BRIAN
Er trägt seine Fellmaske und sonst nichts, als er zum Wandschrank in der Diele geht und seine Hanteln herausholt. Er weiß, dass der Schlaf noch lange auf sich warten lässt. Und er weiß, wenn das Gift sich in ihm aufbaut, sind die Eisen die beste Lösung. Er hat das beim Militär gelernt, was für eine gute Therapie das hirnlose Gewichtheben ist. Er hebt die Hanteln hoch und legt sie wieder ab, er liebt das schwere Atmen, das Klacken, wenn er noch eine Scheibe auf die Stange steckt, die blendend rote Explosion, wenn in seinem Auge ein Kapillargefäß platzt.
Die Hanteln wiegen jeweils vierzig Pfund und er bewegt sie auf und ab, um seinen Bizeps zu trainieren. An Hals und Unterarmen treten gezackt die Adern hervor. Sein Atem unter der Maske geht haa-hiiee, haa-hiie.
Im Fernseher läuft eine dieser Sendungen, in denen arme Familien ihr Heim zerlegt und nach ihren Bedürfnissen neu aufgebaut bekommen. Im Augenblick läuft der Moderator, ein hyperaktiver Mann mit blond gebleichten Haaren, mit einem Megafon durch das verwüstete Haus und schreit die Bauarbeiter mit fröhlicher, psychotischer Stimme an: »Wir müssen uns beeilen, Leute. Wir haben nur zwei Tage, um das Leben dieser Familie völlig zu verändern.«
Er macht Liegestützen. Er macht Frontdrücken im Stehen. Er geht in die Knie und springt hoch und macht Wadendehnen. Er macht Trizepsstrecken und Schulterpressen, gefolgt von Frontheben und seitlichem Heben, und die Gewichte werden immer schwerer, die Handflächen werden so rot wie die Spitze seiner Erektion, die ihm dabei wächst.
Er holt sich ein Bier. Und dann noch eins. Er trinkt zwischen den Übungen und das Wohnzimmer versinkt in einem traumhaften Nebel. Als er die Hanteln schließlich absetzt, ist die Sendung fast vorbei. Die Familie – sechs Kinder und eine alleinerziehende Mutter mit Krebs – weint, als sie ihr neues Haus besichtigt. Es gibt einen Plasma-Großbildschirm und ein in die Wand eingelassenes Aquarium und eine Rutschstange wie bei der Feuerwehr, die vom Obergeschoss nach unten führt. Jeder hat ein eigenes Schlafzimmer. Der Moderator hat der Mutter den Arm um die Schultern gelegt, und sie lächelt, während ihr die Tränen über die Wangen rinnen. »Das ist ein neuer Anfang«, sagt sie. »Das ist das Leben, das ich mir immer erhofft habe.«
Brian schaltet den Fernseher aus und mustert sein Spiegelbild im dunklen Bildschirm – die jetzt mit Blut gefüllten Muskeln wie gefangen in der Haut. Dann geht er ins Schlafzimmer, um das restliche Kostüm anzuziehen.
Die Fahrt dauert zehn Minuten. In der Stadt werfen die Laternen in unregelmäßigen Abständen müde Lichtkreise, die jedoch bald der Dunkelheit der Straßen in den Außenbezirken weichen. Er muss sich konzentrieren, um die Räder auf der Straße zu halten. Mehr als einmal schlittert er aufs Bankett, und der Kies, der im Radkasten klappert, erschreckt ihn so, dass er das Steuer herumreißt. Er parkt ungefähr hundert Meter entfernt, auf derselben Forststraße wie beim letzten Mal. Als er aussteigt und durch den Wald auf das Haus zugeht, hat er es nicht eilig und er wirft auch keine ängstlichen Blicke über die Schulter. Die Nacht ist für ihn vertraute Umgebung. Und in dem Kostüm kommt er sich unsichtbar vor.
