JUSTIN
Am frühen Morgen packen Justin und sein Sohn ihre Ausrüstung in den Subaru Kombi und fahren zum Haus seines Vaters. Das Haus seines Vaters. Das ist es, obwohl er es mit seiner Mutter teilt, obwohl Justin dort bei ihnen aufgewachsen ist. Es ist eindeutig seins.
Unterwegs spielt Graham mit seinem Nintendo DS – ein Spiel mit dem Titel Die Legende von Zelda –, in dem ein junger Elf Pfeile schießt und Zauberei benutzt, um sich durch ein kompliziertes Wildnis-Labyrinth zu kämpfen. Justin fragt Graham, ob er aufgeregt ist, und er sagt Ja, obwohl er den Blick keinen Augenblick vom Monitor nimmt und seine Daumen weiter hektisch über die Steuerkonsole hüpfen.
»Das Ding lässt du aber im Auto. Das weißt du doch, oder?«
Sein Blick bleibt auf das Gerät konzentriert. »Ich will nur noch ein letztes Spiel machen.«
»Und dann schaltest du das Ding aus und vergisst die nächsten drei Tage, dass es überhaupt existiert.«
»Ja, ja, ja«, sagt er und dann: »Dad?«
»Was?«
»Definiere Jungszeit.«
»Sag das noch mal.«
»Du sagst das die ganze Zeit. Wir wollen ein bisschen Jungszeit haben. Das sagst du immer wieder.«
»Du weißt doch, was ich meine. Jagen, fischen, zelten, sich gehen lassen.«
»Gehen lassen?«
»Du weißt schon. Im Fluss baden. Ums Lagerfeuer sitzen. Sich unter den Achseln kratzen. Bohnen essen und furzen und sich nicht drum kümmern müssen, ob Mom es hört. Es macht Spaß. Den bequemen Hintern heben und sich fordern. Ein Mann werden.« Justin bewegt die Hand in einem Halbkreis, als wollte er etwas in die Luft malen, vielleicht eine Vision von Graham in zwanzig Jahren. »So Sachen eben.«
»Hm.« Ohne von seinem Videospiel aufzusehen.
Sie fahren durch einen ehemals bewaldeten Landstrich, jetzt nur noch ein Feld aus Stümpfen, wo früher hohe, gesunde Goldkiefern standen – Tausende davon –, Wächter an der Straße, auf der Justin schon sein ganzes Leben lang fährt. Jetzt sind sie verschwunden und alles sieht nicht vorhanden aus. Einen Augenblick lang vergisst er, wo er ist, er erkennt die Gegend nicht wieder, denn der Himmel liegt blank auf eine Art, wie er es noch nie gesehen hat.
Und dann fangen die Bäume wieder an, so unvermittelt, wie sie verschwanden, in dichten Gruppen stehen sie und filtern das Sonnenlicht zu Blitzen wie von einem Stroboskop, die den Weg erhellen. Er biegt rechts in eine lange Einfahrt ein, die sich zu einer Lichtung öffnet. Genau in der Mitte steht das Holzhaus, zwei Etagen hoch und mit einem roten Stahldach. Rauch steigt in dichten Schwaden aus dem Kamin aus Flusssteinen und verweht zu einem dünnen grauen Dunst.
Ein Kiesweg führt zu Natursteinstufen, die auf die Veranda führen. Am Geländer steht eine alte Maxwell House Kaffeedose, der feuchte Satz darin sieht ein bisschen aus wie Kautabak, wird aber bald als Dünger im Garten verstreut. Über der Haustür hängt ein Schafsschädel wie ein Wasserspeier. Sie treten sich die Schuhe auf dem Fußabstreifer ab und treten ohne Klopfen ein. Neben der Tür ragen aus Knochen geschnitzte Haken aus der Wand, an denen Hüte mit Tarnmuster, Regenumhänge und eine Carharrt-Jacke hängen. Darunter stehen schlammverschmierte und grasverkrustete Stiefel. Die honigfarbenen Hartholzdielen knarzen unter ihrem Gewicht, als sie darübergehen, einen kurzen Gang entlang, der ins Wohnzimmer führt. Eine hölzerne Vitrine steht an der Wand. Hinter dem Glas sieht man ein Service aus Knochenporzellan und fein verzierte Teekannen, einer der Akzente, die seine Mutter setzte, um die Aufmerksamkeit von den Bärenfellen und Trophäenfischen und Geweihen abzulenken, die sonst die Wände schmücken. Im Wohnzimmer gibt es zwei Panoramafenster, die das Licht hereinlassen. Dort findet Justin seinen Vater.
