JUSTIN
Seine Frau Karen arbeitet als Ernährungsberaterin für die verschiedenen Schulbezirke in Central Oregon. Sie verbringt ihre Tage damit, Mittagsangebote für die Cafeterias zu entwickeln, sich mit übergewichtigen Diabetikern zusammenzusetzen, um mit ihnen über ihre Essgewohnheiten zu sprechen, und Auditorien voller gelangweilter Kinder Power-Point-Präsentationen zu zeigen und ihnen von der Nährstoffpyramide zu erzählen, und wie sie sie in ihr Leben einbauen können. Zurzeit ist sie mit ihrem zweiten Kind schwanger. Jeden Morgen trinkt sie Orangensaft und tagsüber Gallonen Wasser, könnte man meinen, aber nie etwas mit Kohlensäure oder Alkohol, nicht einmal einen Schluck, den sie Justin abluchst. Sie hält sich fern von Fisch und rotem Fleisch und gibt nicht wenig Geld für biologische, freilaufende Hühnchen aus. Und so weiter. Jede Vorsichtsmaßnahme auf der Welt – und keine kann verhindern, was als Nächstes passiert.
Als Justin von der Arbeit nach Hause kommt, findet er ein Muster aus blutigen Fußabdrücken auf dem Boden. Er starrt sie lange Zeit an, als wollte er ihre Botschaft entschlüsseln. Erst dann zieht er sein Handy heraus. Er hat es vor einiger Zeit ausgeschaltet, damit es im Unterricht nicht klingelt. Es zeigt ihm drei Nachrichten – eine vom Krankenhaus, die nächste von seinen Schwiegereltern, die letzte von seiner Frau.
Er findet sie in ihrem Krankenhausbett, sie scheint geschrumpft zu sein. Ihr Bauch ist hohl, plötzlich leer.
Sie ist, sie war, im fünften Monat schwanger. Die Ärzte sagen ihr, sie habe Präeklampsie. Im Wesentlichen gehe es darum, dass ihr Körper das Baby plötzlich als einen Fremdkörper sah, den er abstieß. Als sie Justin das erzählt, die Stimme verwaschen vom Vicodin, scheint sie zugleich nach innen und nach außen zu blicken, verloren in dunklen Gedanken in einem zu hellen Zimmer.
Als die Schwester kommt, um Karens Vitalfunktionen zu kontrollieren, fragt sie, ob Justin das Baby sehen will, ein kleines Mädchen. Er will und er will nicht. Als sein Sohn Graham geboren wurde, hatte er so glänzend ausgesehen, wie poliert von Karens Innerem, ein kostbares Juwel, das sie sich an die Brust drückten und einander mit größter Vorsicht reichten. So sieht dieses Baby auch aus, nur kleiner, blauer.
In den folgenden Wochen geht Karen herum, als wäre sie wund. Sie weicht vor Justins Berührung zurück – noch die Seine, aber für ihn verloren. Er findet sie oft im Büro, dem Büro, das sie zum Babyzimmer umgestaltet hatten. Auf der einen Seite steht ein Sekretär mit Rollladenaufsatz, darauf Stapel noch nicht benoteter Klassenarbeiten – und auf der anderen das Kinderbettchen aus aufpoliertem Kiefernholz, geschmückt mit Winnie-the-Pooh-Aufklebern und einem Mobile, das Twinkle Twinkle, Little Star spielt, das Lied, das jetzt so gespenstisch klingt, wenn Karen das Ding einschaltet, wie es das leere Bettchen füllt und durch seine Seitenlatten sickert, um durchs Haus zu hallen.
Als sie wieder miteinander schlafen, fünf Monate später, fängt sie an zu weinen, und als er sie fragt, ob er aufhören soll, sagte sie: »Was meinst du denn?« Seitdem trennt eine Grenze die beiden Hälften ihres Betts. Keiner von beiden überquert sie.
Er kann sich nicht erinnern, ob sie zuvor schon Probleme hatten. Er versucht sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal miteinander ausgegangen waren – ein wirklicher Abend zu zweit, ohne ihren Sohn, weißes Leinen, brennende Kerzen, Wein in Kelchgläsern, ihre Füße berühren sich unter dem Tisch – und kann es nicht. Er versucht sich zu erinnern, wann er ihr das letzte Mal Schmuck oder Blumen schenkte. Er versucht sich zu erinnern, wann sie ihn das letzte Mal in den Mund nahm. Er versucht sich zu erinnern, wann sie zum letzten Mal Romane auf der Couch lasen und sich, die Beine ineinander verschlungen, gegenseitig Lieblingspassagen vorlasen. Jahre her. Das ist Jahre her, nicht? So viele seiner Erinnerungen sind verschwommen, verstellt von Erinnerungen aus der Arbeit. Er kann sich an ihre häufigen Kopfschmerzen erinnern – ihre Seufzer aus tiefster Kehle –, an ihren Wunsch, allein zu sein. Er erinnert sich daran, wie er beim Einräumen der frischen Wäsche einen riesigen rosafarbenen Dildo ganz hinten in ihrer Unterwäscheschublade fand und sich irgendwie betrogen vorkam. Vielleicht sind das nur die Warzen, die in einer sich entwickelnden Ehe natürlich wachsen. Oder vielleicht haben Karen und er schon seit Längerem Schwierigkeiten, und er bemerkt es erst jetzt. Er will dem Baby die Schuld dafür geben, aber vielleicht hat dieses Baby nur die Laustärke dessen aufgedreht, was die ganze Zeit mitschwang.
Sie hat sich das Laufen angewöhnt. Jeden Morgen zieht sie pink Shorts und ein ärmelloses T-Shirt an, schnürt ihre Nike Laufschuhe und läuft fünf Meilen. Das ganze Fett, das sie während der Schwangerschaft angesammelt hat, schmilzt dahin und enthüllt straffe, harte Muskulatur, die aussieht wie das Exoskelett eines Wesens, das auf dem Meeresgrund lebt. An ihren Füßen entwickeln sich dicke Schwielen. Ihre Waden hüpfen, wenn sie geht. Ihre Unterarme sind ein Geflecht aus Adern. Sogar ihre Ohren wirken dünn.
Manchmal sieht Justin sie auf dem Weg zur Mountain View Highschool, wo er unterrichtet. Die Haare sind zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengefasst und geben den Blick auf ihr gerötetes, verdichtetes Gesicht frei. Ihre Zähne sind gefletscht. Ihre Beine pumpen, die Arme schwingen wild. Sie sieht aus wie eine Verrückte. Er hupt und winkt ihr jedes Mal, aber sie sieht ihn nie, so versunken ist sie in die Hitze und den Rhythmus ihres Laufens.
Normalerweise ist sie bereits weg, wenn er duscht und sich anzieht und zum Frühstücken hinunter in die Küche geht. Aber manchmal begegnen sie einander, so wie heute Morgen, als er sie vor dem Spülbecken stehen sieht, und sie zum Fenster hinausschaut und ein kleines Glas Orangensaft trinkt. Er sagt: »Hi«, und sie sagt: »Hey.« Er fragt sie, ob sie die Nachricht schon gehört habe, und als sie fragt: »Was für eine Nachricht?«, erzählt er es ihr.
Gestern Abend brachte Z-21, eine Tochter von NBC, in den Zehn-Uhr-Nachrichten einen Bericht über einen Bärenangriff bei Cline Falls.
