PAUL
Mit rot geränderten Augen unter schweren Lidern schaut er über den Fluss. Nach der Beerdigung des Hunds sind seine Fingernägel abgebrochen und schmutzverklebt. Er fühlt sich leer, ausgehöhlt. Sein Herz scheint in einem Augenblick zu träge zu schlagen, im nächsten zu schnell. Unterwegs musste er sich mehrmals hinsetzen, ihm war schwindelig und er kam sich vor, als würden schwarze Fliegen am Rand seines Gesichtsfelds schwirren. Und jetzt erscheint der Fluss, der so breit und voller Stromschnellen ist, eine unmögliche Distanz. Er hat nie, nicht wirklich, an seine eigene Sterblichkeit geglaubt, nicht einmal, als er niedergestreckt im Krankenhaus lag – doch die Möglichkeit des Sterbens in diesen letzten Stunden hat ihm nun doch seinen Seelenfrieden geraubt. Er ist wie ein Mann, der aus einem Albtraum aufwacht und schweigend ins Zimmer starrt, sich fragt, ob die Gefahr vorüber ist oder ob der Schrank aufspringt und ihn zwei glühende gelbe Augen daraus anstarren.
Auf den Gedanken, flussaufwärts zu gehen, kommt er nicht. Er schießt auch nicht in die Luft, um seinen Sohn zu Hilfe zu holen. Es existiert nur das Flussufer vor ihm. Er sieht es wie durch einen Tunnel. Sein Hirn stellt träge ein paar Berechnungen an, bevor er schließlich den Rucksack abnimmt, ihn öffnet, zwei sieben Meter lange Nylonseile herausholt und sie verknotet. Seine Hände sind schwerfällig und sein Hirn benebelt, es dauert deshalb eine gewisse Zeit. Seine Finger können die Seilenden nicht halten. Er untersucht seine Linke, wie man es mit einem kaputten Werkzeug tun würde, das man am liebsten wegwerfen möchte. Sie ist rot und schmutzig und zittert leicht. Die Finger sehen besorgniserregend geschwollen aus. Er versucht, sie zu beugen. Es geht nicht. Er schließt die Augen. Schleim hängt ihm in der Kehle, und er schluckt ihn.
Langsam, sehr langsam schlingt er sich ein Seilende um den Bauch und befestigt es mit einem Ankerknoten. Er geht zu einem nahen Baum und befestigt es an ihm mit demselben Knoten. Einen gequälten, atemlosen Augenblick lehnt er sich an den Baum, dann atmet er einmal tief durch, strafft sich und geht zum Fluss.
Er schaut kurz über die Schulter und erwartet, den Bär durchs Unterholz brechen zu sehen. Dann steigt er ins Wasser, seine Stiefel und dann seine Beine verschwinden darin, bis der Fluss zu seinem Bauch hochkriecht. Normalerweise empfindet er die Kälte belebend, zum Aufwachen besser als eine Tasse Kaffee, aber jetzt fängt er sofort an zu zittern. In der Mitte des Flusses, wo das Wasser weiß aufschäumt, wird sein Tempo deutlich langsamer. Er wickelt sich das Seil um die Handgelenke und lässt es nur ganz wenig durchhängen, um auf das Schlimmste gefasst zu sein. Um ihn herum ragen Felsbrocken aus dem Wasser, schwarz und rutschig wie Robbenhaut. Als sein Körper nach links kippt und er ein paar Schritte flussabwärts taumelt, zieht er das Seil noch straffer, um nicht ganz vom Fluss verschluckt zu werden. Aber er findet sein Gleichgewicht wieder, indem er sich an einem Felsen abstützt und sich keuchend an ihn drückt.
In dieser kurzen Zeitspanne fühlt er sich sehr allein und der Fluss kommt ihm eher vor wie ein Ozean; der Felsen ist eine Insel, und in dem sie umgebenden Riff wimmelt es von den Schatten von Haien, und am Ufer wuchert Dschungel, in dem Eber mit langen Stoßzähnen und farbenfrohe, giftige Schlangen lauern.
Er kann sich nicht vorstellen, den Felsen loszulassen. Es sind nicht nur seine Beine, die so träge und nachgiebig sind. Es ist der Schmerz in seiner Brust, das Herz fühlt sich durchlöchert an, als würde es lecken. Und es ist sein Verstand, träge vor Erschöpfung und am Rand des Zusammenbruchs. Wo er auch hinschaut, sieht er ein Echo, ein verschwommenes Doppelbild. Die Wolken haben ein Echo. Der Baum hat ein Echo. Der Canyon hat ein Echo.
Das Zittern, das seinen Körper durchläuft, bringt ihn schließlich dazu, den Fels loszulassen und sich vorwärts zu schieben, denn er spürt, dass Unterkühlung einsetzt. Er stolpert weiter, und als er schon mehr als die Hälfte des Flusses hinter sich hat, rutschen die Füße unter ihm weg. Er wird umgeworfen, schlägt sich das Knie an einem Stein an und schreit vor Schmerz auf, doch aus dem Schrei wird ein Gurgeln, als sein Mund sich mit Wasser füllt.
Der Fluss erfasst ihn und reißt ihn mehrere Meter mit, bevor das Seil sich strafft und er herumgeschleudert wird und mit letzter Kraft daran zieht. Er glaubt, sich daran aus dem Wasser ziehen zu können, aber dessen Kraft ist zu groß. Er glaubt, das Seil wird ihn weiter unten wieder ans Ufer ziehen, aber es hat sich in den Felsen verfangen. Er versucht, wieder Tritt zu fassen, aber immer ohne Erfolg. Seine Füße treiben flussabwärts. Er spürt, wie das Wasser an seinen Stiefeln zerrt und hat Angst, dass sie von seinen Füßen rutschen und davontreiben wie kleine Boote. Jetzt weiß er, was ein Fisch am Haken fühlt. Das Gewicht des Wassers droht ihn durchzubiegen, ihn zu zerbrechen an der Schlinge des Seils, die vom Gürtel hoch und unter sein Hemd gerutscht ist, so dass sie jetzt in seine Haut schneidet mit brennendem Druck, der dem Gefühl in seiner Brust entspricht, eine Verbrennung kurz vor der Explosion.
Er bildet sich ein, Justin und Graham am Ufer stehen zu sehen, sieht sie immer wieder aufblitzen durch den grauen Schlund des Wassers. Graham winkt mit beiden Armen, und Justin rennt ins Wasser, um ihn zu retten. Und dann stemmt Paul sich hoch – ein letztes, standhaftes Aufbäumen – und greift nach ihnen, mit offen hängendem Mund, den Kopf schief wie ein Fisch, der gegen den Haken kämpft. Er greift nach seinem Sohn.
Und dann kippt er ins Wasser und der Fluss brodelt lange über ihn hinweg, bevor das Seil an dem scharfkantigen Fels reißt und sein Körper flussabwärts wirbelt wie ein Stück Treibholz oder irgendein anderer Teil des Walds. Abgesehen von dem an den Baum gebundenen Seil würde man gar nicht wissen, dass er überhaupt da war, und weiter zischt und gurgelt der Fluss und versteckt unter seiner Oberfläche Aststümpfe und Felsen und Kreaturen, sowohl ertrunken wie lebendig.