KAREN
Sie macht sich keine Sorgen um ihren Mann und ihren Sohn, tatsächlich nicht. Auch nicht, als ihr Anruf direkt an Justins Voice-Mail geht. Sie sind noch im Canyon, noch bei der Jagd, machen das Beste aus ihrem Wochenende. Er hat sie vorgewarnt, es kann sein, dass sie erst gegen Mitternacht zurückkommen. Die Sorge, die sie anfangs um Graham hatte, wurde vertrieben von der beruhigenden Einsamkeit der letzten beiden Tage.
Sie entzündet ein Feuer und zieht ein Sweatshirt an und kocht sich ein Abendessen aus Truthahnbrust und gedämpften Kartoffeln und Vollkornbrot. Inzwischen ist der Teller leer, ein verschmiertes Durcheinander neben ihr, als sie am Computer sitzt und Gangrän, Blastomykose und menschliche Darmparasiten googelt. Sie hörte die Glocke kaum, als es das erste Mal klingelt. Zu sehr ist sie ins Lesen vertieft, mit gespitzten Lippen und leicht schief gelegtem Kopf. Sie fühlt sich merkwürdig heiter, sie fühlt sich gut und normal, nachdem sie sich durch unzählige Bilder und Beschreibungen von toxischen Absonderungen und verfaulendem Fleisch geklickt hat.
Als sie zuvor nach »Tierangriffen« suchte, stieß sie auf eine Geschichte über ein Paar, das eine Schlange besaß, eine Python. Sie hielten sie in einem Glaskäfig im Wohnzimmer. Sie fütterten sie mit Ratten und Mäusen, und nachdem sie gefressen hatte, ließen sie sie aus dem Käfig und im Haus herumkriechen. Sie schlängelte sich zwischen ihren Beinen hindurch, über den Schoß, mit vollem Bauch immer freundlich. Sie betrachteten die Schlange als Teil der Familie und fingen an, nachts mit ihr zu schlafen. Sie rollte sich zwischen ihnen zusammen und genoss ihre Wärme. Bevor sie am nächsten Morgen zur Arbeit gingen, öffneten sie den Deckel des Glaskäfigs, und sie wand sich hinein und rollte sich am Boden zusammen wie ein dickes Seil. Aber irgendwann reagierte die Schlange nicht mehr auf ihr freundliches Stupsen – sie wollte das Bett nicht mehr verlassen, nicht einmal, als sie sie mit quietschenden Mäusen lockten.
Und dann weigerte die Schlange sich völlig, zu fressen. Dies ging ein paar Tage so, bis sie eines Morgens aufwachten und die Schlange sich im Bett winden sahen, sich zu komplizierten Mustern verknoten und das Maul öffnen und schließen, als würde sie herzhaft gähnen. Sie riefen den Tierarzt, der in ihr Schlafzimmer ging und die Schlange aus einiger Entfernung betrachtete und sie dann fragte: »Wissen Sie, was los ist?« Sie antworteten »Nein«, und er sagte: »Ich sage Ihnen, was los ist. Die Schlange bereitet sich darauf vor, Sie zu fressen. Sie streckt ihren Körper und dehnt den Schlund, damit sie in der Nacht einen von Ihnen umschlingen und erwürgen und verschlucken kann.«
Wieder klingelt es an der Tür, und sie minimiert das Fenster und rollt vom Schreibtisch weg und fragt sich nur nebenbei, wer das sein könnte – der UPS-Mann, noch ein Reporter, der sie nach der Bigfoot-Sichtung befragt, die Zeugen Jehovas, die sie die Nachbarschaft abklappern sah, als sie vorgestern zum Laufen ging.
Nachdem sie das Baby verloren hatte, gab es eine Zeit, da ihr davor graute, an die Tür zu gehen. Auf der anderen Seite stand dann immer jemand – eine Freundin, eine Nachbarin, eine Kollegin – mit einem mitleidigen Blick im Gesicht und einem Ziploc-Beutel oder einer Glasschüssel in der Hand. Ein Eintopf. Zimtbrötchen. Plätzchen mit Schokostückchen. »Lass dir das schmecken«, sagten sie. »Und bitte sag uns Bescheid, wenn du irgendwas brauchst. Brauchst du irgendwas?«
Nein. Sie brauchte nichts. Außer allein gelassen zu werden.
Eines Tages öffnete sie die Tür und fand auf der Schwelle einen Gugelhupf. Keine Nachricht. Niemand in Sicht. Sie nahm den Kuchen und trug ihn durch den Garten und warf ihn in den Wald. Danach hörte sie, wenn sie das Haus verließ, zwei Tage lang das entfernte Summen der Fliegen, die sich daran gütlich taten.