Die Mädchen, zwei Teenager aus Prineville, hatten ihr Essen und ihre Kochutensilien stehen lassen, anstatt alles abzuwaschen und zu verpacken und an den höchsten Ast einer Lärche zu hängen. Im Frühjahr haben Bären einen schrecklichen Hunger, da sie den ganzen langen Winter verschlafen haben, und dieser war keine Ausnahme. Ein Hieb mit seiner Pranke zerteilte das Nylon wie ein Reißverschluss. Ihre Schreie vertrieben ihn nicht, stachelten ihn nur noch an, als er den Kopf eines Mädchens ins Maul nahm und daran kaute, bis die Schwarte sich vom Schädel löste. Das andere Mädchen, das versuchte, seiner Freundin beizustehen, wurde gegen die Wand des Canyons geschleudert, und dann übel zugerichtet. Sie stellten sich tot oder waren vor Schmerz ohnmächtig geworden, und nach einigen Minuten ließ der Bär von ihnen ab. Jetzt liegen sie beide in kritischem Zustand im St. Charles Memorial in Bend. »Es heißt, es war ein Grizzly.«
»In Oregon gibt es keine Grizzlys.«
»Das hat der Typ vom Forest Service auch gesagt, aber dieser andere sagte –«
»Ich muss los.« Sie stellt das Glas mit einem Klicken auf die Arbeitsfläche. Gelbe Fruchtfleischstückchen kleben an der Innenseite.
»Okay«, sagt er und öffnet den Schrank und holt eine Schachtel mit Cheerios heraus, die er klappernd in eine Schüssel schüttelt und mit Milch begießt. »Viel Spaß. Und pass auf wegen der Bären.«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, sagt sie und läuft bereits zur Tür.
Er unterrichtet Englisch. Vor einigen Jahren überschlug sich ein Schüler namens Jimmy Westmoreland, nachdem er einen Zwölferpack Budweiser gekippt hatte, mit seinem Camaro und starb. Am nächsten Tag versammelten sich alle in der Turnhalle. Der Rektor – ein lederiger Mann, der seine Haare pechschwarz färbte und sie zu einer Elvis-Tolle frisierte – stand vor ihnen und murmelte ein paar Worte über Jimmy. Neben ihm stand ein Stuhl und darauf ein Gettoblaster. Aus den Lautsprechern kamen die schleppenden Stimmen und die unsauberen Gitarrenriffs von Lynyrd Skynyrd. Sie saßen da und lauschten »FreeBird«. Acht Minuten und dreiundzwanzig Sekunden waren noch nie so lange gewesen.
So eine Schule sind sie. Wranglers und Levi’s. Ford F-10 und Pontiac Firebirds. Das ganze alte Bend schickt seinen Nachwuchs dorthin – während die Flüchtlinge aus Portland und Kalifornien in ihren engen Designerjeans und auf Hochglanz polierten SUVs in der Highschool am anderen Ende der Stadt landen. Justin zieht Billy Joel Lynyrd Skynyrd vor – und Starbucks Folgers –, und er merkt, dass er sich eher mit dem identifiziert, wozu Bend sich entwickelt, als mit dem, was es einmal war. Er überlegt oft, eine Versetzung zu beantragen oder vielleicht sogar wieder auf die Uni zu gehen, um auf College-Niveau unterrichten zu können, oder etwas ganz anderes zu tun.
Früher einmal machte ihm sein Beruf sehr viel Spaß. Und dann passierte etwas. Dasselbe, was vielen Lehrern passiert, wie er vermutet. Die Arbeit fängt an, einem das Herz wund zu scheuern. Die Erschöpfung überfällt einen nicht plötzlich, sondern stetig und unaufhörlich, wie Wellen, die an einem Felsen nagen. Man heiratet. Man kauft ein Haus. Man hat ein Kind. Und eines Tages merkt man dann, dass zehn, zwölf Jahre vergangen sind, und in dieser Zeit ist man der schlechten Bezahlung müde geworden, den endlosen Papierstapeln, den Footballspielern, die mit verschränkten Armen in der letzten Reihe sitzen und sich permanent über alles nur lustig zu machen scheinen, mit einem blasierten Lächeln, das ihre Lippen nie verlässt.
Manchmal fühlt er sich mitten in einer Stunde merkwürdig distanziert, getrennt von sich selbst, als würde er über dem Klassenzimmer schweben, getragen vom leiernden Murmeln seiner eigenen Stimme. Und wenn er von dort oben auf sie alle heruntersieht, wenn er in ihren Augen – wie er es in seinen Augen sah – die gleiche verhüllte Langeweile zu erkennen meint, dann hat er das Gefühl, völlig unbedeutend zu sein, als hätte nichts, was er sagt oder tut, einen Sinn.
Heute Morgen schaut er während einer Prüfung zum Fenster hinaus und sieht ein hageres Tier, es könnte ein Hund oder ein Kojote sein, das am Rand des Sportplatzes entlangschleicht. Es hält den Kopf dicht am Boden, als hätte es eine Witterung aufgenommen, als würde es etwas verfolgen. Und dann verschwindet es im Schatten zwischen den Bäumen. Er beugt sich vor und versucht, es weiter zu verfolgen, aber es ist verschwunden, so plötzlich, dass er sich fragt, ob es überhaupt da war.
Die Tür geht auf und reißt ihn aus seinem Halbtraum.
Die Sekretärin steht da. Sie ist eine langbeinige Blonde, die den ganzen Tag damit zubringt, Anrufe durchzustellen, während sie in der neuesten Ausgabe von People oder US Weekly blättert. Heute trägt sie einen zu grellroten Lippenstift, der ihren Mund wie eine blutende Wunde wirken lässt. »Mr. Caves?«, sagt sie. »Ihre Frau ist am Telefon. Sie muss mit Ihnen sprechen.«
Gut zwanzig Sekunden lang schaut er seine Schüler an und seine Schüler schauen ihn an. Dann sagt er: »Ich bin mitten im Unterricht. Worum geht’s denn?«
Sie betrachtet ihre Nägel, als wären sie etwas ganz Besonderes. »Woher soll ich denn das wissen? Ich weiß nur, dass es ein Notfall ist.«
Er schaut sich im Klassenzimmer um, fühlt seinen Magen wie einen Stein, während er versucht, diese Information zu verdauen. Die Uhr tickt sich auf drei Uhr zu. Jemand in der hinteren Reihe lässt seinen Kaugummi platzen, mit einem Geräusch wie ein brechender Ast. »Ihr habt noch fünf Minuten«, sagt er ihnen. »Wenn ihr fertig seid, legt den Test auf meinen Schreibtisch. Kein Abschreiben. Und vergesst nicht, als Hausaufgabe, Herz der Finsternis, die Seiten 50 bis 100.«
Als er den Gang entlang zum Lehrerzimmer geht, ist er überzeugt, dass mit seinem Vater etwas passiert ist. Vielleicht ein Schlaganfall. Er fühlt sich merkwürdig ruhig, als hätte er diesen Anruf schon den ganzen Tag erwartet. Aber diese Ruhe weicht sehr schnell Panik, als er den Hörer ans Ohr drückt und seine Frau ihm von ihrem Sohn berichtet.
