KAREN

Als sie sich im Bett umdreht und ihren Arm auf die leere Matratze neben sich legt, mit der Hand die Senke seines eingedrückten Kissens ertastet, als sie die Decke abwirft und nackt durchs Haus geht, in dem die Jalousien heruntergelassen sind, so dass nur das Sonnenlicht um ihre Ränder lugt, als sie nur genug Kaffee für eine halbe Kanne mahlt, als sie in der Zeitung blättert und die einzelnen Teile nachlässig verstreut, merkt sie, dass sie ihre Familie nicht vermisst, überhaupt nicht.

Zum Frühstück isst sie Apfelspalten auf Hüttenkäse und spült sie mit einer schnellen Tasse Kaffee hinunter. Der Apfel ist organisch, der Hüttenkäse ist organisch und der Kaffee ist organisch und stammt aus fairem Handel. Bei jedem Bissen stellt sie sich vor, dass sie die Qualität der Nahrungsmittel in sich aufbrechen und sich in Nährstoffe auflösen spürt, die ihren Körper aufbauen, anstatt ihn kaputt zu machen. Sie zieht ihren Sport-BH und Shorts an, schlüpft in ihre Laufschuhe und bindet sie mit einer Doppelschleife zu. Dann ist sie aus der Tür draußen und steht auf der Veranda, wo sie ein paar Minuten lang Dehnübungen macht und ihre Muskeln spürt, die so straff sind wie ihre Haut in der kühlen Bergluft.

Sie hofft, dass es Graham gut geht, vor allem bei diesem Hurensohn von Großvater, der ihn herumkommandiert, als wäre er sein eigener Sohn, nur eine andere Version von Justin, einen, den man nach eigenem Belieben formen, einen Mann aus ihm machen kann. Sie wünscht sich wirklich, sein Herz würde einfach den Geist aufgeben. Die Welt, denkt sie, wäre dann besser dran. Sie weiß, dass es furchtbar ist, so etwas zu denken, aber sie kann nicht anders, sie muss es einfach.

Sie will heute zehn Meilen laufen – die Aubrey Butte rauf und runter, vorbei am Drake Park auf ihrem Weg ins Stadtzentrum – und dann noch eine Meile gehen, um sich abzukühlen. Sie schaut auf die Uhr und vermutet, dass sie in gut einer Stunde wieder zurück sein wird.

Sie fängt langsam an. Nach den ersten hundert Metern hören ihre Gelenke, die zuerst steif und wie verrostet waren, auf zu knacken und zu protestieren. Ihre Muskeln werden warm, locker und gut durchblutet. Sie beschleunigt, ihre Arme und Beine durchschneiden in präzisen Winkeln die Luft. Das Geräusch ihrer Laufschuhe auf dem Bürgersteig entspricht dem Schlagrhythmus ihres Herzens. Tief zieht sie die kühle Luft in die Lunge und stößt sie warm wieder aus.

Sie ist in der Form ihres Lebens. Manchmal steht sie nackt vor dem Spiegel und betrachtet ihren Körper. Sie ist stark gebräunt bis auf die scharf umrissenen blassen Stellen ihrer Shorts und ihres Sport-BHs, wo ihre Haut nach einem scharfen Lauf so weiß und feucht ist wie etwas, das man aus einer Muschelschale zieht. Sie streckt sich dann oder geht auf der Stelle, nur um ihren Körper sich bewegen, die Muskeln schwellen zu sehen, als wäre unter der dünnen Hülle ihrer Haut etwas gefangen.