Und dann sagte Justin eines Abends: »Mary Elizabeth hat gesagt, sie hätte dir einen Gugelhupf vor die Tür gestellt.«
»Ach, sie war das. Es war keine Nachricht dabei.«
»Wo ist er?«
»Ich hab ihn in den Wald geworfen.«
Er schwieg lange. »Das hättest du nicht tun dürfen. Sie hat ihn extra für uns gebacken«, sagte er. »Und zufällig mag ich Gugelhupf.«
Die Sonne geht eben unter, als sie die Tür öffnet und Bobby auf ihrer Veranda stehen sieht. Seine Zähne sind weiß in seinem braunen Gesicht. Er hat einen gefährlichen Blick in den Augen, wie ein Zusammenkneifen, obwohl man nicht in die Sonne schaut. Er trägt eine Kakihose und ein kornblumenblaues Oxford-Hemd mit Brusttasche. Er hat eine Rose in der Hand.
Sie spürt einen Stich in der Brust, das Gefühl, als würde das Herz aussetzen, wie wenn man in einem dunklen Zimmer nach dem Lichtschalter tastet und stattdessen eine andere Hand spürt. Sie tritt einen Schritt zurück, und die Wände werden kurzfristig größer, die Decke höher, die Böden länger. Bobby in einem Restaurant zu treffen ist eine Sache – ihn in ihr Haus einzulassen eine andere.
»Klopf, klopf.« Er tritt uneingeladen ein. Ohne Zögern. Ihr Mann ist definiert durch Zögern.
»Was machst du denn hier?« Sie spürt ein Kribbeln in den Eingeweiden, eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Erregung, die sich anfühlt, als würden sich Käfer durch sie fressen.
Er drückt ihr die Rose in die Hand. »Ich war in der Gegend. Ich dachte, wir feiern.«
»Was?«
»Echo Canyon. Morgen geht’s los. Großer Tag. Große Sache. Hey, hast du Wein zu Hause?« Er erklärt ihr, wie durstig er ist – so durstig –, weil er den ganzen Tag mit Tom gesprochen hat.
»Hm.«
»Oder ein Bier. Ich bin nicht heikel. Nur verdammt durstig.«
»Na, dann komm.« Sie geht in die Küche, leicht seitwärts gewandt, damit sie ihn im Auge behalten kann. Am Spülbecken füllt sie ein Glas mit Wasser und stellt die Rose hinein, und sie schwankt kurz, als würde sie gleich umkippen. »Er saß vorgestern bei dir im Auto, nicht?«
»Tom. Ja. Am Bahnübergang. Du hast übrigens großartig ausgesehen. Ich hätte ihn am liebsten hinausgeworfen, damit du seinen Platz einnehmen kannst und wir einfach nur fahren und fahren und fahren können.«
Sie verschränkt die Arme und denkt über Tom nach. Sie versteht noch immer nicht, was Bobby bei diesem Mittagessen gesagt hat, dass sie Freunde, Geschäftspartner seien. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
Sie gießt ihm einen Drink ein – ganz hinten im Kühlschrank hat sie eine Flasche Chardonnay von Sokol Blosser gefunden, den sie mit einem Ploppen entkorkt –, und er schlendert durchs Haus, dreht eine Vase mit Trockenblumen, späht in einen Schrank, nimmt ein Buch zur Hand und legt es wieder weg, und währenddessen plappert er, erzählt ihr, wie das alles anfing, als der Gouverneur und der Stammesrat von Warm Springs den Vertrag über das Cascade Locks Wellnesshotel und Kasino unterzeichneten.
Nachdem Tom sich einige Jahre lang mit juristischen Winkelzügen herumgeschlagen hatte, bat er Bobby um Hilfe, und er hängte sich ans Telefon, um mit Anwälten zu verhandeln. Der Stamm brauchte einen Fee-to-Trust-Transfer von Einnahmen in Stiftungsvermögen, um dem Trust zehn Hektar der 24 Hektar des Geländes für Glücksspielaktivitäten überschreiben zu können. Und dann gab es noch Abschnitt 24 des Indian Gaming Regulatory Act, nach dem der Innenminister entscheiden musste, ob das Projekt a) zum Wohle des Stammes sei, und b) nicht die Nachbargemeinden schädige, was besonders schwierig war, da Hood River nichts übrig hatte für ein Kasino und die Art von Leuten, mit denen es ihr Paradies aus Obstgärten und tannenbestandenen Hügeln überschwemmen würde.
Und dann gab es noch andere Komplikationen, aufgrund der Nähe zum Fluss und in Bezug auf Geländeentwässerung und Erschließung mit Versorgungsleitungen. Außerdem mussten sie sich überlegen, wie sie die Transportwege änderten, um eine Zufahrt zu dem Kasino zu ermöglichen, was wiederum den Neubau einer Ausfahrt von der I-84 erfordern würde. Und so ging es weiter und immer weiter, so kompliziert war das Ganze, dass sich sein Kopf bald anfühlte, als würde er unter der Last einstürzen.