»Es geht um Graham«, sagt sie. »Er ist verschwunden.«
Sie fuhr zur Amity Creek Elementary School, wo Graham in die sechste Klasse geht, um ihn abzuholen. Aber er tauchte nie aus den Schwärmen rucksackschleppender Kinder auf, traf sie nicht oben am Kreisverkehr, wo sie mit laufendem Motor wartete wie immer. Fünfzehn Minuten vergingen, dann zwanzig. Sie stellte den Motor ab und stieg aus und versuchte, mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten zur Schule zu gehen, denn sie war sicher, dass es eine logische Erklärung gab. Wahrscheinlich hatte Graham Unfug angestellt und musste jetzt nachsitzen, Kreide von Tafeln wischen oder »Ich darf nicht mit Papierkügelchen schießen« immer und immer wieder auf liniertes Papier schreiben.
Sie wusste es allerdings besser. Er hatte noch nie nachsitzen müssen und würde es wahrscheinlich auch nie. Er war eins der Kinder, denen es große Fre ude macht, genau das zu tun, was man ihnen sagt, die immer bitte und danke sagen, und nie sprechen, wenn sie nicht an der Reihe sind. Er trägt lieber Chinos als Jeans und steckt sich das Hemd in die Hose. Justin weiß nicht so recht, wie das passiert ist, wie Graham ein so selbstbeherrschter kleiner Mann geworden ist, denn tatsächlich hat Justin ihn immer ermutigt, ein bisschen abenteuerlustiger zu leben. Als Justin in diesem Alter war, sammelte er Frösche an den Flussufern und trug sie zur nächsten Straße, so dass er sie hoch in die Luft werfen und das Geräusch genießen konnte, wenn sie auf den Asphalt klatschten. Es war schrecklich, aber Jungs müssen schreckliche Sachen machen. Es liegt in ihrer Natur.
Graham ist anders. Er ist ein Junge, der Bücher Luftgewehren vorzieht, der jeden Morgen sein Bett macht und Computerspiele erst spielt, nachdem er seine Hausaufgaben gemacht hat, und nie um die Süßigkeiten bettelt, die an der Kasse stehen. Genau so ein Junge, dachte Karen zu der Zeit, der zu einem Fremden ins Auto steigt, wenn der ihm nur eine überzeugende Lüge erzählt, denn er will ihn ja nicht verärgern.
Sie fand Mrs. Glover, seine Lehrerin, in ihrem Klassenzimmer, wo sie sich durch einen Stapel Mathematik-Aufgaben arbeitete. Und nein, sie habe ihn nicht gesehen, nicht seit der Schlussglocke. Gemeinsam suchten sie das Schulgelände ab und fanden keine Spur von ihm. Mit jedem Zimmer, in das Karen schaute und das sie leer vorfand, wurde ein Wind in ihr stärker, bis sie das Gefühl hatte, ein Zyklon würde alles in ihr losreißen, was sich bis jetzt sicher befestigt angefühlt hatte.
Das erzählt sie Justin, während sie in Bend herumfahren, zum Videoladen, zur Pizzeria, zum Kino, zur Bibliothek und jede Stelle absuchen, die er kennt. Sie haben die Polizei angerufen. Sie haben jeden aus seiner Klasse angerufen. Jetzt bleibt ihnen nichts mehr übrig als zu suchen und zu warten. Willkürlich fahren sie die Straßen Bends auf und ab, und ihre Köpfe schwingen hin und her, während die Welt an der fliegenfleckigen Windschutzscheibe vorbeizieht. Karen hat ihr Handy in der Hand. Ihr Mund zittert die ganze Zeit, als könnte sie einen Schrei nur mühsam unterdrücken. Irgendwann einmal packt sie Justins Arm und drückt ihn, nur einmal. Er weiß nicht mehr, wann sie ihn das letzte Mal berührt hat – ihn wirklich absichtlich berührt hat. »Ich kann das nicht noch einmal durchmachen.«
»Mach dir keine Sorgen«, versucht er sie zu beruhigen. »Es wird schon alles wieder gut.«
Justin ist ein Mann mit einer ordentlichen Frisur, sauber auf einer Seite gescheitelt, im Nacken und an den Ohren präzise ausgeschnitten. Jetzt hebt er die Hand, um die Haare glatt zu streichen, ein Teil von ihm denkt, solange jedes Haar an seinem Platz ist, wird schon alles wieder gut werden.
Das wird es auch. Jemand entdeckt Graham in den Lava River Lanes, wo er mit einem merkwürdigen alten Mann in ledergesäumtem Sakko Bowling spielt. Binnen Minuten halten zwei Streifenwagen mit blinkenden Lichtern vor der Anlage. Zwei Hilfssheriffs stürmen hinein, vorbei an den Pool-Tischen und den Glücksspielautomaten, durch die Schwaden des Zigarettenrauchs zur Bahn neun, wo sie Justins Vater finden, der beschlossen hat, Graham von der Schule abzuholen und ihm beizubringen, wie man eine Kugel mit Effet schiebt.
Als Justin ankommt, wartet sein Vater auf dem Parkplatz auf ihn, er lehnt, die Hände in den Taschen, an einem Streifenwagen. »Kann denn ein Mann nicht einmal einen Nachmittag mit seinem Enkel verbringen?«
»Natürlich, Dad. Es ist nur so, dass …«
»Nur was?«
Er ist nicht zu stoppen. Redet davon, dass Justin dem Jungen ein bisschen Spaß gönnen solle, dass er einem alten Mann seine Freiheit lassen müsse – und so weiter –, während seine Hände, große braune Dinger, durch seinen Bart fahren wie Pranken durch morsches Holz auf der Suche nach Larven und Würmern zum Fressen. In letzter Zeit ist er wilder geworden, und Justin hat noch mehr Angst vor ihm, er zögert, ihn herauszufordern.
Karen presst sich Graham an die Brust, drückt ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht fest an sich, als wäre er ein verlorenes Organ, das sie wieder in ihren Körper zwingen will.
Heute Nacht liegt Justin halb träumend im Bett. Durchs Fenster fällt ein Rechteck aus Mondlicht. In der Ferne rufen zwei Wapitis einander zu. Ihre mächtigen, dröhnenden Stimmen schrauben sich spiralig durch die Luft, wie durch eine Muschelschale geblasen. Er geht zum Fenster. Eine kühle, nach Lärche duftende Brise weht und bläht die Vorhänge um ihn herum auf. In der Ferne kann er die Cascades erkennen. Sie leuchten im Mondlicht, weißschultrig vom Schnee und bebartet von Wald, der vor ihrer Helle eher schwarz als grün wirkt. In ihren Ausläufern blinkt ein kleines Licht auf, das ihm ins Auge fällt. Einen Augenblick später ist es verschwunden, und er fragt sich, woher es kommt, so weit weg von der Stadt – ohne Straßenlaternen oder Neonschilder irgendwo in der Nähe –, ein kleiner Glassplitter, der sich in den Falten eines riesigen schwarzen Tuchs verfangen hat.
Seine Frau ist ebenfalls wach. Das merkt er an ihrer Atmung. Sie duschte, bevor sie ins Bett ging, schrubbte ihre Haut rosig und shampoonierte ihre Haare zu einem seidigen Schwarz. In diesen letzten Stunden hat, sooft sie sich bewegte, um eine bequemere Lage zu finden, ein Lufthauch den Geruch ihrer Sauberkeit zu ihm getragen.
Er geht wieder zu ihr ins Bett. Sie hat sich die Decke über die Brust hochgezogen und unter die Arme gesteckt. Sie seufzt auf eine Art, die bedeutet, dass sie gleich etwas sagen will. Und dann sagt sie es: »Der Mann muss mal in seine Schranken verwiesen werden.«
Sie meint damit nicht nur heute, sondern auch andere Tage. Letzte Woche zum Beispiel, als sie zum Mittagessen in sein Elternhaus fuhren, ging sein Vater mit Graham in den Garten, und Karen fand die beiden dann später vor einer flachen Senke kauernd, wo sie einen Skorpion anfeuerten, den sie gegen eine schwarze Spinne in Stellung gebracht hatten.
