leute ihn hassen würden, würden sie seine Gedanken kennen. Er wusste, er sollte sich schuldig fühlen, sollte bedauern, wie er auf das Kind reagiert hatte und auch die tausend kleinen Albträume, die ihm jeden Tag durch den Kopf gingen. Aber er tut es nicht.
Er erinnert sich an eine Zeit, als noch nicht alles so düster wirkte, als Leben strahlend schien vor Schönheit und vor den Möglichkeiten, die es bot. Er erinnert sich, wie er in seinem Wüsten-Kampfanzug in einer Curtis Commando Transportmaschine saß –, unterwegs von Rumänien, wo sie aufgetankt hatten, nach Mosul – und er zum Fenster hinausschaute und hinter den sanft wogenden grünen Hügeln und den funkelnden Seen die verschneiten Karpaten sah und sich völlig lebendig fühlte und verbunden mit den zweihundert Männern um ihn herum, denen allen Grauen und Frustration bevorstand und die füreinander sterben würden.
Dieses Gefühl ist für ihn inzwischen unerreichbar. Er fühlt sich nicht mehr als Teil von etwas, er fühlt sich abgesondert. Er passt am besten in den Wald.
Manchmal fährt er in die Wüste hinaus und parkt im Schatten einer Lärche oder eines Monolithen, dessen Umriss an ein fossiles Tier erinnert. Wenn er dann in seinem Pick-up sitzt und das Land sich um ihn herum ausbreitet, wenn er den Wind durch die Canyons rauschen und in Beifußbüscheln flüstern hört, wenn er die Sonne in den Himmel steigen und die Farbe aus den Steinen und die Feuchtigkeit aus der Erde brennen sieht, wenn eine Gruppe Ameisen einen toten Grashüpfer in ihr wimmelndes Nest trägt, wenn ein Falke aus dem leeren blauen Himmel schießt, eine Klapperschlange packt und zu einem Zaunpfosten trägt, um sie dort zu häuten, begreift Brian, dass er Teil dieser Szenerie ist – nichts als ein Tier, ein kompliziertes Tier – und als Tier kann er entweder Opfer oder Jäger sein, ein Ziel oder der Pfeil, der darauf zufliegt.
Als er jetzt an der Tankstelle die Augen wieder öffnet, sieht er, dass das schlechte Wetter sich verzogen hat, die Wolken in die Wüste davongeweht sind. Der Regen hat die Luft gereinigt, so dass jetzt die Berge zu sehen sind, bestäubt mit frischem Schnee, der in der Sonne funkelt. Ihre Schönheit kann er nur sehr distanziert genießen, denn das leichte Pochen in seiner Schläfe lenkt ihn ab. In solchen Augenblicken beschleicht ihn das Gefühl, etwas hat sich in seinen Schädel gebohrt, um dort herumzuwühlen, in seinem Hirn herumzupfuschen wie ein unachtsamer Schlosser.