Nach Telefonaten und Diners mit Lobbyisten und Anwälten und Bürokraten und Politikern, und nachdem ein Sigma-Chi-Verbindungsbruder von Bob neuer Innenminister wurde, wurde Cascade Locks endlich Realität.
»Und das alles hast du für ein Indianer-Kasino getan? Was hast du dafür bekommen? Einen Anteil davon?«
»Nein, Baby. Ich habe Echo Canyon bekommen.«
»Was meinst du damit?«
Er redet über Folgendes: Hin und wieder bietet der Forst Service isolierte Parzellen staatlichen Lands an, um sich frisches Geld zu beschaffen und die sinkenden Einnahmen aus der Holzwirtschaft wettzumachen – und nun war es wieder einmal so weit. Die Ochocos waren übersät mit indianischen Grabstätten, mit Felszeichnungen und Piktogrammen auf den Basaltwänden. Die Indianer von Warm Spring fischten und jagten dort. Der Stamm würde ein Vorkaufsrecht für das Land bekommen, und er würde es nutzen.
»Also habe ich Tom gebeten, nicht zuzugreifen. Oder das Angebot zu vermasseln. Die Unterlagen zu spät abzugeben. Sie an die falsche Adresse zu schicken. Sie einfach verschwinden zu lassen. Denn was wollten sie denn überhaupt mit dem Land anfangen? Einen Pfeil in einen Hirsch schießen? Neben dem Fluss eine Friedenspfeife rauchen? Sie sind nicht sentimental. Ich musste keine Daumenschrauben ansetzen. Ein Canyon gegen eine Schlucht. Einen Golfplatz gegen ein Kasino. Eine Hand wäscht die andere.«
Sie ist nicht empört, sieht keinen Skandal dahinter. Sie hat zu viel schlechtes Gewissen und Nervosität in sich, um irgendetwas anderes zu kritisieren. Sooft sie sich umsieht, findet sie eine Sache weniger, die Bend anders macht als irgendeinen beliebigen Ort im Land – und Bobby hat sehr viel damit zu tun. Allein wegen seiner Anwesenheit spürt sie ein Summen in der Luft, ein Kribbeln auf der Haut, als würde auch sie sich gleich verändern, würde abgerissen und neu aufgebaut werden, eine ganz bewusste Rekonstruktion. Sie weiß nicht, ob sie es will oder nicht.
Er nimmt das Weinglas, das sie ihm hingestreckt hat, ohne es zu merken. »Danke«, sagt er. »Mögen deine Segnungen zahlreicher sein als die Kleeblätter auf der Wiese und möge die Sorge dich meiden, wo immer du gehst.«
»Wollen wir’s hoffen.« Sie hebt ihr Glas an die Lippen und trinkt kräftig mehrere große Schlucke, die ihr den Bauch wärmen.
Auf der Anrichte steht eine Holzschüssel mit roten Äpfeln. Die Äpfel sehen aus wie Herzen, mit Paraffin überzogene Wachsherzen. Er nimmt sich einen und wirft ihn in die Luft und fängt ihn wieder. »Sollen wir ins Wohnzimmer gehen? Uns vors Feuer setzten? Es uns bequem machen?« Er verlässt die Küche, ohne auf ihre Antwort zu warten, weil er weiß, dass sie ihm folgen wird. Sie tut es. Und als er sich aufs Sofa plumpsen lässt und auf den freien Platz neben sich klopft, folgt sie ihm auch dorthin. Das Feuer knistert und knackt, und über dem schwachen Geruch des Holzrauchs kann sie ihn riechen. Er riecht wie etwas aus einer Flasche.
»Was tust du hier, Bobby?«
Er schaut sie mit noch räuberischerem Blick, einem leichten Weiten der Nasenlöcher an. »Ich hab’s dir doch gesagt. Ich war in der Gegend.«
»Aber was tust du hier? Was tun wir?« Ihre Stimme klingt traurig. Sie weiß, wie leicht sie sagen könnte, es ist ihr egal – die Vergangenheit ist ihr egal, die Zukunft ist ihr egal, ihre Familie ist ihr egal, alles ist ihr egal außer sie selber, was sich gut für sie anfühlt, was sie jetzt im Augenblick will. Sie hat es verdient, nicht? Eine kleine Abwechslung. Aber sooft sie das denkt – ist mir egal –, fühlt sie sich, als habe sie einen Kiesel verschluckt, der ihr schwer im Magen liegt.