Er sitzt im Schneidersitz in einem Quadrat aus Sonnenlicht, trägt eine ausgewaschene Bluejeans und ein langärmeliges Thermo-Unterhemd. Auf einem alten Budweiser-Badetuch liegt zerlegt sein Gewehr. Das Zimmer stinkt nach Waffenöl. Als er den Kopf hebt, funkeln seine Augen im Licht wie das Glas einer alten Flasche. Er lächelt aufrichtig und steht auf, um sie zu begrüßen. Auf Justins Schulter legt er seine warme, riesige Hand. »Bereit für den Tag, Männer?«
»Klar doch«, sagt Justin.
»Und was ist mit dir?« Er kauert sich vor Graham hin und ist so groß, dass er ihm nur in dieser Position gerade in die Augen schauen kann.
Graham nickt mit den Augen. Sein Gesicht ist ein rosiges Oval, fast wie ein Ei, mit glatten blonden Haaren, die er streng seitlich gescheitelt trägt. Seine Arme und Beine sind dünn, die knubbeligen Gelenke wie Knoten in einem blassen Seil. Zart ist eine gute Beschreibung für ihn. An einer Kordel um den Hals hängt eine Digitalkamera, sein wertvollster Besitz. Er trägt eine Safarihose und eine Fischerweste mit vielen Reißverschlusstaschen. Eine Wasserflasche mit schmaler Trinköffnung baumelt rechts an seinem Gürtel und links ein Leatherman Werkzeug. Bis auf die Kamera ist er komplett ausgestattet mit Sachen, die Justin ihm letzte Woche bei Gander Mountain gekauft hat. Graham war sehr nervös wegen des Ausflugs – sein erster Jagdausflug, das erste Mal für mehr als eine Nacht ohne Mutter –, aber kaum war er ausgestattet, schien er sich gewappnet zu fühlen, denn die Furche zwischen seinen Augenbrauen verschwand und er hörte auf, dauernd an den Fingernägeln zu kauen.
»Du bist immer so still«, sagt Justins Vater zu ihm. »Warum bist du immer so still?«
Graham zuckt die Achseln und lächelt schüchtern, und Justins Vater verschränkt die Hände hinter Grahams Hals und zieht ihn zu sich, bis ihre Stirnen sich berühren. »Komm. Ich will dir was beibringen.« Seine Knie knacken, als er sich aufrichtet, und dann noch einmal, als er sich wieder vor das Badetuch setzt. Er klopft neben sich auf den Boden, und Graham setzt sich zu ihm.
»Schätze, dein Alter hat dir nie gezeigt, wie man eine Waffe reinigt? Nein? Dachte ich mir schon.« Er wirft Justin einen tadelnden Blick zu, bevor er sich wieder dem Gewehr zuwendet. »Jetzt hör mal gut zu, okay?« Er erklärt, dass alle Feuerwaffen – »Ich rede von Gewehren, Revolvern, Pistolen, Schrotflinten, sogar Bazookas« – mechanischer Abnutzung ausgesetzt sind wie auch schädigenden Wettereinflüssen und unsachgemäßer Behandlung, etwa, dass man sie in einen Fluss fallen lässt. »Das hat dein Alter mal gemacht, weißt du. Hat er dir das je erzählt?« Wieder dieser Blick.
Man sollte meinen, dass Justin nach so vielen Jahren eine gewisse Unempfindlichkeit gegen die Sticheleien seines Vaters entwickelt haben müsste, wie ein Nerv, der unter wiederholter Gewalteinwirkung taub wird. Aber nein. Auch wenn er die Arme verschränkt und seine Miene neutral hält, zuckt ein Teil von ihm doch zusammen. Sein Vater zielt immer auf die Säume, er hofft sie aufzureißen, damit seine Füllung herausquillt. Manchmal wehrt sich Justin, aber meistens presst er nur die Lippen zusammen und verkneift sich jede Erwiderung, weil er die anstrengenden Wochen vermeiden will, die nötig sind, um einen Bruch zwischen ihnen zu kitten.
Sein Vater zeigt Graham, wie man kontrolliert, ob die Waffe wirklich entladen ist, wie man nach möglichen Blockaden sucht, indem man die Mündung gegen das Licht hält und von der Kammer zur Mündung schaut. Er nimmt eine Kupferdrahtbürste und schiebt sie durch den Lauf, um Grate und Körnchen zu entfernen. Dann taucht er einen Stofflappen in Lösungsmittel, befestigt ihn an der Spitze des Reinigungsstabs und schiebt ihn ebenfalls durch den Lauf, gefolgt von einem trockenen Lappen und einem Lappen mit einem Hauch Waffenöl. Dann reinigen sie alle sichtbaren Teile der Mechanik, die Innenseite des Rahmens, die Front des Verschlussblocks mit einer harten Zahnbürste. »Spiegelsauber«, nennt er es.