Ihr gefällt ihr Aussehen. Und sie weiß, dass es auch anderen gefällt, kennt ihre Wirkung auf Männer. Sie kann in keine Videothek gehen, ohne von einem Angestellten verfolgt zu werden, der sie fragt, ob sie lieber Komödien oder Liebesfilme sieht, in keinen Lebensmittelladen, ohne von einem Bestücker gefragt zu werden, ob sie Hilfe braucht. Es gefällt ihr, dass man sich nach ihr umdreht, sie anlächelt. Aber das Gefühl der Macht und das der Machtlosigkeit trennt nur ein sehr schmaler Grat, wie zum Beispiel jetzt, da ein Mann in einem roten Dodge abbremst, um neben ihr herzufahren. Sie versucht, ihn zu ignorieren. Er macht das unmöglich, indem er das Fenster herunterkurbelt und ruft, ob sie weiß, wie man mit einem Schaltknüppel umgeht?

Sie schaut ihn nicht an, schreit aber zurück: »Ich weiß, wie man ein Nummernschild liest.«

Darauf flucht der Mann etwas, das im Wind und im Motorenlärm untergeht, als er aufs Gas steigt. Sie fragt sich, warum so viele Männer mit der Überzeugung durchs Leben gehen, sie seien die Jäger und die Frauen die Beute? Sie fragt sich, woher das kommt, diese Gier, ob es angelernt oder angeboren ist, ein Klauen-und-Zähne-Impuls aus dieser längst vergangenen Zeit, als wir noch durch den Wald rannten und in Höhlen schliefen. Vielleicht ist das der Grund, warum es ihr mit diesem Schlüsselmann so gut gefiel. Sie spürte, dass er sie begehrte – aber er war so klein, dass sein Begehren wirkte wie das eines Kinds, fast süß, auf jeden Fall harmlos.

Natürlich sieht sie dieselbe grausame Gier sogar in Kindern, sieht sie in den Highschools, die sie als Ernährungsberaterin besucht. Vorgestern war sie an der Obsidian Junior High, sie saß in der Cafeteria an einem Tisch mit einem Junk-Food-Display. Sie hatte alle möglichen drastischen Klischees zur Hand, darunter einen Batzen kerzenwachsgelbes Fett in einem Glasbehälter und einem Schild, das es gleichsetzte mit einem Whopper, großen Pommes und einem Schoko-Shake bei Burger King. Hin und wieder blieb ein Schüler kurz stehen und sagte »Krass« oder »Wie geht’s, Mrs. C.?«, die meisten aber ignorierten sie, gingen einfach vorbei mit Tabletts, auf denen sich Kartoffel-Käse-Plätzchen und frittierte Hühnerteile türmten. Im Gewirr der Leiber erregte ein Mädchen ihre Aufmerksamkeit, ein pickeliges Mädchen mit krausen Haaren und einem Körper wie eine Henne. Sie sah bereits aus wie Anfang dreißig, konnte aber nicht älter als vierzehn sein. Sie saß mit ihren Freundinnen zusammen, alle ein wenig abseits vom Rest, mit dicken Brillengläsern und schiefen Zähnen und selbstgemachten Frisuren und Kleidern. Sie spielten irgendein Spiel – Pokemon oder Magic oder etwas Ähnliches – und das hennenförmige Mädchen stand auf und beugte sich über eine Ansammlung von Karten. An einem Nachbartisch fing eine Gruppe Jungs in Nike-Klamotten an zu johlen und zu kichern und mit den Fingern auf das Mädchen zu zeigen, und anfangs dachte Karen, es seien einfach nur Jungs, die irgendeinen gemeinen, idiotischen Jungs-Witz über einen fetten Arsch rissen. Dann fiel ihr der rote Fleck auf, der sich innen auf dem Schenkel des Mädchens ausbreitete; sie trug eine hellblaue Jeans, auf der das Blut unglaublich grell aussah. Sie hatte ihre Periode und merkte es überhaupt nicht, hatte sich keine Binde eingelegt, vielleicht, weil sie zuvor noch nie eine gebraucht hatte.

