KAREN
Heute Abend grillt sie Steaks. Sie meint, ihr Mann sollte das machen – sie meint, er sollte eine ganze Reihe Sachen machen, Gewichte stemmen etwa oder bei Footballspielen schreien und tropfende Hähne reparieren. Schließlich sind das Sachen, die Männer tun. Aber er ist nicht sehr geschickt mit den Händen und er hat keine Zeit fürs Fitnessstudio und der einzige Sport, für den er sich ein wenig interessiert, ist Fußball. Sie weiß nicht, was das richtige Wort für ihn ist? Zahm? Ist das vielleicht der Grund, warum er nicht viele Freunde hat?
Wann immer sie ihn bittet zu grillen, stellt er sich blöd, fummelt an den Knöpfen herum und lässt die Grillzange fallen und stöhnt laut, sagt, er wisse die richtige Temperatur für Schweinefleisch nicht mehr, fragt, ob er alle Brenner anschalten soll und wie hoch. Das Fleisch ist immer trocken und zäh, wenn er damit fertig ist. Schon seit Langem bittet sie ihn nicht mehr um Hilfe, und jetzt steht sie auf der hinteren Veranda vor dem dreiflammigen Ducan Edelstahlgrill, in dem die Steaks brutzeln und zischen und der Rauch aufsteigt und sich mit dem Rauch aus ihrem Kamin vermischt. Der Abend ist kühl, und Justin hat einige Kiefernscheite von dem großen Stapel Holz, den sein Vater Anfang der Woche gehackt und aufgeschlichtet hat, in die Feuerstelle gelegt.
Sie verwendet eine trockene Mischung aus Knoblauch, Salz, schwarzem Pfeffer und Zimt, dessen Süße die Schärfe der anderen Gewürze austariert. Sie legt die Steaks – große Porterhouse-Scheiben von einem grasgefütterten Angus-Rind, das sie schlachten ließen, um damit den Gefrierschrank in ihrer Garage zu füllen – für zehn Sekunden auf den Grill und dreht sie dann, um rundum die Poren zu schließen. Sie dreht die Flamme des mittleren Brenners ab und schließt den Deckel, so dass aus dem Grill eine Art Konvektionsofen wird. Hitzewellen steigen in die Höhe, aber sie tritt nicht zurück, auch nicht, als ihre Haut sich straff anfühlt und sie meint, sie wird gleich platzen, weil ihr Inneres größer ist als das Äußere.
Als die Steaks fertig sind – sie merkt das, indem sie nur mit der Gabel daraufdrückt und den Widerstand des Fleisches spürt –, legt sie sie auf einen Teller und trägt sie ins Haus, wo ihr Mann am Küchentisch Aufgaben korrigiert und ihr Sohn in der neuesten Ausgabe des National Geographic liest.
»Köpfe hoch, Münder auf«, sagt sie und stellt den dampfenden Teller neben die hölzerne Salatschüssel voller Spinat und Romanasalat und das in ein Tuch gewickelte selbstgebackene Mehrkornbrot. Alles ist organisch. Rinderhormone verursachen Krebs und lösen bei Mädchen schon mit neun Jahren die Periode aus. Pestizide im Salat verursachen Krebs und Autismus. Die Konservierungsmittel in Croutons verursachen Krebs. Die Konservierungsmittel im Salatdressing auf Mayonnaise-Basis verursachen Krebs und die Transfettsäuren darin verursachen Herzkrankheiten. Sie hat Newsletter wie The Daily Green abonniert und RSS-Feeds von Safemama.com. Sie kauft vorwiegend im Bioladen von Bend ein. Sie bemüht sich, vorwiegend lokale Produkte zu kaufen. Sie glaubt, dass sie sich gut um ihre Familie kümmert und Schaden von ihr fernhält. Dafür erntet sie keinen Dank. Ihr Mann jammert wegen des Geldes, das sie für Essen ausgibt, und ihr Sohn jammert, dass er einen McDonalds-Burger und eine Mountain-Dew-Limonade will.
Jetzt schauen die beiden zu ihr hoch. Ohne ein Wort zu sagen, füllen sie ihre Teller. Justin teilt seinen in drei gleich große Abteilungen auf. »Ich will nicht, dass die einzelnen Sorten sich in die Quere kommen«, so hat er das einmal beschrieben – ihr Ehemann, der jetzt einen Stift in einer Hand und eine Gabel in der anderen hat, Salat kaut und gleichzeitig mit grüner Tinte eine Bemerkung an den Rand eines Schüleraufsatzes schreibt. Es ist still am Tisch, bis auf die Geräusche ihres Kauens und das Klappern und Sägen des Bestecks. Im Kamin platzt ein Harzeinschluss, und einen Augenblick schauen sie alle dorthin, wo orangene Flammenzungen über halb geschwärztes Holz lecken, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Tellern zuwenden.