»Mein Herz raste eine Meile pro Minute«, sagte Karen und legte sich die Hand an diese Stelle, zwischen ihre Brüste.
»Ich weiß.«
»Ich schwöre dir, ich hätte ihn fast geschlagen. Hätte ihm fast eine Ohrfeige gegeben. Dieser Mann geht mit anderen Menschen so unachtsam um wie mit seinem eigenen Körper.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Das glaube ich nicht, Justin. Zu dem Zeitpunkt ist mir alles durch den Kopf gegangen. Alles, was du dir vorstellen kannst. Ich war mir sicher, dass er tot ist. Unser Sohn. Weißt du, wie ich mich dabei gefühlt habe? Als würde es noch einmal passieren.« Er muss sie nicht fragen, was sie mit es meint. Es definiert sie inzwischen. Sie hebt den Kopf vom Kissen und lässt ihn wieder sinken. »Ich will so etwas nie wieder fühlen.«
»Es tut mir leid.«
»Entschuldige dich nicht. Hör auf, dich zu entschuldigen. So redest du nämlich mit deinem Vater.«
»Entschuldigung.«
Sie dreht sich ihm zu, schaut ihm in die Augen und er sagt: »Das war jetzt nur Spaß.« Er küsst sie auf die Stirn und behält die Lippen dort, als er sagt: »Ich rede mit ihm.«
»Wirklich?«
»Ja.«
Seine Hand wandert zum Saum des Lakens und streicht daran entlang. Langsam zieht er es nach unten, weg von ihrer Brust, bis die Wölbung ihres Busens entblößt ist, seine Blässe noch verstärkt durch das Mondlicht – und mit jedem Zentimeter, den er zieht, kneift sie die Lippen mehr zusammen. Er will sich auf sie legen und sie lieben mit der Leidenschaft, die manchmal aus kleinen Augenblicken des Zorns entsteht.
Doch sie sagt: »Bitte tu’s nicht«, zieht das Laken wieder hoch und wendet sich von ihm ab.
Er denkt an das Licht im Wald – das Aufblitzen und dann wieder Verlöschen, wie ein sterbender Stern – es erinnert ihn an dieses Gedicht. Früher spielten er und Karen dieses Spiel. Einer zitierte eine Gedichtzeile, und der andere ergänzte sie. Das Spiel stammte noch aus ihrer gemeinsamen Zeit im College, als sie am heftigsten ineinander verliebt, beständig gierig aufeinander waren. Wenn sie sich in seiner Wohnung auf dem knarzenden Futon geliebt hatten, las er ihr Gedichte vor, während sie in den Schlaf dämmerte.
Jetzt hatte das Spiel etwas Hohles, zwei Menschen, die einander zuriefen wie Vögel in einem Wald. Vielleicht standen sie in der Küche, er schnitt Sellerie und sie schälte Kartoffeln – oder sie waren beim Wandern, und der Vordere drehte sich um, um nach dem anderen hinter ihm auf dem Pfad zu schauen. Er brauchte einen Augenblick, bis er die Worte fand, wie sie sich aneinanderreihten, und dann waren sie da: »Meine Gedanken sind boshaft und fahl / Meine Tränen wie Essig / Oder das bitter blinkende Gelb / Eines versäuerten Sterns.« Wenn er sie laut sagen würde, würde sie ihm antworten mit der »verzogenen Schnute des sauren Zitronenmonds« – oder würde sie nur tiefer atmen und so tun als würde sie schlafen?
Bobby Fremont ist einer von den Männern, deren Geld und Begeisterung ihnen erlauben, mit ihrem Leben genau das zu tun, was sie wollen. Beständig kommt oder geht er, nie steht er still, reist an Orte, wo Justin noch nie gewesen ist, tut Dinge, die Justin nie für möglich halten würde. Er erzählt Geschichten, oft laut und mit vielen kantigen Handbewegungen, über die Jagd von Dickhornschafen in Wyoming oder die Besteigung des Mount Cook in Neuseeland oder ein französisches Diner mit zwölf Gängen, das seinem Mund fast einen Orgasmus verschafft hätte. Er grinst immer und hat ein lautes Lachen, das einen von seinen sehr eng stehenden Augen ablenkt.
Einen Großteil der Grundstücke in der Umgebung von Bend hat er irgendwann einmal besessen, entwickelt und verkauft, bis hin zum Inn of the Seventh Mountain, dem Bend Athletic Club, Widgi Creek, River’s Edge. Er ist zum dritten Mal verheiratet – seine gegenwärtige Frau gehört zu denjenigen, die sich die Augenbrauen nachziehen und sich die Haare so blond färben, dass sie fast unsichtbar sind –, und sein wankelmütiger Frauengeschmack scheint seinem beständigen Wechsel von Einverleiben und Abstoßen von Grundbesitz zu entsprechen.
Vor langer Zeit muss es viele von seiner Sorte gegeben haben, vor allem hier im Westen. Männer, wild und hoffnungsvoll, die Land und Schürfrechten nachjagten, die Augen immer auf den Horizont gerichtet, auf das, was dort gerade golden glänzte.
Wegen Bobby sitzen Justin und sein Vater nun in einem Nebenzimmer des County Courthouse, um an einer öffentlichen Sitzung der Planungskommission teilzunehmen. Die Fenster sind hoch und schmal und lassen nur wenig Sonnenlicht herein, das zusätzlich noch von den holzgetäfelten Wänden geschluckt wird. Sie sitzen an einem langen Holztisch, der die gesamte Länge des Zimmers einnimmt und das Licht des schmiedeeisernen Lüsters, der darüberhängt, golden schimmernd reflektiert. Eine ganze Anzahl Männer in Lederwesten und schmalen schwarzen Western-Fliegen drängen sich um den Tisch, und an seinem Kopfende steht Bobby.
Er hat ein zu stark gebräuntes Gesicht mit feinen Fältchen um Augen und Mund. Er trägt sein weißes Haar lang und in der Mitte gescheitelt, sodass es wellig seine Stirn umspielt. Seine Augen sind blassblau und sein Blick direkt und berechnend. Heute trägt er ein Kakihemd mit Kragen, das er sich in die Jeans gesteckt hat, und um den Hals eine Cowboykrawatte mit silbernen Kordelspitzen.
Langsam entrollt er die Karte, und als er versucht, sie flach auf den Tisch zu legen und mit den Händen zu glätten, rollt sie sich wieder ein. Sein Anwalt und ein paar andere Männer, darunter Justins Vater, helfen ihm, Kaffeebecher von Starbucks auf die Ecken zu stellen, um das Land zu fixieren und straff und für jeden sichtbar zu machen.
Es ist eine Karte der Ochocos, die Höhenlinien wie die Kringel und Wirbel eines großen, komplizierten Fingerabdrucks, der ihnen aufgedrückt wurde. Mit rotem Stift ist auf der Karte eine Fläche von etwa zwanzig Meilen Länge und zehn Meilen Breite eingezeichnet – und mitten im Zentrum der tiefe Einschnitt eines Canyons mit einem Fluss, der sich hindurchschlängelt.