Das Wohnzimmerfenster ist in wässrig blaues Licht vom Fernseher getaucht. Er schleicht sich hin und späht hinein. Zuerst findet er sie nicht. Er sucht an den üblichen Stellen nach ihr, auf der Couch, dem Zweisitzer. Dann fällt ihm eine Bewegung ins Auge, und er richtet sich ein Stückchen auf und sieht sie auf dem Teppich, wo sie Klappmesser macht. Sie trägt einen schwarzen Sport-BH und eine Yoga-Hose. Sie schaut sich eine Kochsendung an, eine Art Wettbewerb mit Leuten, die in weißen Kochjacken mit Messern hantieren. Ihr Gesicht ist verzerrt, als hätte sie Schmerzen, aber sie hört nicht auf, rastet nicht, zieht weiter mit ausgestreckten Armen die Knie an die Brust. Brian sieht zu, wie sie mindestens fünfzig macht, bevor sie sich auf den Rücken plumpsen lässt.
Brian duckt sich hinter einen Strauch, als ein Auto vorbeifährt. Dann steigt er auf die Veranda hoch, versucht, so leise aufzutreten, wie es nur geht. Er erwartet, dass die Tür verschlossen ist, was sie auch ist, deshalb zieht er den Schlüssel aus der Tasche und schiebt ihn ins Schloss, das sich mit leisem Klicken öffnet. Und dann ist er einfach so im Haus, steht in einer kurzen Diele mit einer Garderobe und einem Spiegel und derselben Ansammlung von Schuhen, die er schon einmal gesehen hat. Draußen fährt wieder ein Auto vorbei, das Licht seiner Scheinwerfer zuckt übers Haus und lässt den Spiegel aufblitzen. In diesem Augenblick bewegt sich Brians Spiegelbild vom Schatten ins Licht – die Maske auf seinem Gesicht wirkt plötzlich böse und knurrend –, und er schreit beinahe auf.
Stattdessen atmet er einmal tief durch. Und hat plötzlich Karens Geruch in der Nase: zitronig mit einem Hauch Schweiß. Es ist ein Geruch, für den er sich einen Geschmack vorstellt.
Bis auf die Küche sind alle Lichter ausgeschaltet. Direkt vor ihm öffnet sich in der linken Wand ein Durchgang zum Wohnzimmer. Er späht hinein und sieht sich die Einrichtung an: Bücherregale an den Wänden. Eine Couch mit einem Stapel Wäsche darauf und ein Zweisitzer mit einem Beistelltisch, auf dem eine ausgeschaltete Lampe steht. Der Fernseher in der Ecke. Und Karen auf dem Boden, wo sie mit schnellen Bewegungen noch eine Runde Klappmesser macht.
Sie liegt so, dass Brian in ihrem Rücken steht, er kann deshalb ins Zimmer treten, ohne gesehen zu werden. Bei jedem Klappmesser gibt sie ein leises, zufriedenes Grunzen von sich, und dieses Geräusch und die Geräusche der Kochsendung überdecken seine Schritte, als er durchs Zimmer geht und sich hinter den Zweisitzer duckt. Im trüben Licht des Fernsehers wirkt ihre Haut blass, wie die Innenseite eines Handgelenks. Brian stellt sich vor, dass er sich räuspert, um seine Anwesenheit zu melden. Er stellt sich vor, was dann passieren würde. Sie würde schreien und nach etwas greifen – nach einer Lampe vielleicht –, um ihm damit auf den Kopf zu schlagen, aber dann würde er seine Maske ausziehen, und sie würde »Oh« sagen, und er würde sagen: »Ja, ich bin’s«, und sie würde die Lampe wegstellen und ihn neugierig anschauen – ein bisschen ängstlich, ja, aber vor allem neugierig. Nachdem sie ihn gerügt und gesagt hätte: »Sie hätten klopfen sollen«, und nachdem er sich mit »Tut mir leid. Ich wollte Ihnen nur zuschauen. Ich schaue Ihnen gern zu« entschuldigt hätte, würde sie für sie beide einen Drink eingießen und bald darauf würde er sich zu ihr beugen für einen langen, süßen Kuss, aus dem etwas Gierigeres werden würde. Der Gedanke erregt ihn. Seine Erektion drückt schmerzhaft gegen die Hose. Er reibt sie kurz, um sie zu besänftigen.