Diese Lektion hat Justin in seiner Jugend sehr oft gehört. Als er nun miterlebt, wie sie an seinen Sohn gerichtet wird, der seinen Großvater mit großen, feuchten Augen anschaut, ist er gerührt und besorgt zugleich. Er denkt an das, was Karen heute Morgen gesagt hat: »Lass nicht zu, dass er ihn herumkommandiert, so wie er dich herumkommandiert!«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte er, und sie sagte: »Versuch es wenigstens. Bitte!«
Sie stand am Spülbecken, während sie mit ihm sprach, und trocknete sich die Hände mit einem Waffeltuch. Das Licht strömte durchs Fenster und strahlte sie an wie ein Bühnenscheinwerfer, und er erinnert sich, dass er sie anschaute, wirklich anschaute. Sie hat einen jungen Körper, dessen wahres Alter man nur erkennt, wenn man sich ihr Gesicht sehr genau ansieht. Die kleinen Fältchen an Augen und Mund. Die Adern, die sich schwach an ihren Schläfen abzeichnen. Die Konstellation von winzigen Altersflecken auf ihrer Wange. Es war, als wären verschiedene Menschen zusammengemischt, und er war sich nicht sicher, wie viel an ihr noch der Frau ähnelte, in die er sich verliebt hatte.
»Was ist?«, fragte sie. »Was starrst du so?«
»Nichts.«
Graham kam in die Küche und stellte seine Müsli-Schüssel auf die Anrichte. Sie küsste ihn auf die Stirn, fragte, wie es ihm gehe – »Gut« –, und ob er aufgeregt sei – »Ja.« Sie lächelte schwach und warnte mit einer Stimme, die an sie beide gerichtet war: »Bitte seid vorsichtig!«
»Ich bin immer vorsichtig«, sagte Graham.
»Das weiß ich doch. Das weiß ich. Aber denk daran, dass dein Opa seine Grenzen nicht mehr kennt. In vieler Hinsicht ist er mehr Kind als du.«
Jetzt sieht Justin seinem Vater zu, der ihre Ausrüstung zusammensammelt und zwischen Haus und Bronco hin und her geht, so beladen mit Gewehren, Munition und Angelausrüstung, dass seine Bewegungen ein metallisches Klirren produzieren, wie die Bewegungen von Schlüsseln an einem Ring.
Auf der Straße mit dem roten Belag fahren sie in die Wüste, Bend liegt hinter ihnen und vor ihnen die Ochocos. Die große orangene Scheibe der Sonne scheint den Himmel ganz für sich allein zu haben. Sie schwebt über ihnen und taucht sie in ein flirrendes Licht.
Nach fünf Minuten Fahrt dreht Justin sich um und sieht Graham still auf der Rückbank sitzen und dahinter die Masse der Häuser, die in der Ferne bereits verschwommen und grau wird. Vor ihnen geht das Land allmählich ins Vorgebirge über und aus dem Vorgebirge wachsen schneebedeckte Gipfel, die große Stücke aus dem Himmel schneiden. Die Cascades sind immer der Orientierungspunkt für Justin. Sooft er sich in seinem Leben verirrt hat, ob beim Wandern im Wald oder bei einer Fahrt über irgendeine winzige Landstraße, brauchte er nur die vertraute bekrönte Spitze der North Sister oder das Plateau des Mount Bachelor suchen. Sie atmen über ihm. Sie helfen ihm, den Weg zu finden. Jetzt verändert er leicht den Seitenspiegel und in ihm sieht er die Berge hinter sich kleiner werden. Er legt die Hand auf ihr Spiegelbild.
Karen hat ihnen Rosinenbrötchen gebacken, und jetzt essen sie ein paar und trinken Kaffee aus einer Thermosflasche, während sie über diese schnurgerade Straße fahren. Die Wüste ist gesprenkelt mit Beifuß und Krüppellärchen und sonst kaum etwas. Unter der Sonne wirkt alles gelblich, fast kränklich. Hin und wieder kommen sie an einer kleinen Ortschaft oder einer Wohnwagensiedlung mit Namen wie Frog Bottom oder Pine Hollow vorbei. Jeder dieser extrabreiten Trailer hat eine Satellitenschüssel auf dem Dach. In so gut wie jedem Vorgarten entdeckt Justin die übliche Mischung aus Unkraut und rotem Schlackekies, Kinder mit schmutzigen Windeln und Hunden, die an ihren Ketten reißen und jedes Auto anbellen.