Zuerst tat Karen nichts. Sie war keine Lehrerin und nicht permanent an der Schule beschäftigt, deshalb fühlte sie sich manchmal so, als hätte sie mit dem, was in den Gängen und Klassenzimmern ablief, nichts zu tun. So sah sie nur zu, wie die Jungs lachten und spotteten, sah zu, wie einer von ihnen ein Kartoffelplätzchen in Ketchup tauchte und auf das Mädchen warf, sah zu, wie es sie am Kopf traf und feucht in ihren Haaren klebte, und bald machten die übrigen Jungs es ihm nach, sie bewarfen das Mädchen, ihre Haare, ihren Rücken, ihren Hintern. Karen sah das alles, als würde es im Fernsehen passieren, als wäre das Mädchen ein lahmendes Gnu und die Jungs Krokodile mit langen Zähnen. Erst als das Mädchen mit ausdruckslosem Gesicht davonstolperte – sich mit den Händen über Bluse und Hose wischte, um sie zu säubern, sich stattdessen aber nur das Ketchup verschmierte –, sprang Karen auf und rannte auf die Jungs zu und knallte ihre Hand auf den Tisch und befahl ihnen aufzuhören – Hört verdammt noch mal damit auf. Sie sollten sich schämen, schleuderte sie ihnen entgegen.

Sie hat Angst um das Mädchen. Es wird im Lauf der Zeit immer blasser und fetter werden. Es wird aufs Community College gehen. Es wird in ein Einzimmerapartment ziehen, mit einem Fernseher mit Holzverkleidung an einer Wand und an der anderen Meerschweinchen, Käfig auf und neben Käfig gestapelt wie Wohnungen in einem Block. Der Teppich wird übersät sein mit Holzspänen und Scheißekügelchen. Es wird in der Bibliothek oder in der Führerscheinbehörde arbeiten, und ihre Kollegen werden hinter ihrem Rücken darüber tuscheln, dass sie nach Sellerie und Holz und Urin riecht. Sie wird allein sterben. Das alles macht Karen verdammt traurig. Weil sie weiß, dass das Mädchen etwas Besseres aus sich machen könnte. Es gibt so viele Wege, die man einschlagen, so viele Richtungen, für die man sich entscheiden kann.

Karen denkt oft darüber nach, über die vielen verschiedenen Lebenswege, die ihr offengestanden hätten. Sie hätte den Jungen heiraten können, mit dem sie in der Highschool gegangen war, Doug, den Linienspieler mit den blauen Augen und dem langen, dünnen Penis, in welchem Fall sie wahrscheinlich in Portland geblieben und mit ihm gestorben wäre, als er vor ein paar Jahren auf dem Santiam Pass frontal mit einem Holzlaster zusammenstieß. Oder sie hätte ihr College-Stipendium dazu nutzen können, nach Europa zu reisen und dort langsam durch Museen zu schlendern und enge schwarze Jeans zu tragen und Schokocroissants in Freiluftcafés zu essen. Oder sie hätte vor ein paar Jahren vergessen können, die Batterien im Rauchmelder zu wechseln, und hätte so nicht rechtzeitig das Feuer bemerkt, das sie ausgelöst hatte, weil sie den Speck zu lange auf dem Herd ließ, und vielleicht hätte dann die Rauchvergiftung ihr Gehirn geschädigt oder die Flammen hätten ihr Gesicht verbrannt, so dass es ausgesehen hätte wie geschmolzen. Und in jeder dieser Möglichkeiten lagen eine Million anderer Möglichkeiten, jede abhängig davon, ob man ans Telefon gegangen war, ob eine Stufe vereist oder eine Tür verschlossen war, und aus jeder würde sich eine andere Karen ergeben, die unterschiedlichen Versionen von ihr sich durch die Zeit verästelnd wie das Gewirr aus Straßen und Feldwegen, die ihr jetzt zur Verfügung standen, so gepflastert mit Ehrgeiz wie sie versperrt und durchlöchert waren von Unzulänglichkeit, so dass sie manchmal das Gefühl hat, sie bräuchte sich eigentlich gar nicht anzustrengen und könnte ebenso gut den ganzen Tag auf der Couch liegen und Cherry Garcia Eiskrem in sich hineinschaufeln.