Neben dieser Karte entrollt er eine zweite, eine vergrößerte Version des rot eingezeichneten Gebiets. Von seinem Stuhl fast in der Mitte des Tisches aus kann Justin kaum erkennen, was in geschwungener schwarzer Schrift oben auf der Karte steht: Echo Canyon. Hier in dieser schwarz-weißen Darstellung sind die Bäume bereits gefällt und das Unterholz gerodet, ersetzt durch ein luxuriöses Bauprojekt. Die ausgesuchtesten Grundstücke liegen oben am Rand des Canyons, mit Blick auf den Golfplatz und die asphaltierten Radwege unten am Boden des Canyons.
Nach einer Weile sagt Bobby: »Das ist es.« Er klopft mit den Knöcheln auf den Tisch, legt dann die Hand unters Kinn und lässt den Blick durch den Raum wandern, kurz bei jedem Einzelnen der Männer verweilend. Er hat dieses spezielle Talent, mit Blicken Kontakte herzustellen, jedem in einer beliebigen Menge von Zuhörern das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein. »Eine unglaubliche – und ich meine eine wirklich prachtvolle Lodge aus Eisen und Holz, dreihundert Grundstücke, und das schnellste, beste Putting-Green in ganz Oregon.«
Alle beugen sich vor und spähen auf die Karte, als versuchten sie, sich die Asphaltstraßen, die Driveways zwischen Fluss und Felsen, die Sandbunker und Wasserlöcher vorzustellen, die dieser Wildnis aufgepflanzt würden.
Justin erkennt an Bobbys aufrechter Haltung, wie froh er ist, dieses Projekt jetzt zum Abschluss zu bringen, die Tausende von Entscheidungen und Kompromisse zu finden – die Parzellierung, die Erschließungsgenehmigung, die Verkehrs- und Umwelt- und Wasserprobleme – und den ganzen Rest, die scheinbar endlosen Auseinandersetzungen, die er in den letzten Jahren geführt hat.
Dann wird die Tür aufgerissen. Die Aufmerksamkeit verlagert sich augenblicklich, jeder dreht den Kopf zur Tür und sieht dort Tom Bear Claws, gefolgt von einem kahlköpfigen Reporter des Bend Bulletin mit einem Notizbuch in der Hand. Sie suchen sich einen Platz am Tisch und Tom klopft mit den Knöcheln auf das Holz, als würde er um Einlass bitten. »Tut mir leid, dass wir zu spät kommen«, sagt er.
»Ihr kommt nicht zu spät«, sagte Bobby mit einem dünnen Lächeln. »Ihr wart nie eingeladen.«
»Hey. Das hat jetzt meine Gefühle verletzt.«
Justin kennt Tom. Die meisten tun es. Seit ein paar Jahren, seit Justin den Fachbereich Oberstufenenglisch übernommen hat, lädt er Tom als Dozenten für Einheimische Amerikanische Literatur in sein Klassenzimmer ein. Justin genießt seinen spielerischen Zynismus, dass er selten irgendetwas zu ernst nimmt. Tom zieht dann einen Hocker vor die Klasse, klatscht seine Masse darauf, grinst sie alle mit seinem breiten, zerfurchten Gesicht an – die Haut hat die Farbe von Tabak – und erzählt und erzählt von Kojote und Maus und Gedankenfrau und dem Großen Geist, dem Schöpfer aller Dinge.
Einmal zog er Stiefel und Socke aus und zeigte die Klapperschlange, die auf seine Fußsohle tätowiert ist. Es gebe ihm die Macht, sich lautlos an seine Feinde heranzuschleichen, sagte er. »Also haltet besser die Augen offen.«
Ein anderes Mal las er ein Gedicht vor. Er hatte es auf gelbes Juristenpapier geschrieben. Er zog eine Bifokalbrille aus seiner Brusttasche, setzte sie sich auf die Nasenspitze und hustete in seine Faust, bevor er mit einer Stimme vorlas, die sich rhythmisch hob und senkte und sie alle in eine mystische Träumerei versetzte. Justin kann sich an den Wortlaut nicht mehr so genau erinnern. Irgendetwas in dieser Richtung: »Das Licht des Waldes ist rot. Die Wölfe der Nacht laufen durch es hindurch, und die Männer des Tages schrecken davor zurück. Unter der dunklen Decke der Bäume gehen Dinge verloren, werden gefangen und gefressen. Das Licht des Geistes ist ebenfalls rot.«
Als Justin Tom später fragte, ob er das Gedicht selbst geschrieben habe, sagte er: »Größtenteils.«
Justin hat ihn nie nach seinem Alter gefragt, aber er schätzt ihn auf etwa fünfzig. Seine Haare haben die Farbe ausgebrannter Holzkohle, er trägt sie immer zu einem Zopf geflochten. Um seinen Hals hängt ein Lederband, besetzt mit Wapitizähnen, aber er trägt auch Sportsakkos und fährt einen BMW und spielt regelmäßig Golf in Widgi Creek. Als Sprachrohr des Warm-Springs-Reservats wird er regelmäßig in den Zeitungen zitiert.
Sein Geld hat er mit der Anglerei gemacht. Schaut man in irgendeinen Fluss, irgendeinen See, findet man auf dem Grund – wie Münzen in einem schmutzigen Brunnen – Kronkorken, die glänzendsten Gegenstände im Wasser. Die Idee kam ihm wie selbstverständlich: Bier und Angeln gehen Hand in Hand. Man stanzt einander direkt gegenüber zwei Löcher in den Rand des Kronkorkens, drückt ihn zu einer Muschelform zusammen und befestigt einen Haken an einem Ende und eine Leitschnur am anderen. Die glänzende, wirbelnde Farbe lockt die Fische an.
Nach dem College arbeitete er lange Zeit für den Forest Service, doch nebenbei sammelte er bei den örtlichen Kneipen – The Elusive Trout, Big Dick’s Halfway Inn – die Kronkorken ein und verkaufte seine Köder übers Internet. Dann rief die Miller Brauerei an. Jetzt bekommt man seinen Sechserpack für 30 Dollar in so ziemlich jedem Outdoor-Laden und Angelbedarfsgeschäft im Land. Mit dem Geld unterstützte er die Gründung des Kah-Nee-Ta – des Warm Springs Wellnesshotels und Kasinos –, wo Münzen aus Schlitzen klimperten und Wasserrutschen in Becken rauschten. Seit einigen Jahren wirbt er für eine weitere ähnliche Anlage – auf einem Grundstück außerhalb des Reservats bei Cascade Locks am Columbia River. 2005 unterzeichnete der Gouverneur einen Vertrag zwischen Stamm und Staat, der erste Schritt zur Einrichtung eines Glücksspiel-Trusts, aber seitdem ist nichts passiert, das Projekt hat sich im Gewirr der Bürokratie verfangen. Es gibt Gerüchte, Tom wolle der Manager von Cascade Locks werden, andere sagen, das seien tatsächlich nur Gerüchte.
Reden ist das, was Tom am besten kann, und Justin betrachtet ihn mit derselben verwunderten Freude, die ein Mäzen des Ortstheaters empfinden mag, wenn er einen Schauspieler eine neue Rolle spielen sieht.