Sie kommen durch eine Gegend, in der niemand wohnt. Lava, ausgespuckt von einer uralten Eruption, erstreckt sich um sie herum wie ein riesiger schwarzer See mit Wellen aus scharfkantigen Graten, die der Wind herausgeschliffen hat. Hier und dort bricht ein knochenweißer Baum durch die Kruste.
Sein Vater drückt den Bronco auf siebzig, achtzig Meilen, als hätte er es eilig, diesen Ort hinter sich zu lassen, wo vor und hinter ihnen zu beiden Seiten der Straße nur Wüste liegt. Der Motor vibriert. Die Reifen surren über den rötlichen Asphalt. Ein Rotschwanzbussard sitzt auf einem Telefonmast. Eine Truppe Mexikaner, die Bewässerungsrohre verlegen. Eine Hütte aus Teerpappe mit klaffender Tür wie ein schiefer Zahn. Zwei Kojoten, die im Schatten eines toten Baums sitzen. All das verschmilzt miteinander in der heißen, weiß glühenden Luft. Die Reifen fressen die Straße und nach einer Weile versiegt die Unterhaltung und macht einer unbehaglichen Vorahnung Platz.
Seit einiger Zeit interessiert Graham sich für Computer, und vor ein paar Wochen verkündete er beim Abendessen, er wolle später entweder Programmierer oder (sein Standard-Berufswunsch) Fotograf für das National Geographic werden. Justins Vater versucht jetzt herauszufinden, was das heißt – Programmierer zu werden – und fragt mit einer Stimme, die Radio und Motor übertönt, was Facebook eigentlich ist, was ein iPod macht.
Graham gibt sich Mühe, seine Fragen zu beantworten, redet mit ruhigem Selbstvertrauen, tippt mit den Fingern auf einer imaginären Tastatur. Was Justins Vater nicht versteht, nennt er gern nutzlos und tut es mit einer Handbewegung und ein paar ausgewählten Worten ab. Deshalb beschließt Justin, als er sieht, dass seine Augenbrauen vor Verwirrung immer enger zusammenrücken, das Gespräch auf ein Thema zu bringen, das seinem Vater besser gefällt.
»Wie läuft’s eigentlich mit Boo?« Boo ist der Jagdhund, den er schon immer wollte, ein Labrador-Retriever-Mischling, den er vor einem Jahr von einem Alfalfa-Farmer gekauft hat.
»O, er ist ein guter Junge.« Sein Vater lächelt und stellt den Rückspiegel so, dass er Boo sehen kann, der, zu einem Hufeisen zusammengekrümmt, auf der Rückbank neben Graham schläft. »Boo? Hey Boo, du Bär?« Als der Hund seinen Namen hört, stellt er die Ohren auf und hebt den Kopf von den Pfoten und wedelt ein paar Mal mit dem Schwanz. »Bereit zum Jagen, Boo?«, fragt er, und Boo bellt scharf.
Nun erzählt er ausführlich, dass die Erziehung eines Hundes nichts anderes ist als die Erziehung eines Kindes. Er behauptet, dass ein Mann, der es nicht schafft, seinen Hund ausreichend und ausdauernd zu trainieren, zu testen, zu disziplinieren – von der Geburt bis zum Tod –, sich auf ein schlimmes Erwachen gefasst machen muss. »Boo war noch nicht mal einen Monat alt, als ich ihn zum ersten Mal mit Wasser bekannt machte, mit den verschiedenen Arten der Deckung und mit den Jagdvögeln.« Er streicht sich mit der Hand über den Bart. »Bei Hunden muss man von Anfang an ihre Gehorsamkeit und ihre Jagdlust entwickeln, sonst wird aus ihnen nichts Rechtes.«
Hier wirft er Justin einen Blick voller Nachsicht und Liebe zu, und Justin tut so, als würde er es nicht bemerken, denn er weiß, sie haben ein langes Wochenende vor sich.
Sein Vater beschreibt, wie er Boo zum ersten Mal ins Wasser gelockt hatte. »Ich habe meine Fliegenrute genommen, weißt du.« Er ahmt mit der Hand die Wurfbewegung nach. »Mit einem Fasanenflügel am Haken warf ich sie in den flachen Teil des Teichs, und Boo jagte ihm nach und stellte ihn.«
Erst köderte er Boo mit einem toten Vogel, dann mit einem lebendigen, lahmen Vogel. »Am Anfang bekam mein Hündchen Angst, als es plötzlich den Boden unter den Füßen verlor, aber ich stieg mit ihm in den Teich und zeigte ihm, wie sicher es ist, und jetzt kann er, bei Gott, kaum an einer Pfütze vorbeigehen, ohne gleich hineinspringen zu wollen.« Justin erinnert sich noch sehr gut, wie er ihn von einem Steg gestoßen und ihm befohlen hatte, sechzig Sekunden Wasser zu treten, dass er dabei so viel gelacht hatte, wie er es jetzt tut, während er seinen Hund liebevoll anschaut.