Bäume säumen die Straßen, auf denen sie läuft. Sonnenlicht blitzt durch die Äste und durch die Strahlen fallen die Nadeln der Goldkiefern und die gelben Blätter der Birken und Espen. Die Jahresringe eines Baums, das weiß sie, erzählen eine Geschichte. Ein feuchtes Jahr produziert einen breiten Ring. Ein Feuer oder eine Krankheit oder Trockenheit produzieren einen schmalen. Die Bäume wachsen um Stacheldraht herum, um Steine, um abgebrochene Sägeblätter, sie schlucken das alles einfach. Einmal hat sie eine Geschichte eines Holzfällers gehört, der tief in einem Baum einen Zahn fand. Früher war sie nicht so vergiftet in ihrem Denken. Wenn sie an die Toxine denkt, die sich nach vielen Jahren nachlässiger Ernährung in ihrem Körper angesammelt haben, an den Groll, der in fünfzehn Jahren Ehe stetig angewachsen ist, an die Hautstreifen und die Krampfadern, die zwei Schwangerschaften hinterlassen haben, von denen nur eine erfolgreich war, dann glaubt sie, dass das Innere ihres Körpers eine Geschichte erzählen muss wie ein Baum. Würde sie sich einen Knochen brechen, dann würde der vielleicht aussehen wie die Innenseite eines Kaffeebechers – überzogen von Linien, gesprenkelt mit braunen Flecken.

Sie läuft auf Kiesbanketten und sie läuft auf hügeligen Fahrradwegen und sie läuft auf Landstraßen. Der Tunnel der Bäume öffnet sich – unterbrochen von Rechtecken aus braunem Gras, die enden in Veranden voller Kürbisse und Strohballen – und an einer schmalen Asphaltstraße beginnt plötzlich ein Fußweg, und auf ihm läuft sie, während die Häuser immer näher und näher zusammenrücken. Fünf Krähen hocken auf einem Zaun und starren sie an. Als sie vorbeiläuft, öffnet eine der Krähen ihre Flügel und stößt einen hohen, klagenden Schrei aus.

Ihre Füße hämmern gegen den Beton. Sie hat einmal gelesen, dass ihr Knie bei jedem Laufschritt das Achtfache ihres Körpergewichts absorbiert. Das wären über vierhundert Kilo. Das erstaunt sie, die Tausende von Kilo, die sie ihrem Körper bei jedem Lauf zumutet, die Widerstandskraft ihres Körpers. Es vermittelt ihr ein Gefühl der Macht. Nicht wie ihr Job, ihre Ehe, in denen sie sich manchmal vorkommt wie eine Puppe aus transparentem Plastik, so substanzlos, dass man durch sie hindurchsehen kann.

Es gab natürlich eine Zeit, da sie sich anders fühlte, sich am lebendigsten fühlte, wenn sie mit Justin zusammen war. Sie tat dann gern so, als wäre sie in der tintigen Umklammerung eines der Gedichte, die er ihr im College vorlas, in dieser Zeit, als die Welt definiert war von Lachen und freudvollem Stöhnen, Bars und Cafés, Reden und Lesen bis tief in die Nacht, gemeinsamem Duschen und gegenseitigem Haarewaschen. Aber das war früher.

Dann kam eine Zeit, in der sie früh einschliefen und beim Abendessen fernsahen. Und es gab Dinge, bei denen sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Wie er die Musik aus dem Radio mitsummte. Wie er immer wieder vergaß, die Lüftung anzustellen, so dass sie dastehen und den Gestank seiner Scheiße einatmen musste, wenn sie sich schminkte. Wie er darauf bestand, die Zeitung in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Wie sein Schnarchen als leises Tuckern anfing und sich dann in ein kehliges Röhren verwandelte, wie von einem Boot mit Außenbordmotor, das von einem Dock ablegt und ins offene Wasser hinausfährt. Die Bücher in ihrem Arbeitszimmer haben sich verändert: Aus einer bunten Mischung aus Sylvia Plath und Kate Chopin und Danielle Steele ist ein Handapparat reiner Fachliteratur geworden, Ernährung fürs Leben, Ballaststoff-Diät, Was man erwarten kann, wenn man in freudiger Erwartung ist, nichts Lustiges oder Bedeutungsvolles mehr.