Seine Stimme hat einen melancholisch flehenden Klang, und im Neonlicht von der Decke erscheint sein Gesicht verschattet und wie scharf aus Lehm geschnitten. »Mein Großvater jagte im Echo Canyon. Der Großvater meines Großvaters ebenfalls. Für so viele Familien, nicht nur die meine, ist das ein heiliger Ort. Dort zu bauen ist nicht richtig.«
Bobby räuspert sich und alle sehen ihn an. Zu beiden Seiten seines Gesichts verlaufen, von der Nase zum Kinn, tief eingeschnittene Furchen, wie Klammern, die andeuten, dass sich hinter dem, was er sagt, immer noch etwas anderes verbirgt. »Alles, was eben gesagt wurde, müssen wir natürlich erwägen und respektieren.« Er scheint dies mehr an den Reporter zu richten als an Tom. »Wir alle wissen sehr zu schätzen –«
Tom hebt die Hand. »Bei dir klingt es, als hätte die Kommission sich noch nicht entschieden. Lass doch den Blödsinn. Wir reden seit einem Jahr darüber. Worüber soll man jetzt noch reden? Was kommt als Nächstes? Wird es eine Misswahl geben?«
Bobby lächelt. Es ist ein Lächeln, das man nicht mögen soll. Er ist normalerweise ein angenehmer Mensch, aber Justin hat miterlebt, wie er einmal bei einer Grillparty explodierte, als er mit einem sehr liberalen, sehr freimütigen Kinderarzt über Ölbohrungen in Alaska in eine heftige Auseinandersetzung geriet. Der Streit endete damit, dass Bobby eine Bierflasche so heftig gegen einen Zaun schleuderte, dass es Schaumbläschen und Glassplitter regnete. Seitdem betrachtet Justin ihn mit anderen Augen, wundert sich immer über den Zorn, der knapp unter der Oberfläche seines Lächelns schwelt.
In diesem Augenblick zuckt ein Muskel in Bobbys Unterkiefer. Dann legt er beide Hände flach auf den Tisch, links und rechts der Karte, und senkt das Gesicht knapp darüber. Die Silberspitzen der Kordel schwingen hin und her wie Abrissbirnen, die Papierwälder umreißen und Papiercanyons graben.
»Eins habe ich an dieser Stadt nie gemocht«, sagt er in einem Flüsterton, den man deutlich hören soll. »Die ganzen verdammten Indianer.«
Alle verstummen, als hätten sie Angst oder es wäre ihnen peinlich, Tom überhaupt anzusehen, der jetzt ein Geräusch macht, als würde er ein Niesen unterdrücken. Dann steht er so schnell auf, dass er seinen Stuhl umreißt. Seine Stiefel knallen auf den Boden. Er zeigt die Zähne. Er winkelt den Arm an und holt aus, um Bobby zu schlagen. Justin weiß, was passieren wird, bevor es passiert. Kein Tag vergeht, ohne dass sein Vater auf Streit aus ist. Er sagt fast: »Nicht!«, aber es ist zu spät: Sein Vater steht auf, um Tom zu stoppen, er streckt die Hand aus und fängt dessen Faust in der Luft ab. Es klingt, als würde ein Baseball satt in einen Fängerhandschuh knallen. Ihre Arme zittern unter der Spannung zwischen ihnen beiden. Dann gibt Tom auf. Er lässt die Hand sinken, bewegt die Schulter wie ein verletzter Baseballwerfer und starrt Justins Vater in die Augen. »Halt den Mund, Paul«, zischt er, obwohl Justins Vater gar nichts gesagt hat.
Bobby schaut Tom an und hält sich die Hand vor den Mund, als wollte er sich davon abhalten, etwas zu sagen. Dann lässt er die Hand sinken, lächelt angespannt und sagt: »Das bringt uns mit Sicherheit nicht weiter.«
»Ob wir jetzt nett sind oder nicht, ich weiß bereits, wie sie abstimmen werden. Deshalb kann ich ebenso gut auch nicht nett sein.« Tom lächelt und zuckt die Achseln. »Ich könnte dich ebenso gut auch fertigmachen, weißt du?«
»Sehen Sie.« Bobby schaut den Reporter an und sagt mit einer Stimme, die seine Vernünftigkeit, seine Toleranz zu vermitteln versucht. »Sie müssen wissen, dass das alles sehr natürlich wird, praktisch ein Tribut an die Landschaft. Sogar eine Verbesserung. Und können Sie sich vorstellen, was das für die Grundstückswerte in Prineville und John Day tut?« Der letzte Satz ist an die Planungskommission gerichtet – und die alten Männer nicken und heben die Augenbrauen und spitzen die Lippen.
Tom sieht aus, als wollte er noch einmal zu Bobby stürzen und ihn ins Gesicht schlagen. Dann scheint seine Laune sich plötzlich aufzuhellen und er geht zu Paul, der, noch immer mit geballten Fäusten, ein paar Schritte vom Kopfende des Tisches entfernt steht. Zwei Mitglieder der Planungskommission weichen zur Seite, als Tom sich zwischen sie beugt und die Blaupause kurz anschaut. »Es gibt da einen Trick, den die Holzindustrie immer abzieht. Es ist ein guter Trick. Sie fällen Tausende Hektar Kiefern und Fichten, aber an den Straßenrändern lassen sie die Bäume sehr dicht stehen, um die Kahlheit dahinter zu verdecken. Bringt jeden dazu, diese Werbesprüche von Weyerhaeuser zu glauben, in denen es heißt: ›Oregon werden die Bäume nie ausgehen.‹ Aber man muss nur auf einen Berg steigen und nach unten schauen, und wie sieht es aus? Es sieht aus wie Scheiße.« Er deutet mit dem Kinn auf die Projektkarte. »Wie Scheiße.«
Er wendet sich dem Reporter zu, dessen Stift über den Notizblock saust. »Schreiben Sie das nicht«, sagt er. »Schreiben Sie Folgendes. Sind Sie bereit?«
Der Reporter nickt, ohne den Blick vom Notizbuch zu nehmen.
»Jetzt werde ich ein bisschen was über den Stolz der indianischen Nationen sagen, das man in der Zeitung bringen kann. Okay? Los geht’s!« Sein Stimme bekommt das Timbre eines Traums, als er in die Runde sagt: »Die Weißen brauchten fünfzig Jahre, um die Tasmanier so gut wie auszurotten. Ungefähr dieselbe Zeit für die Bisons. Und wenn man sich in Warm Springs umschaut, wenn man sich die Cree und die Sioux und die Chippewa und den Rest von uns anschaut, sieht man nichts anderes mehr als das Gerippe einer einst stolzen indianischen Nation. Und das weiße Establishment pickt weiter an unseren Knochen, nagt ab, was noch übrig ist, bis nichts mehr von uns übrig ist. Der Canyon ist das, was von uns noch übrig ist. Aber nicht mehr sehr lange.« Er schaut den Reporter an und fügt mit jetzt wieder normaler Stimme hinzu: »Haben Sie das oder muss ich es noch einmal wiederholen?«
Der Reporter legt Daumen und Zeigefinger zum Perfekt-Zeichen aneinander.
Bobby schaut auf die Uhr und dann in die Runde der Planungskommission. Sie haben alle die bedrückten Mienen von Kindern, die sich eben eine elterliche Strafpredigt anhören mussten. Sie haben das alles schon öfters gehört. Aus Respekt vor Beschwerden der Indianer hatte Bobby eine Gruppe von Archäologen der University of Oregon engagiert, die nach zweimonatigen Recherchen nichts anderes aufweisen konnten als ein paar kaputte Pfeilspitzen und eine einzige, in die Basaltwand des Canyons geritzte Felszeichnung.
Am Ende stimmt die Kommission zu Bobbys Gunsten, und als er die Kaffeebecher von der Karte nimmt, rollte sie sich langsam zusammen wie eine Faust.