»Nein«, sagte er, als würde er auf ein Gespräch reagieren, an dem Justin gar nicht teilnimmt, »bei der Hirschjagd wird Boo uns keine große Hilfe sein, aber er ist ein guter Kamerad.«
Die dicht gedrängten grünen Umrisse der Ochocos vor ihnen werden größer, als sie durch Prineville und dann Mitchell und John Day kommen, und Justin hört weiter zu und sein Vater redet weiter, bis schließlich die weite Ferne, wo der Beifuß erst Lärchen und dann Kiefern weicht, zur nahen Ferne wird und stetig ansteigt und die Nadelbäume das Sonnenlicht zu Tümpeln filtern, die über den Highway spritzen. Wenigstens die Hitze ist verschwunden, und in der kühlen Bergluft ist atmen so erfrischend wie trinken.
Unter hohe Kiefern duckt sich ein Mini-Mart mit zwei verrosteten Benzinpumpen. Davor verkündet ein handgeschnitztes Schild in weißen Lettern: SPRIT&KÖDER. Genau wegen diesem Angebot hält Justin seit seiner Kindheit hier an. Sie biegen auf den Kiesparkplatz ein und parken vor einer Pumpe, an der ein dünner Mann in schmierigem Overall und einem sauberen weißen Paar Turnschuhen aus dem Billigmarkt steht. Justin summt schnell die Banjo-Melodie von Deliverance, bevor sein Vater sich aus dem Fenster lehnt und Volltanken mit Normalbenzin verlangt.
Der Mini-Mart ist eine windschiefe, baufällige Hütte aus grauem salzfarbenem Holz und Asphaltschindeln, die entweder gesprungen sind oder ganz fehlen. Im Fenster blinkt rot und weiß ein Budweiser-Neonschild. Auf der Veranda steht eine Indianerfigur mit Hakennase und Federschmuck, wie man sie früher vor Tabakwarengeschäften fand. Er starrt die Männer hölzern an, als sie die Stufen hinaufpoltern und unter der hängenden Braue eines Dachs durch die Tür gehen. Eine Glocke bimmelt, um ihr Eintreten zu verkünden, und sie bleiben kurz stehen und blinzeln, um sich in dem nur schwach erleuchteten Raum umzusehen.
Läden wie dieser haben einen bestimmten Geruch – eine Mischung aus Würmern, Tabak und Hydrauliköl –, der nicht unbedingt Justins Lieblingsgeruch ist, aber doch beinahe. Wie der Geruch von Cherry Coke oder eines Plastikspielzeugs frisch aus der Verpackung ist es der Geruch seiner Kindheit.
Der Mann hinter der Theke ist gebaut wie ein Arbeitspferd. Er ist um die dreißig Jahre alt, aber mit einem verwitterten Gesicht von zu viel Arbeit unter heißer Sonne, als Dachdecker oder Farmer oder Straßenarbeiter. Er trägt ein Hemd mit abgetrennten Ärmeln. An Armen und Schultern schwellen die Muskeln, während er, abwechselnd links und rechts, Hanteln stemmt. Ein Hula-Mädchen scheint sich zu bewegen, wenn der Muskel unter ihr sich bewegt, es sieht aus, als würde sie auf seinem Deltamuskel die Hüften wiegen.
Er hört nicht auf mit seinen Übungen und dreht sich nicht zu ihnen um, wirft ihnen nur einen schnellen Blick zu und starrt dann wieder zum Fernseher, in dem eine alte Bonanza-Folge läuft. Er steht auf einem Regalbrett hinter ihm zwischen Stapeln von Camel- und Marlboro-Stangen.
An den dunkel getäfelten Wänden drängen sich Trophäen, lackierte Forellen und Hirsch-, Wapiti- und Antilopengeweihe. Die Spalten zwischen den Bodenbrettern sind so breit, dass locker ein Vierteldollar hindurchpasst, und sie knarzen, als die Männer die Gänge entlanggehen und einen Sechserpack Pepsi, eine Tüte Fritos, Oreos und Trockenfleisch aus den Regalen nehmen. Ein Päckchen mit Panther Martin Spinnködern. Justins Vater sagt, sein Filter pfeife aus dem letzten Loch, und nimmt sich einen Milchkrug voller Wasser.