Die Romantik, davor das Wichtigste, wurde zum Unwichtigsten. Die Romantik gehörte zu ihrem egoistischen Teil, dem Teil, der auf die eigene Gier reagierte, der sich fütterte und nicht andere. Ehe, Kinder: Sie ließen sie immer mehr nach außen blicken anstatt nach innen. Es war, als hätte sie, lange bevor sie das Baby verlor, sich selbst verloren. Die alte Karen – die sie noch gelegentlich in einem Foto entdeckte, auf dem sie Zigarettenrauch durch die Lippen blies oder in einem roten Bikini auf einem Badetuch lag – war im Lauf der Jahre immer mehr geschrumpft, wurde ersetzt durch jemanden, der anderen diente. Sogar in der Arbeit, wenn sie Mädchen beriet, die sich den Finger in den Hals steckten, oder Jungs, die ganze Tüten Kartoffelchips auf einmal verdrückten, war sie selbstlos, ließ zu, dass sie sich in deren Leiden verfing und ihr eigenes vernachlässigte.

Aber in letzter Zeit findet sie – durch das Laufen, bei dem sie Schweiß und Fett verliert, die sich anfühlen wie Jahre angehäuften Gifts, so dass ihr Körper sich leichter, beinahe schwebend anfühlt – wieder zu sich, stürzt sich wieder gierig in die Welt, wie sie es vor vielen Jahren an der Sprungbrücke tat.

Die Sprungbrücke war eine Eisenbahn-Hängebrücke, die in der Nähe ihrer Highschool über den Fluss führte. Der Geruch von Öl und Formaldehyd stieg von den Schwellen hoch, wenn sie und ihre Freundinnen fünfzehn Meter über dem Wasser daraufstanden. Sie zogen sich bis zur Unterwäsche aus, und schlotternd und mit Gänsehaut standen sie auf den Holzbalken, krümmten die Zehen über den Rand und riefen einander zu: »Du zuerst« und »Nein, du zuerst«.

Karen weiß noch gut, wie sie über den Rand trat, der Wind ihr in den Ohren brauste, der Fluss ihr entgegenraste, wie sie sich schwerelos fühlte, kurz bevor ihr Körper durch die Wasseroberfläche stieß. Sie presste dann die Füße fest zusammen, um schmal wie eine Nadel so tief zu tauchen, dass ihre Zehen den schlammigen Grund berührten, ohne zu wissen, was da unten war, und ohne sich darum zu scheren. Einmal schaffte sie es bis ganz nach unten und spürte, wie der kalte Schlamm plötzlich an ihren Zehen saugte. In der grau-grünen Dämmerung öffnete sie die Augen und sah direkt neben sich einen abgebrochenen Betonblock, aus dem Stahlstangen ragten. Sie lachte bei diesem Anblick, es erregte sie, wie lebendig sie war, und ihr Lachen stieg in Form einer schwabbelnden Blase an die sonnenhelle Oberfläche des Flusses.

Das fällt ihr jetzt wieder ein, da ihr dieser altvertraute Geruch in die Nase steigt, da sie sich den Nord-Süd-Gleisen nähert, die Bend zerteilen wie ein Reißverschluss. Sie ist noch fünfzig Meter entfernt, als das Signal anfängt zu blinken und die Schranken sich senken. Sie läuft weiter und schaut die Gleise entlang und sieht einen Frachtzug, eine lange Stahlschlange, auf sie zukommen. Einen Augenblick überlegt sie, ihm zuvorzukommen und über die Gleise zu sprinten – aus demselben Grund, warum sie damals von der Brücke in den Fluss sprang, wegen der Erregung und dem Gefühl der Gefahr. Sie spurtet los und überlegt es sich dann anders, bremst und bleibt kurz vor den Gleisen auf der Stelle laufend stehen. Die Pfeife ertönt. Der Boden unter ihr fängt an zu vibrieren. Sie spürt ihren Puls im Nacken pochen.