Als Karen in ihr Steak schneidet, ist es innen dunkelrot wie eine Pflaume, genau so, wie sie es mag. Bei einem durchgebratenen Steak steckt das verkohlte Äußere voller Karzinogene. Blut sammelt sich auf ihrem Teller und sie tunkt es mit Brot auf. Bevor sie es in den Mund steckt, sagt sie: »Will denn niemand was reden? Über irgendwas?«
Justin kaut langsamer und leckt sich die Lippen. »Worüber willst du denn reden?« Zwischen seinen Zähnen steckt Spinat.
»Überrasch mich.«
Justins Blick wandert zum Fenster, wo im verlöschenden Licht die Schatten dunkler werden. »Mir fällt überhaupt nichts ein.« Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem Salat zu. »Tut mir leid.«
Graham legt seine Gabel weg und wischt sich mit seiner Serviette das Gesicht. »Dave Jasper hat in der Schule einen Verweis gekriegt.«
»Wegen was?«, fragt Justin.
»Weil er Waschbären getötet hat.« Sein Blick zuckt zwischen ihnen hin und her. »Sein Bruder fährt in seinem Pick-up raus, über Feldwege und in Alfalfa-Felder, sein Bruder und die Freunde seines Bruders, und sie nehmen Dave mit. Sie richten den Suchscheinwerfer auf die Waschbären, und die werden ganz starr, und sie springen aus dem Auto und töten sie mit Baseballschlägern.«
Karens Hände fallen auf den Tisch und lassen das Geschirr klirren.
Graham redet immer schneller; ihre Entrüstung regt ihn an, das merkt seine Mutter, wie ein Junge, der mit Eidechsen und Würmern spielt, mit Sachen, die sie zum Kreischen bringen. »Im Werken hat Dave diesen Schläger mit Nägeln darin gebastelt. Der sah total mittelalterlich aus, und Mr. Steele hat ihn gefragt, wozu er das macht, und Dave hat es ihm gesagt und deshalb bekam er den Verweis.«
»Das ist ja widerlich! Das ist ja wie ein Serienmörder am Anfang seiner Karriere! Du hast doch gehört, dass die als Jungs Tiere gequält haben.« Ihre Stimme klingt beinahe amüsant entsetzt, aber als sie immer strenger wird, verschwindet das Lächeln von Grahams Gesicht. »Ich glaube, du solltest dich von diesem Jungen, diesem Dave fernhalten –«
»Karen.« Justin bewegt leicht seine Hand. »Du solltest nicht überreagieren.«
»Ich glaube nicht, dass ich überreagiere. Ich glaube nicht, dass ich überreagiere.«
»Das ist verstörend, ich weiß. Aber Jungs machen eben verrückte Sachen. Ich habe auch verrückte Sachen gemacht.«
Das ist köstlich. Ihr Mann, der sie schimpft, wenn sie ihre Schuhe draußen stehen lässt, der seine Socken zu ordentlichen kleinen Bällen zusammenrollt, denkt, er ist ein wilder Mann. Sie verschränkt die Arme und schaut ihn mit sarkastischem Grinsen an. »Was denn zum Beispiel?«
»Frösche vor Autoräder werfen. Mit dem Luftgewehr auf Eichhörnchen und Hasen schießen. Als ich in der High School war, habe ich Murmeltiere für Geld umgebracht. Rancher zahlten uns zwei Dollar für ein Murmeltier. Wir hatten die ganze Ladefläche eines Pick-ups voll. Ich will damit nicht sagen, dass ich mit Freuden daran zurückdenke. Ich will damit nur sagen, dass es in der Natur von Jungs liegt.« Er hat sein Messer in der Hand. Die Spitze zeigt auf sie.
Graham trinkt einen Schluck Milch und sagt: »Ich hatte dieses – ich –«
»Ich will damit sagen, dass Dave Jasper was Blödes gemacht hat, aber eines Tages wird Graham wahrscheinlich auch was Blödes machen, weil Jungen eben blöde Sache machen, und du willst doch nicht, dass die Leute ihn für einen Spinner halten.«
»Graham ist kein solcher Junge.«
»Ich hatte letzte Nacht einen Traum.« Graham schreit jetzt beinahe. Karen verstummt und wendet sich ihm zu, versucht zu lächeln, schafft es aber nicht ganz. Aber sie wird ihm zuhören. Schließlich versucht er, ihr Abendessen mit einem neuen Thema zu retten. »Es war ein verrückter Traum.«
»Lass hören«, sagte Karen.