Und dann klingelt das Telefon.
Zuerst denkt Brian, das Geräusch kommt aus dem Fernseher – das Zweitonklingeln klingt ähnlich wie die lokale Wetteransage von Z-21 – , aber als Karen nach der Fernbedienung greift und den Fernseher ausschaltet, duckt Brian sich gerade noch rechtzeitig hinter den Sessel. Karen springt vom Boden auf und stößt im Vorbeigehen gegen den Sessel. Er schaukelt, und Brian bremst ihn mit der Hand. Er versucht, den Atem anzuhalten und zu einem Teil des Mobiliars zu werden, als Karen direkt neben ihm auftaucht, im Halbdunkel über ihm steht.
Brian spürt brennende Flecken auf der Haut, ist sich ganz sicher, dass sie ihn sehen kann. Ihre Augen sind noch getrübt vom Licht des Fernsehers. Und sie bewegt sich jetzt durchs Wohnzimmer, durch den Durchgang und den Gang hinunter in die Küche, wo ihr Telefon steht.
Mit leisen Bewegungen schleicht Brian zur anderen Seite des Sessels und kauert sich wieder hin. Er hört ein Schaben, als sie das Telefon von der Anrichte nimmt, ein Klicken, als sie es aufklappt, und dann ihre Stimme, die sagt: »Hey, Rachel«, dann »Hat er das tatsächlich getan?« und dann Gelächter.
Brian fühlt sich plötzlich abgeschnitten, von ihr getrennt. Seine Erektion erschlafft. Die Wirkung des Biers verfliegt langsam, jetzt ist er nur noch müde. Er würde jetzt gern davonlaufen, nach Hause zurückkehren, kalt duschen und sich alleine ins Bett legen. Denn allein sollte er auch sein. Das Gelächter in der Küche geht weiter. Ihre Verbindung zu jemand anderem bedrückt ihn, gibt ihm das Gefühl, schlaff zu sein, irgendwie besiegt. Er weiß, er könnte sie nie so zum Lachen bringen.
Er steht auf und sieht dann auf der Couch die zusammengelegte Wäsche, ihre Unterwäsche in einem ordentlichen Stapel, einiges davon aus violetter Spitze. Er nimmt sich ein Teil und dann noch ein paar andere, eine Bluse, einen Rock, was gerade oben auf den Stapeln liegt, und verlässt das Zimmer, schleicht sich durch die Tür, poltert die Verandastufen hinunter und läuft zu seinem Auto.
In seiner Hast ist er unvorsichtig. Er rennt die Straße entlang anstatt durch den Wald. Sein Atem füllt seine Maske und verdrängt die Geräusche der Außenwelt, darunter auch das Motorengeräusch eines Pick-ups, das Knirschen der Räder, als er auf ihn zufährt. Ungefähr eine Sekunde, bevor er um die Kurve biegt, sieht er den Lichtschein, der immer heller wird. Und dann taucht der Pick-up dreißig Meter vor ihm auf, und er ist gefangen im blendenden Strahl der Scheinwerfer. Vielleicht ist es das Bier, das sich über ihn gelegt hat wie ein schwerer Mantel, auf jeden Fall reagiert er nicht schnell genug. Mitten auf der Straße steht er einfach da, einen Arm erhoben, um die Augen zu beschirmen, bis schließlich die Reifen quietschen und der Pick-up schaukelnd zum Stehen kommt. Erst jetzt schaltet sich sein Instinkt ein und er springt in den Wald.
Der Pick-up steht noch lange da, das sieht Brian, der jetzt in einiger Entfernung zwischen den Bäumen kauert und murmelt: »Blöd, blöd, so blöd.«