In der hintersten Ecke steht ein hüfthoher, hölzerner Eimer. Ein Zettel oben auf dem Deckel bietet zehn Elritzen für einen Dollar an. Justin hebt den Deckel, und er und Graham spähen in das Wasser und sehen Hunderte von dunkel wimmelnden Elritzen. Justin taucht die Hand hinein und Graham macht es ebenso, und die Fische sind wie zappelnde Ärmel um ihre Arme, und ihre Augen werden rund vor Vergnügen. Graham fragt: »Können wir ein paar kaufen?«, und Justin antwortet ihm Nein, sie wollen an einem Fluss angeln, nicht an einem See.
Sein Vater steht inzwischen an der Ladentheke, und Justin geht zu ihm und stellt ihre Vorräte auf die Theke. Der Mann hinter der Kasse beendet zuerst seine Trainingseinheit, bevor er die Gewichte so heftig auf den Boden setzt, dass Metall auf Holz klappert. Justin hört, dass eine der Hanteln über den unebenen Boden rollt, bis sie mit einem Pling gegen etwas Metallisches stößt. Eine Schrotflinte oder ein Baseballschläger, vermutet Justin. Etwas, das dieser Mann sicher in die Hand nehmen würde, um Schaden anzurichten.
Der Mann betrachtet sie jetzt mit seinem kantigen Schädel, und in seinen Augen scheint eine gewisse Verärgerung aufzublitzen – weil sie ihn bei seinem Training unterbrochen haben oder weil sie ganz offensichtlich nicht von hier stammen, kann Justin nicht sagen.
»Auch Benzin«, sagte Justin, und der Mann sagt »Ja« mit einer Stimme, als wüsste er das bereits.
Die Rechnung beträgt 53,35 Dollar, ein nettes Palindrom von einer Zahl, und Justin und sein Vater zücken gleichzeitig ihre Brieftaschen. Es entsteht die übliche Rangelei, die sie immer ausfechten, wenn sie miteinander unterwegs sind, jeder besteht aufs Bezahlen und versucht, den anderen beiseitezuschubsen, bis Justin schließlich sagt: »Ich will bezahlen. Ich will.«
Sein Vater hebt die Hände, als würde er sich ergeben, und schnappt sich dann die Tüte mit dem Trockenfleisch und reißt sie mit den Zähnen auf. Er steckt sich ein Stück in den Mund, gibt Graham ebenfalls eins, und gemeinsam verlassen sie den Laden, mit Mündern voller zähem Fleisch über das bevorstehende Wochenende redend.
Der Kassierer wiederholt den Preis und lässt den Blick dann zum Fernseher wandern, wo Hoss und Little Joe Cartwright ihren Pferden die Sporen geben und mit gezogenen Pistolen hinter einem johlenden Trupp Indianer herjagen, die sie in einem trockenen Canyon entdeckt haben. Als der Kassierer – Seth steht auf seinem Namensschild – den Blick wieder abwendet, legt Justin einen Hundert-Dollar-Schein auf die Theke. »Auf den kann ich nicht rausgeben.« Sein Gesicht ballt sich wie eine Faust. »Wie kommen Sie drauf, dass ich so viel Wechselgeld hätte?«
»Ach so«, sagt Justin. »Entschuldigung.« Er zieht seine Visa-Karte aus der Brieftasche. »Nehmen Sie Kreditkarten?«
»Wenn Sie einen Führerschein haben.«
Justin legt ihm beide Karten vor, und Seth nimmt sie mit einer blau geäderten Hand und betrachtet sie nebeneinander. »Sie sind aus Bend.« Er schnaubt. »Das erklärt alles.«
Justin braucht ihn nicht zu fragen, was das bedeuten soll. Er redet über das Netzwerk aus Straßen, die immer breiter und länger werden, sich westwärts ins Vorgebirge verzweigen und ostwärts in die Wüste, gefolgt von Telefondrähten, deren Schatten das Land überziehen wie Zeilen auf Notenpapier. Er redet über die Grate aus Wohnanlagen, Motels, Supermärkten. Er redet davon, dass unaufhörlich Lärchen gefällt und Häuser gebaut würden, Häuser mit Whirlpools und Granitarbeitsflächen in der Küche und rustikalen Kiefernsäulen an der Haustür, und zwischen den Häusern tauchte dann irgendwann, als hätte ein riesiger Füller Tinte verspritzt, ein Golfplatz auf, jede Bahn zu perfekten, langen Streifen aus hellem und dunklem Rasen gemäht und beständig gewässert, so dass das Gras nicht verwelkt zu dem kränklichen Gelb, das hier der natürliche Bewuchs ist.
Sie sind allgemein bekannt, diese Ressentiments gegenüber Portland und Eugene und Bend, vor allem unter den Milchbauern und Viehzüchtern und den Ortschaften in den Bergen. Das Geld kommt aus der Stadt. Die Wählerstimmen kommen aus der Stadt. Sie machen einen republikanischen Staat demokratisch.