»Ich habe geträumt, dass wir auf die Jagd gehen.« Er nickt seinem Vater zu. »Wenn wir in den Echo Canyon fahren. Ich habe geträumt, dass ich angeschossen wurde. Irgendein Mann jagte mich durch den Wald und ich wollte ihm davonlaufen, aber er war immer da, an jeder Ecke. Irgendwann habe ich nach unten geschaut und gesehen, dass ich nackt bin.« Er wird rot, als würde er sich vorstellen, dass sie sich ihn ohne Kleidung vorstellen. »Und mein Körper war ganz mit Fell bedeckt. Nicht mit Haaren. Mit Fell.«
»Das klingt eher nach deinem Opa.« In Karens Witz schwingt eine gewisse Schärfe mit. Ihr gefällt es nicht, ganz und gar nicht, dass ihr Sohn ein Wochenende lang mit seinem Großvater unterwegs ist. Sie glaubt, dass er mehr ist als nur ein schlechter Einfluss, jemand, der an allem etwas auszusetzen hat, der sich über organisches Essen und fairen Handel und liberale Weicheier lustig macht, jemand, der über Blut und Waffen mit lächelndem Vergnügen spricht. Er ist so, und das ist schlimm genug, aber er hat auch den Hang zu dieser Art von Verrücktheit, die jemanden mit einem nägelbestückten Baseballschläger durch die Nacht streifen lässt. Sie traut ihm nicht. Und in seiner Gesellschaft traut sie auch ihrem Mann nicht, der sich so leicht einschüchtern lässt.
Niemand lacht über ihren Witz. Grahams Stimme klingt eher noch ernster, als er sagt: »Und schließlich hat er mich erwischt.« Er zeigt auf die Stelle, direkt unter seiner linken Brust. »Beim Aufwachen hat’s mir da wehgetan.« Er reibt die Stelle. »Es tut immer noch weh.«
In diesem Augenblick fällt etwas durch den Kamin und ins Feuer. Ein schreckliches Kreischen ist zu hören, als würde man einen Nagel mit Kraft über Metall ziehen. Dort drin bewegt sich etwas, etwas Schwarzes, das kurz von Flammen umringt ist – eine Eule, wie Karen erkennt, eine mächtige Ohreule, fast so groß wie ein Kleinkind.
Sie hat kaum Zeit, dieses scheinbar Unmögliche zu begreifen, als die Eule die Flügel ausbreitet und hastig mit ihnen schlägt und sich dann in die Luft erhebt. Die Klauen sind geöffnet und der Schnabel ist geöffnet und sie flattert kreischend durchs Wohnzimmer, stößt gegen Wände und Fenster, mit schwelenden Flügeln, die eine Rauchfahne durch die Luft ziehen wie den Kondensstreifen eines Jets, sie sucht einen Fluchtweg. Auf dem Kaminsims steht ein altes Hochzeitsfoto, und die Eule stößt es herunter, und es zerbricht auf dem Boden. Die Eule fliegt schnurstracks aufs Esszimmer zu. Justin stößt einen Schrei aus, der dem der Eule in nichts nachsteht, und Graham kippt mit seinem Stuhl nach hinten und Karen duckt sich und rennt zur Haustür und reißt sie auf und keine zehn Sekunden später fliegt die Eule zur Tür hinaus und verschwindet in den Abend.
Karen drückt sich die Hand ans Herz, um es zu beruhigen, denn sein Schlagen fühlt sich an wie ein Hammer in einem Tuch. »O Mann.« Sie schließt die Tür und lehnt sich dagegen.
Graham stellt zuerst sich und dann seinen Stuhl wieder auf die Beine. Er öffnet und schließt den Mund, scheint aber nicht zu wissen, was er sagen soll. Das Haus riecht, als würde es brutzeln. Ein paar Federn – klar und leuchtend, die Farbe ist aus ihnen herausgebrannt – segeln durch die Luft wie verlorene Wespenflügel.
»Was war denn das gerade?«, fragt Karen. Sie atmet schwer, als wäre sie eben vom Laufen zurückgekehrt.