Justins Vater ist nie mit ihm nach Hawaii oder Disneyland oder zum Mount Rushmore gefahren. Stattdessen belud er die Pritsche seines Pick-up mit Campingausrüstung und sie fuhren ins Christmas Valley, zum Umpqua River oder ins Malheur Preserve, wo sie mit ausgetrockneter Kehle über ein Wüstenplateau wanderten oder in schlangenförmigen Flüssen fischten oder im Wald nach essbaren Pilzen suchten. Jeden November fuhren sie zur Jagd in den Echo Canyon, hoch oben in den Ochoco Mountains, zwischen den hohen Kiefern und Bärengraswiesen. Obwohl Justin seit Jahren nicht mehr dort war, hat er eine starke Beziehung zu seinen dunklen Wäldern, wie sein Vater.
Das war der Grund, warum sein Vater, als Bobby vor einem Jahr mit seiner Firma – der Paul Caves Hand Hewn Log Cabin Company – Kontakt aufnahm, zwar »Ja« sagte, aber mit einem unüberhörbaren Unterton der Frustration in seiner Stimme.
Erfahren hatte Justin es im Hinterhof seines Vaters, wo sie Pfeil um Pfeil in einen Rehbock aus Polyurethan schossen, den sein Vater zwanzig Meter entfernt am Waldrand aufgestellt hatte. Er trug einen Lederköcher auf dem Rücken. Der Köcher war randvoll mit Pfeilen aus dem Holz einer norwegischen Kiefer, die er aus einem Wald an der Ostsee importierte, wo das kalte, raue Wetter für langsameren Wuchs und gutes, hartes Holz sorgte, wie er zumindest behauptete. Er befiederte sie mit roten Hahnenfedern.
In einem flüssigen Bewegungsablauf griff er hinter sich, um einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen, setzte die Hartholzkerbe auf die Sehne, spannte den Bogen und schoss ohne zögern, immer und immer wieder, sodass die Pfeile über den gemähten Rasen zischten und mit befriedigendem Sirren und Klacken ihr Ziel fanden. Für einen großen, kräftigen Mann, dessen Hände so ledrig und breit waren, dass sie aussahen wie Werkzeuge, konnte er sich schnell und sogar anmutig bewegen.
Justin weiß nicht mehr, wo seine Mutter in dieser Zeit war. Wahrscheinlich in der Küche beim Geschirrwaschen. Oder vielleicht am Tisch, wo sie den Spargel sorgfältig in mundgerechte Stücke schnitt. Wenn er an sie denkt, sieht er sie oft dunkel durch das Fenster seines Vaters. In vielen seiner Erinnerungen bleibt sie undeutlich, in den Hintergrund gedrängt von der Laustärke seines Vaters, seiner haarigen Massigkeit.
Justin sagte: »Du musst es nicht tun, das weißt du.«
Sein Vater schoss noch einen Pfeil ab, doch dieser verfehlte sein Ziel und prallte von einer Kiefer ab, bevor er im Wald verschwand. Er seufzte frustriert, senkte den Bogen und zupfte die Sehne, als würde er den ersten Ton eines traurigen Lieds suchen. »Und was dann? Dann bekommt eine andere Firma den Auftrag, und die Sache wird so oder so gemacht. Dann kriegt der andere das Geld auf die Bank, macht sich einen Namen da draußen und kriegt den Anruf, wenn sich wieder mal so was ergibt. Und wo bleibe ich dann? Von Politik hast du keine Ahnung.« Er zog noch einen Pfeil aus seinem Köcher und untersuchte die Spitze. Das Metall reflektierte die Sonne und ein dünner, glänzender Strahl wanderte über sein Gesicht. »Glaubst du, ich will, dass dieses schöne Land zerstört wird?«
»Es gibt da draußen viel schönes Land. Wir suchen uns einen anderen Canyon.«
»Ist das deine Meinung?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
»Ich weiß es nicht«, sagte er in einem nachäffenden Singsang, und sagte es dann noch einmal: »Ich weiß es nicht.« Er richtete den Pfeil auf Justin und brachte die rasiermesserscharfe Spitze bis auf wenige Zentimeter vor seine Brust. »Das solltest du dir übers Herz tätowieren lassen. Ich weiß es nicht. Nein, du weißt es nicht. Du weißt überhaupt nicht viel.«
Paul gehört nicht zu den Vätern, die in die Kirche gehen und Golf spielen und das ganze Jahr Weihnachtslieder pfeifen. Er ist ein Vater, der gern Sachen sagt wie: »Schmerz ist eine Schwäche, die den Körper verlässt« und »Weil man weiß, dass man am nächsten Tag sterben kann, sollte man keine grünen Bananen essen«. Er riecht nach Motoröl. Seine riesigen Hände scheinen in der Lage zu sein, Telefonbücher zu zerreißen und Bäume mit einem Ruck zu entwurzeln. Unter seinen Fingernägeln hat er immer Schmutz und blaue Flecken. Oft hat er ein Sandwich in seiner Tasche, das er dann immer wieder für einen Bissen herauszieht. Wenn er sich amüsieren will, geht er in den Bi-Mart und bewertet Pistolen.
Paul muss nicht so schwer arbeiten. Sein Geschäft läuft gut. Justin weiß das, weil er sich seit dem College um den Papierkram der Firma kümmert. Sein Vater könnte leicht mehr Männer einstellen, könnte seine Tage mit Kaffeetrinken und Vertragsverhandlungen zubringen und seine Hände weich werden lassen, aber wenn sein Name im Briefkopf steht, dann sollte er auf Zehn-Meter-Leitern steigen und den ersten und den letzten Nagel einschlagen – zumindest besteht er darauf. Es ist die Mentalität des immer an vorderster Front Seins.
Und so steuert er inmitten seiner Mannschaft den Betonlaster und gießt das Fundament. Er benutzt Breitäxte und Tischsägen, um Stämme zu bearbeiten, bis sie Kanthölzer sind. Er stemmt Kerben. Er schneidet Überlappungsverbindungen. Er benutzt Schneckenbohrer, um Löcher zu bohren.
Für ihn ist jeder Tag ein mechanischer Sturm aus kreischenden Kettensägen und raspelndem Schleifpapier und krachenden Hämmern. Sägemehl hängt in schweren Wolken. Als Justin ein kleiner Junge war, nahm sein Vater ihn manchmal mit. Justin brachte dann den Tag damit zu, sinnlos Nägel in Bretter zu schlagen, durch Türen zu rennen, aufs Dach zu steigen und sich vorzustellen, das Blockhaus gehöre ihm. Er erinnert sich, dass alles roch wie die Erinnerung an eine Sägemühle. Er erinnert sich, wie er seinem Vater bei der Arbeit zusah, mit nacktem Oberkörper, von dem manchmal Dampf in die kalte Bergluft stieg.
Sein Vater verlegt Böden. Er stapelt Balken zu Wänden auf, schneidet Schwalbenschwanzverbindungen für die Ecken. Er sägt die Dachsparren, sägt die Deckenträger. Er sägt die Fenster- und Türlöcher heraus, und sein Schmied gräbt ein Loch, füllt es mit Kiefernholz und lässt es herunterbrennen zu einem orangenen Bett aus Kohlen und stellt dann seine Esse auf, um Türangeln, Knäufe und Treppengeländer zu schmieden. Dann kommt das Verkleiden, das Verschließen der Ritzen, das Schleifen, das Lackieren, die Steinmetzarbeiten, das Verlegen von Installationen und Elektrizität.