Seth trägt einen Ring am Zeigefinger. Es ist ein Schulring – aus Gold mit einem roten Stein, den eine Inschrift einfasst –, wahrscheinlich John Day High, Abschlussklasse 1992, oder etwas in dieser Richtung. Er bricht das Licht und blitzt auf, als er die Visa-Karte durch das Lesegerät zieht und konzentriert das Kassendisplay anschaut, als würde er hoffen, dass sie die Karte als gestohlen oder das Konto als gesperrt meldet. Erst als die Rechnung aus dem Schlitz quillt und Justin sie unterschreibt, gibt er ihm die Karte zurück.
Als Seth unter die Theke greift, erwartet Justin beinahe, dass er die Schrotflinte hervorholt, von der er weiß, dass sie dort ist. Stattdessen hat Seth eine Papiertüte in der Hand. Mit einem Schlenker des Handgelenks öffnet er sie und füllt den klaffenden Mund mit den Einkäufen. »Was wollt ihr hier draußen eigentlich?«
»Sind unterwegs zum Echo Canyon.«
»Jagen? Fischen?« Er spricht die Verben sehr knapp aus, verschleift die Endungen.
»Bisschen was von beidem.«
»Aber ihr wisst schon, dass sie den abholzen, den Canyon abholzen, ab kommenden Montag?«
»Ja.« Justin macht eine Geste mit dem Daumen, deutet auf die Stelle, wo eben noch sein Vater gestanden hat. »Na ja, genau genommen gehört mein Alter zur Mannschaft. Seine Firma, diese Holzhaus-Baufirma, sie –«
»Im Ernst, er gehört zur Mannschaft?« Alle seine Muskeln scheinen sich anzuspannen und er beugt sich über die Theke, kommt Justin so nahe, dass er seinen Atem spürt, ihn beinahe schmecken kann, aromatisiert von den Geistern Hunderter Zigaretten. »Ist ja klasse. Einfach wunderbar. Sagen Sie ihm danke dafür, dass er auf meine Türschwelle pisst, okay?«
Nach einem Augenblick verblüfften Schweigens sagt Justin: »Ich verstehe nicht.«
»Natürlich nicht. Sie sind ja aus Bend.« Er betont den Namen so stark, als wollte er ihn zermalmen.
Justin versteht und auch wieder nicht. Er verdreht auch nur die Augen, wenn er an diese ganzen Neubaugebiete denkt, an die Supermärkte, die wie Pilze aus dem Boden schießen, wenn er daran denkt, dass es hier bald mehr Kalifornier als Oregoner gibt, dass Mapquest mit der hektischen Entwicklung nicht mitkommt, zugleich aber mag er GAP und Starbucks, mag es, wegen Sachen, die er braucht, nicht nach Portland fahren zu müssen. Er weiß, er sollte jetzt nichts mehr sagen, sollte seine Einkäufe nehmen und gehen, aber sein Mund plappert bereits eine Frage. »Ich meine, sind Sie in gewisser Weise nicht froh?«
Das Wort scheint ihn anzuwidern. »Froh?« Er spuckt es aus.
»Sie bekommen mehr Geschäft. Die Leute werden an den Zapfsäulen Schlange stehen. Es bringt ihnen doch nur Gutes.« Noch während Justin spricht, verengen sich Seth’ Augen zu Schlitzen, und Justin fühlt sich plötzlich sehr klein, so dass sein letzter Satz fast nur noch ein Wimmern ist. Aus Seth’ Gesicht blitzt nackter Hass. So etwas hat Justin schon sehr lange nicht mehr erlebt, und es wirft ihn einige Schritte zurück, als hätte dieses Gefühl eine körperliche Kraft.
Aus dem Fernseher dringt der Lärm einer Schießerei. Rauch steigt hoch, und als er sich teilt, sieht man mehrere Indianer verstreut im Sand liegen. Justins Blick wandert zum Fernseher, Seth’ aber nicht. Sein Blick bleibt auf Justin fixiert. »Nur Gutes«, wiederholt er, als versuche er, den Satz zu begreifen.
Falls Justin seinem Vater von Seth erzählt, wird der auf zwei Arten gleichzeitig reagieren. Er wird die Geschichte als unwesentlich abtun – »Dann mag er dich eben nicht. Na und? Wolltest du ihn zu deinem Abschlussball einladen?« – und zugleich wird er sich versteifen, an den Widerwillen denken, den er vor mehr als einem Jahr in seinem Hinterhof empfunden hatte, als er Pfeil um Pfeil in einen Rehbock aus Polyurethan jagte und sich fragte, ob er sich selbst und diesen Ort verrate. Justin sagt deshalb nichts, obwohl ihn dieser Wortwechsel belastet, als sie von der Tankstelle wieder auf die Straße biegen und über einen kurvenreichen Bergpass weiterfahren.