Das schnelle Vergnügen ist den Ärger nicht wert. Oder? Sie ist sich fast sicher. Während ihr Blick durch den Raum wandert – sie schaut überallhin außer in seine Augen – und die gerahmten Fotos ihrer Familie registriert, die Tennisschuhe ihres Sohnes, ein Buch ihres Mannes mit Lesezeichen, quält sie immer nur ein Gedanke: Du bist der Sache nicht gewachsen.
Dann stellt er sein Glas auf den Couchtisch und legt ihr die Hand aufs Knie. Sie will Nein sagen, aber das Wort fühlt sich grau und verschwommen an, will sich auf ihren Lippen nicht formen. Bei diesem Mittagessen hatte sie eine unsichtbare Grenze überschritten – und er jetzt eine weitere, als er ihr Haus betrat –, und sie weiß nicht so recht, ob es ein Zurück gibt.
Der Fernseher ist wie ein wachsames graues Auge, und in ihm sieht sie ihrer beider schwach erhellte Reflektion.
Er schiebt sich den Apfel in den Mund und kaut lautstark. Es macht ein knirschendes Geräusch, als würde ein Knochen brechen. Ein Bröckchen Fruchtfleisch klebt ihm im Mundwinkel. Seine Zunge schnellt heraus, packt es und verschwindet.
Dann erfüllt ein merkwürdiges Geräusch den Raum. Ein heftiges Flattern, eine schnelle Folge kurzer Schreie, und ihre Blicke schnellen zum Kamin.
Ruß kommt herausgeschossen, und die Flammen sinken kurz in sich zusammen. Dann flattert dort, mitten im Feuer, ein dunkler Umriss – eine Eule.
Aus den einzelnen Schreien wird angsterfülltes Kreischen, und Bobby lässt den Apfel fallen und hält sich die Ohren zu. Mit einem Flügelschlag, der Rauch und Asche durchs Zimmer fegt, schießt die Eule aus dem Feuer. Völlig verängstigt und mit schwelenden Flügeln flattert sie durchs Zimmer.
Es ist ein Moment der Panik, und als die Eule mit ausgestreckten Klauen auf Bobby zuschießt, springt er von der Couch auf, stößt gegen den Couchtisch und wirft sein Glas um, das klirrend zu einer tropfenden Glaszunge zerbirst. Mit einer Stimme irgendwo zwischen einem Wimmern und einem Kreischen schreit er: »Lass mich in Frieden! Lass mich verdammt noch mal in Frieden!« Vornübergebeugt springt er im Kreis herum und schlägt mit den Armen schwach nach dem großen Vogel – und dann flattert die Eule lärmend durch die Diele in irgendeinen geheimen Winkel des Hauses. Bobby stolpert und stürzt schwer zu Boden, und dabei fällt ihm etwas aus dem Mund und klappert auf das Hartholz.
Zuerst denkt Karen, es ist ein Stück Apfel, feucht, weiß und sichelförmig liegt es auf dem Boden. Doch als Bobby den Kopf hebt und sie mit verzerrtem Mund anstarrt, sieht sie, dass die linke Seite seines Munds merkwürdig schwarz ist. Ihm fehlen seine Zähne. Diese eckigen weißen Zähne. Er trägt eine Zahnprothese. Er packt sie und rammt sie sich in den Mund und steht hastig auf. Er keucht. Seine Haare sind zerzaust und fallen ihm in weißen Strähnen ins Gesicht, und er fährt sich mit der Hand durch die Haare, um sie wieder zu ordnen.
Aus dem hinteren Teil des Hauses kommt ein Kreischen, und Bobby schaut verängstigt in die Diele, als sei er sicher, dass die Eule sich noch einmal auf ihn stürzen will. Er wirft Karen nur einen kurzen Blick zu, stürzt dann zur Tür, reißt sie auf und rennt in den Abend hinaus.
Karen bleibt mit dem Weinglas in der Hand auf der Couch sitzen. Dem merkwürdigen Ruck, den sie spürte, als die Eule auftauchte – ein mächtiger, sie ausfüllender Ruck –, folgt nun ein Gefühl des Ausgelaugtseins. Sie fühlt sich unglaublich schwer, kann kaum von der Couch aufstehen und sich auf bleiernen Füßen zur offenen Tür schleppen.
Bobby ist noch da, er steht in der Dämmerung, einen Fuß auf der untersten Verandastufe, den anderen auf dem kurzen Kiesweg, der zur Einfahrt führt. Von der Tür aus sieht er plötzlich klein und alt aus.
Er hebt die Hand und deutet zu seinem Auto. »Schätze, ich fahre dann mal –«
»Ja.« Sie schließt die Tür und sucht sich einen Besen, um die Eule aus dem Haus zu scheuchen.