Justin schüttelt den Kopf, als wisse er es nicht, doch er sagt: »Als ich ein Junge war, sind oft Stare durch den Kamin gefallen. Sie mochten den Aufwind. Seine Wärme. Manchmal wurden sie high von den Dämpfen und dann ohnmächtig.« Er steht auf, geht zum Kamin und hebt das heruntergefallene Foto wieder auf – er und Karen lächelnd im Fond einer Limousine –, das Glas aus dem Rahmen liegt jetzt in Splittern auf dem Hartholz, reflektiert das Feuer und scheint ein orangenes Leuchten zu verströmen. »Schätze, wir sollten uns eine Kaminabdeckung besorgen.«
»Warum haben wir keine? Hättest du nicht schon längst eine montieren sollen? Du weißt, dass wir keine haben, also ist dir so was doch sicher schon mal in den Sinn gekommen.« Sie kann sich nicht bremsen. Ihr Schock hat sich um die eigene Achse gedreht wie ein schwarzer Hund und ist zu Wut geworden, die noch schlimmer wird, als er kaum auf das aufgeregte Sirren ihrer Stimme reagiert, das zwischen ihnen aufsteigt wie der Rauch der Eule. »Ernsthaft, Justin«, sagt sie, geht auf ihn zu, reißt ihm das Foto aus der Hand und stellt es grob wieder auf den Kaminsims. »Das Fensterbrett hat Trockenfäule. Die Steckdose im Bad funktioniert nicht. Unter der Traufe hängen Bienennester. Eine der Verandastufen wackelt.« Ihre Stimme bricht fast vor Erregung. Sie hasst es, wenn sie die Kontrolle über sich verliert, aber das passiert in letzter Zeit immer häufiger, ihr Temperament geht mit ihr durch.
Manchmal kommt sie sich vor wie zwei Frauen. Die eine ist Mutter und Ehefrau. Und nach Grahams allabendlichem Bad – nachdem er sich die Zähne geputzt und den Schlafanzug angezogen hat und ins Bett geklettert ist – ruft er nach seiner Mutter, und sie geht den Gang hinunter und bleibt in der Tür zu seinem Zimmer stehen. Die Decke bis zum Kinn hochgezogen liegt er da. Sobald er sie sieht, kneift er die Augen zusammen und sein Mund zittert, weil er ein Lächeln unterdrücken muss, denn er will so tun, als würde er schlafen. Langsam geht sie zu seinem Bett – langsam, weil jeder Schritt ein Beben seiner Brust oder ein Kichern bei ihm auslösen könnte – und zieht – wieder langsam – die Decke von seinem Körper, bis er völlig bloß ist. Jetzt lachen sie beide. Dann packt sie am Fußende des Betts die Decke mit beiden Händen und schüttelt sie hoch, so dass sie einen Augenblick in der Luft schwebt und dann auf seinen Körper sinkt. Und dann ist es Zeit für den Kuss – einen für jedes Auge, die Nase, den Mund.
Letztes Weihnachten hat sie ihm eine Digitalkamera geschenkt. Seitdem sieht man ihn selten ohne sie, das Futteral trägt er immer an den Gürtel geklemmt. Er studierte das Handbuch, als müsste er eine Prüfung darüber ablegen – markierte Seiten mit Eselsohren, unterstrich Absätze. Er machte Fotos von Sachen, die sie merkwürdig fand. Ein Knäuel feuchter Haare im Abfluss. Ein totes Eichhörnchen am Straßenrand. Sein großer Zeh, den er sich unabsichtlich am Couchtisch angestoßen hatte, so dass der Nagel sich zu einem blauen Halbmond verfärbte. Er redete ernsthaft über Blende, Megapixel, schlechte Ausleuchtung. Sie fand ihn so lustig, er war eigentlich kein Junge, sondern ein lustiger kleiner Mann. Als sie ihn fragte, was ihm am Fotografieren so gefalle, rieb er sich das Kinn, völlig ernst, ohne zu merken, wie theatralisch er wirkte. Viele seiner Bewegungen und Sprechmuster waren so, als würde er eine Schau abziehen, den Erwachsenen spielen. Schließlich sagte er, es gefalle ihm, wie die Kamera die Zeit anhalte. »Es ist wie eine Superkraft. Ich kann etwas für immer einfrieren, genau so, wie es war. Weißt du, was ich meine?«
Sie wusste es. Hinten in ihrem Kleiderschrank hatte sie einen Schuhkarton. Darin war Krimskrams aus ihrer Vergangenheit – ihre Zahnspange, gepresste Blumen, die Bleistiftzeichnung eines Pferds, Liebesbriefe von Jugendfreunden, ein blaues Band von einem Laufwettbewerb und einige Fotos, darunter ein Schnappschuss von ihr kurz nach Abschluss der Highschool. In diesem Sommer stieg sie mit ein paar Freundinnen auf die South Sister. Das Foto zeigt sie auf dem Gipfel, sie sitzt, inmitten der Wolken, auf einem Basaltbrocken. Sie schaut nicht direkt in die Kamera, sondern hinüber zu der zerklüfteten Silhouette der Cascades. Sie lächelt nicht, aber sie sieht glücklich, zufrieden aus, und sie starrt konzentriert in die Ferne, als wolle sie dorthin gehen und müsse sich nur erst darauf vorbereiten.