Um eine Kurve kommt ein Chevy Malibu, ein winziges Auto mit einem großen Hirsch auf dem Dach. Die Scheibenwischer laufen und wischen das Blut weg, das über die Windschutzscheibe läuft. Die Fahrzeuge fahren so langsam aneinander vorbei, als würden sie sich auf einem Fluss begegnen. Justins Vater grüßt mit der altbekannten Geste – die Finger kurz vom Lenkrad heben –, und sie erwidern den Gruß.
Der Highway gabelt sich und sie nehmen die nordöstliche Abzweigung. Dort gibt es eine Schranke, die im Winter den Eingang zu den tief verschneiten Straßen versperrt. Jetzt ist sie geöffnet, klafft wie ein Mund. Als sie hindurchfahren, macht sein Vater ein Geräusch und dreht sich im Sitz, um etwas zu beobachten.
»Was ist?«, fragt Justin und legt die Hand aufs Steuerrad, um das Auto gerade zu halten, während die Augen seines Vaters auf die Welt hinter ihnen gerichtet sind. »Was hast du gesehen?«
»Ich habe – ich habe einen Wolf gesehen, ich schwöre es, obwohl es eigentlich gar nicht möglich ist.« Er nimmt das Lenkrad mit einer Hand und fährt sich mit der anderen durch den Bart und sagt schließlich: »Muss ein Kojote gewesen sein.« Er spricht das Wort aus wie viele seiner Schüler es tun, als wären es zwei Wörter Ko – Jote.
Justin schaut ebenfalls zurück, sieht aber nur Wald, ein hölzernes Gewirr aus Schatten und Licht. Am Straßenrand sieht man Erdbeeren und grüne Waldclintonien und kleine Schneeflecken und mit derben graugrünen Flechten bewachsene Felsbrocken, die aussehen wie über einen Kellerboden gerollt. Sie kommen an einem alten Holzfällerlager vorbei, die Hütten eingestürzt, die Gerätschaften verrostet und vergessen. Hin und wieder lichten sich die Bäume und geben den Blick frei auf ein schmales Tal mit einem Fluss, der es durchfließt oder einem dünnen Wasserfall, der still über eine Basaltwand tröpfelt. »Siehst du das?«, fragt Justin über die Schulter, und als sein Sohn nicht reagiert, dreht er sich um und sieht ihn ein Buch lesen – Flora und Fauna des Pazifischen Nordwestens –, ein widerstandsfähiges Softcover mit Plastikeinband und glatten Seiten, von denen der Regen abläuft. Justin hat es im Gander Mountain gekauft, ein Impulskauf, als er in der Kassenschlange stand. Die Seiten sind angefüllt mit Fotos und Illustrationen und Beschreibungen von allem, vom Schwertfarn bis zu Bergziegen. Justin spürt eine leichte Verärgerung – da sein Sohn die Schönheit um ihn herum ignoriert –, aber er verkneift sich eine Zurechtweisung, weil er weiß, dass er in seiner Stimme die seines Vaters hören würde.
»Graham«, sagt er laut, mit nach Aufmerksamkeit heischender Stimme.
Er hebt den Kopf aus dem Buch, sein Gesicht ist blass und überrascht. »Ja.«
Justin nickt zum Fenster. »Was hältst du von der Welt da draußen?«
Einen Augenblick schaut Graham in den Wald hinaus und antwortet dann: »Es ist hübsch.« Wie um das zu bestätigen, hebt er seine Kamera und lässt sie klicken und sirren und fängt so die Welt, die an ihnen vorbeizieht, als grünen Schleier ein.
Der Asphalt geht über in Schlackekies, tief gefurcht an Stellen, wo über viele Jahre hinweg der Schnee schmolz und nicht abfloss.
Auf dem Scheitel des Passes kommen sie an einem Schaufellader und einem Bagger und ein paar Traktoren vorbei, und sein Vater bremst und dreht sich nach ihnen um, als würde er eine Unfallstelle betrachten. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber dann kippt die Straße um fast vierzig Grad, und er konzentriert sich wieder aufs Lenken. Er schaltet herunter. Der Motor stottert kurz, bevor der Gang einrastet. Er tippt leicht auf die Bremse und verstellt den Rückspiegel und schaut hinein.
»Weißt du, einen Wolf zu sehen, bringt Glück«, sagt er. »Oder ist es Pech?«