Und Paul macht das alles und ernährt sich dabei fast ausschließlich von Fleisch und trinkt fast jeden Abend einen Sechserpack. Für Justin ist der Herzanfall deshalb keine Überraschung.
Danach erzählt ihm sein Vater, wie es sich anfühlte. Ein Gürtel schien sich immer fester um seine Brust zu spannen und die Welt wurde plötzlich dunkel. Er schwankte und stolperte vor fast fasziniertem Entsetzen über das, was mit ihm passierte, wie sein Körper sich zugleich zusammenzuziehen und auszudehnen schien. Als die Beine unter ihm nachgaben und er nach vorne kippte, versuchte er den Sturz mit seinem Arm zu bremsen, aber der war taub geworden, und er stürzte ungebremst zu Boden und schlug sich eine Platzwunde auf der Stirn.
Das passiert im späten Frühling – einige Monate nach der Sitzung der Planungskommission –, einige Zeit später tritt Justin durch die elektronischen Doppeltüren in die Notaufnahme des St. Charles Memorial. Die Luft riecht nach Desinfektionsmitteln und Tapioka und altem Obst. Als die Türen sich sirrend hinter ihm schließen, verstummt der Verkehrslärm und wird ersetzt durch gedämpfte Stimmen und Gummiräder und leise Musik aus den Lautsprechern. Im Wartebereich hängen Leute mit benommenen Gesichtern schlaff auf Stühlen, als wären sie aus großer Höhe gestürzt.
An der Empfangstheke lässt sich die Schwester lange Zeit, bis sie Justin bemerkt, erst als Justin sich räuspert, hebt sie den Blick von ihrem Klemmbrett. »Sind Sie verletzt?«, fragt sie. »Oder wollen Sie jemanden besuchen, der verletzt ist?«
»Sehe ich verletzt aus?«
Sie grinst ihn zickig an und fragt: »Name?«
»Wollen Sie seinen oder meinen?«
»Seinen Namen.«
Draußen heult irgendwo weit weg eine Sirene. Er nennt ihr den Namen, sie tippt ihn in den Computer ein und schickt ihn dann einen langen, buttermilchfarbenen Gang hinunter, an dessen Wänden Edelstahltische auf Rädern stehen. Er geht schnell, und der Lärm der Sirene folgt ihm, wird lauter, pulsiert durch die Stadt, durch Beton und Stahl und Glas, wie eine schnelle Brise über Wasser, um sich mit schockierender Laustärke auf ihn zu stürzen. Er begegnet einem Arzt mit einem braunen Schnurrbart. Der Arzt geht mit schnellen Schritten auf die Notaufnahme zu und pfeift im Einklang mit der Sirene, als würde er sie zu sich rufen.
Als er wegen seiner Frau im Krankenhaus war, spürte er Angst. Als er jetzt wegen seines Vaters im Krankenhaus ist, spürt er Hass. Er hasst diesen Ort, der versucht, ihm Menschen wegzunehmen. Er will schwarze Farbe auf die viel zu weißen Wände spritzen. Er will einem Pfleger, der eine Rollbahre in eine Richtung schiebt, die Kehle herausreißen, und dann einem anderen, der versucht, an ihm vorbeizukommen.
Und dann hört die Sirene einfach auf, genau in dem Augenblick, als Justin vor Zimmer 343 steht.
Er steckt den Kopf durch die Tür, und als er ihn eben wieder zurückziehen und weitergehen will, hebt der Mann auf dem Bett die Hand zum Gruß. »Dad?«, fragt Justin und zögert in der Tür. »Ich habe dich nicht erkannt.«
Sein Vater sieht nicht aus wie sein Vater. Er sieht aus wie eine Birne, die dunkel geworden und geschrumpft ist. Bei Justins Eintreten nimmt er die Fernbedienung zur Hand und schaltet den Fernseher aus und dann gleich wieder ein. Er hängt in einer Ecke von der Decke und zeigt einen Wetteransager, der an einem Strand in Florida vor sieben Meter hohen Wellen steht.
Bei einer Hochzeit hörte Justin Bobby Fremont einmal seinen Vater necken, er sehe aus wie ein wildes Tier, das man in einen Zweireiher gezwängt hat. Jetzt erscheint ihm das besonders zutreffend – haarig und braunhäutig, wie er ist, dabei so groß, dass er an allen Enden aus dem Bett hängt, und das alles vor dem Hintergrund dieses antiseptischen Weiß. Als Justin und sein Vater einmal nebeneinanderstanden, bemerkte seine Mutter, dass die beiden gleich groß seien. Es stimmte, aber Justin glaubte ihr nie. Es hatte etwas mit der Statur seines Vaters zu tun – die so viel breiter war als die seine –, aber noch mehr mit seiner Persönlichkeit, die sogar jetzt noch so stachelig ist, dass man die blanken Spitzen funkeln zu sehen meint.
Über seinem Bett hängt die Schwarz-Weiß-Aufnahme einer toten Lärche. Der Stamm sieht verkrüppelt aus, jeder kahle Ast reckt sich dem Himmel entgegen.
»Wo ist Mom?«, fragt Justin.
»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen dich anrufen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
Justin fällt es schwer, ihn anzusehen. Seine Augen sind von dunklen Schatten umrandet. Seine Nase wirkt zu spitz. Seine Lippen zittern ein wenig, wenn er spricht, falls er weinen möchte, lässt er es nicht zu. Er wendet den Kopf ab und schaut zum Fenster hinaus, hinter dem gerade die Sonne untergeht. Justin sieht, wie in dem verlöschenden Licht seine Gesichtsfarbe von rot zu blass wechselt, als hätte er sich, nachdem er vor Verlegenheit rot geworden war, nun wieder gefasst.
Wenige Minuten später betritt ein Arzt das Zimmer. Er hat eine hohe Stirn und silbrige Haare und trägt einen weißen Arztmantel mit einer ganzen Sammlung von Stiften in der Brusttasche. Jetzt zieht er einen heraus und hält ihn wie eine Waffe. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich fühle mich großartig.« Paul klatscht in die Hände. »Bereit zum Heimgehen.«
»Ich fürchte, das wird in nächster Zeit nicht passieren.«
»Wer sagt das?«
»Ich. Sie werden die nächsten Tage bei uns verbringen.«
»Aber ich muss wieder an die Arbeit!«
»Sie müssen sich eine Auszeit nehmen.«
»Still!« Er sagt das wie einen Fluch. »Das werde ich auf keinen Fall tun.«
»Werden Sie.«
Ein Konflikt huscht dunkel über seine Gesichtszüge und er seufzt schwer.
Eine Stunde später kommt Justins Mutter, stöhnt schon an der Tür auf und wirft seinen Infusionsgalgen um, als sie zu seinem Bett stürzt. »Es geht mir gut«, sagt er. »Der Arzt sagt, es geht mir gut. Er sagt, ich bin in null Komma nichts wieder draußen.«
Justin sagt: »Hoffen wir’s wenigstens.«
Sein Vater hebt die Hand, Zeige- und Mittelfinger überkreuzt, und dann wandert die Hand weiter zu seiner Stirn und berührt den Verband. Die nächsten drei Wochen wird er dort noch blaue Flecken haben, und irgendwann werden die zu einer roten Runzel schrumpfen, die er oft mit dem Finger berührt und sagt, dass er dort seinen Herzschlag spüren kann.