Hier war also die Frau, die ihren Sohn jeden Abend ins Bett brachte, die Plätzchen buk und sich im Garten die Knie schmutzig machte –, und dann war da noch diese andere Frau, die Frau auf dem Berg, die einzige Karen, die ihr in letzter Zeit nicht mehr aus dem Kopf ging. Jahrelang hatte sie diese Person vernachlässigt, sie in ein dunkles Loch abgeschoben, hinter Mauern versteckt, die mit Make-up und Kasserollen und Waschmittel verputzt waren.
Das war mal ich, dachte sie, als sie auf dem Bett saß und das Foto betrachtete – oder manchmal ungläubig: Bin ich das?
Zu ihr gehört diese Wut, zu der Frau, die auf Berge steigt, die will, dass ihr Leben etwas zählt, etwas bedeutet, und in den letzten Jahren ist sie allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass dem nicht so ist.
Jetzt geht ihr Mann an ihr vorbei, durchs Wohnzimmer und den kurzen Gang zum Esszimmer, wo Graham nun wieder sitzt und ihnen zusieht. Justin zieht seinen Stuhl heran und hebt die Serviette vom Boden auf. »Ich habe so viel zu tun, dass ich zu meiner eigenen Arbeit nicht mehr komme. Wenn es dich stört, ruf jemanden an.«
Sie folgt ihm in den Gang und bleibt dort zwischen den beiden Zimmern stehen. »Meinst du nicht, dass das deine Aufgabe ist?«
»Ich habe dir doch gesagt, ich habe zu viel zu tun.«
»Jemanden anrufen? Du hast zu viel zu tun, um jemanden anzurufen?«
»Nein. Ich dachte, du meinst –« Er schließt die Augen und atmet einmal tief durch. »Wenn du willst, dass ich jemanden anrufe, dann rufe ich eben jemanden an.«
»Ich will, dass du jemanden anrufst.«
»Okay. Dann mach ich’s.« Er hat die Augen noch immer geschlossen und senkt jetzt den Kopf, als würde er plötzlich niedergedrückt. »Lass uns das Thema wechseln, okay?«
»Okay«, sagt sie und meint es wirklich so. Sie will nicht wütend sein. Vor allem vor Graham nicht. Sie betritt das Esszimmer, geht zu ihrem Sohn, legt ihm die Hände auf die Schultern und drückt. »Alles okay.« Er legt den Kopf in den Nacken, um zu ihr hochzusehen, und sie streicht ihm mit der Hand übers Gesicht, das sich zu verändern scheint, sooft sie ihn ansieht. Als er noch kleiner war, lief er in seinen Wollsocken durchs Haus und seine Fingerspitzen sprühten Blitze – die sie am Ellbogen, am Knie trafen –, und eines Tages erschreckte er sie im Bad so sehr, dass sie zusammenzuckte und ihn mit dem heißen Lockenstab an der Stirn traf. Die Narbe hat er noch immer, als kleine Erinnerung an den Augenblick, knapp über der linken Augenbraue. Es war ein Versehen – das sagte sie ihm immer wieder – es war ein Versehen. Aber sie hatte ihm wehgetan, und wenn man dem eigenen Kind wehtut, ist es egal, ob es Absicht ist oder nicht. Die Verletzung ist da, wie aufgeprägt, ihretwegen. Das falsche Wort oder eine erhobene Hand sind nichts anderes als die Giftstoffe in so vielen Lebensmitteln, die sich in ihm einlagern und ihm schaden. Jetzt berührt sie die Narbe und küsst sie. »Alles okay.«
Sie entdeckt etwas Graues in seinen Haaren. »Du hast da was.« Sie sucht das Etwas mit den Fingern. Als sie sieht, dass es eine Feder ist, schnippt sie sie weg. »O Mann«, sagt sie und streckt die Zunge heraus. »Ich hasse Vögel. Ich hasse sie, seit ich diesen Vogel-Film gesehen habe – wie heißt der gleich wieder?«
»Die Vögel?«, fragt Justin.
»Genau den.« Beim Gedanken an die Eule schüttelt es sie. »Gott. Natur.«