Auf der anderen Seite der Gleise hält ein schwarzer BMW mit einem Kennzeichen, auf dem THE MAN steht. Der Fahrer hupt, und sie schaut genauer hin, späht durch die getönte Windschutzscheibe und sieht ein Gesicht, das sie kennt – weiße Zähne, weiße Haare – Bobby. Neben ihm sitzt noch jemand, eine mächtige Gestalt, die größer ist als der Beifahrersitz. Das Fenster auf der Fahrerseite fährt herunter, und Bobby winkt ihr zu. Sie erwidert den Gruß und schaut sich dann um: Die Straße hinter ihr ist verlassen bis auf einen weißen Pick-up, der mit leerlaufendem Motor und verwehender Abgasfahne zwei Blocks hinter ihr steht.

Der Zug kommt näher. Die Pfeife kreischt noch einmal und die Signalglocke klirrt und die Räder rattern. Bobby streckt den Kopf aus dem Fenster und schreit etwas, das sie nicht versteht. Und dann ist die Lokomotive zwischen ihnen und donnert vorbei und zieht unzählige, hoch mit Stämmen beladene Plattformwagen hinter sich her. Die Stämme sind entrindet, eine fleckige Mischung aus Braun und Weiß, wie ein ganzer Wald, der zu Zahnstochern zusammengestutzt wurde. Ein kräftiger Windstoß drückt vom Zug her und wirft sie einen Schritt zurück; er riecht nach Öl und Harz. Staub und Schlackesand wird hochgewirbelt und sticht ihr in die Haut. Sie hört auf zu joggen und steht auf flachen Füßen da und spürt den Boden erzittern, spürt die Kraft des Zugs ihre Beine hochsteigen, ihr Herz antreiben. Zwischen den Waggons hindurch sieht sie immer wieder Bobby, der sich noch immer aus dem Fenster lehnt und lächelnd zu ihr herüberschaut.

Und dann ist der Zug vorbei, sein Rattern verklingt, wie eine Werkzeugkiste, die eine Kellertreppe hinunterfällt. Und das Licht hört auf zu blinken und die Schranken heben sich wieder und die Welt wirkt plötzlich so still, das leise Schnurren von Bobbys Auto ist das einzige Geräusch zwischen ihnen. Sie setzt sich wieder in Bewegung, und als sie die Gleise überquert, macht ihr Herz plötzlich einen Satz, als würde noch ein Zug auf sie zurasen und sie auf die Gleise schmieren. Aber nichts passiert.

Als sie an dem Auto vorbeiläuft, schaut sie durchs offene Fenster und sieht den Indianer drin sitzen, den Indianer aus Warm Springs – Tom Bear Claws –, den Kerl, der jedes Jahr als Gastdozent in Justins Klasse kommt, den Kerl, der regelmäßig in den Zeitungen gegen Bobbys Erschließung des Echo Canyon wettert, den Kerl, über den sie und Bobby beim Mittagessen gesprochen hatten. Sie hat das völlig vergessen, erst jetzt, da sie die beiden zusammen sieht und beide sie anstarren, fällt es ihr wieder ein. »Soll ich dich mitnehmen?«, fragt Bobby.

Sie hält kurz inne. »Nee.«

»Schön, dich zu sehen.«

»Ja«, ruft sie über die Schulter, bereits an ihm vorbei.

Sie will sich beeilen, aber seine Stimme folgt ihr, holt sie ein. »Siehst gut aus.«

Sie schließt die Augen und läuft schneller, und während ihre Füße den Boden peitschen und sie vorwärtstreiben, bildet sie sich ein, sie kann die Kraft des Zugs noch immer in sich spüren, wie ein zweites Herz, das asynchron zu ihrem eigenen schlägt.