KAREN
Sie ist Restaurants wie dieses nicht gewöhnt, eine ehemalige Schmiede, die zu einem Salon mit Speisesaal im kalifornisch schicken Stil umgebaut wurde. Die Wände bestehen aus Backsteinen und Basalt, die mit grobem Mörtel verfugt sind. Die Stühle sind aus schwarzem Leder, die Tische aus dunkler lackierter Kiefer. Die gedämpfte Beleuchtung wird ein bisschen heller gemacht durch die vielen Spiegel, die im gesamten Speisebereich verteilt sind. In ihrem Wasser schwimmt eine Zitronenschale, die Fruchtfleisch absondert und saures Blut vergießt. Als der Kellner ihr die Serviette auf den Schoß legt, weiß sie nicht, ob sie Danke sagen soll oder Verschwinde.
Dann ist da noch der Mann ihr gegenüber, Bobby Fremont. Seine Augen scheinen nie von ihr zu weichen, sein Blick ist gierig und forschend, er zieht ihr die Bluse über den Kopf, hakt ihren BH auf, schiebt ihr den Rock hoch. Sie fühlt sich zugleich geschmeichelt und erniedrigt. Vielleicht ist das der Grund, warum sie hier ist – um sich so zu fühlen.
Bend ist eine so kleine Stadt, dass sie sich oft umschaut und nach einem vertrauten, verwunderten Gesicht sucht. Was sie zu einem Freund oder Kollegen sagen würde, weiß sie nicht so recht. Sie hebt ihr Wasser an den Mund. Eis klappert gegen ihre Zähne. Sie hat ihr Glas bereits ausgetrunken.
Ihr Ehemann ist einige hundert Meilen weit weg, und die Distanz fühlt sich gut an. Fühlt sich richtig an. Als sollten sie eigentlich getrennt sein. Justin redet nicht gern darüber, wie ihre Beziehung sich verschlechtert hat, aber hin und wieder, wenn er schlechter Laune ist oder ein paar Bier getrunken hat, kann sie ihn zu einem Streit provozieren. »Du bist nicht mehr der Mensch, den ich geheiratet habe«, sagte er vor ein paar Wochen. Sie widersprach ihm nicht.
Er dachte, es sei wegen des Babys. Aber das ist es nicht. Das Baby war nur eine schwarze Tür, die sie in ein entferntes Zimmer des Hauses führte, in dem die Fenster einen anderen Ausblick boten. Sie ist unglücklich. Sie mag ihr Leben nicht, so wie es ist, und sie glaubt, dass ihre Ehe etwas damit zu tun hat. Manchmal hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie fliehen will. Immerhin hat sie, was viele andere ein beneidenswertes Leben nennen würden. Ein wunderbares Kind, eine gute Arbeit, ein hübsches Haus. Sie sieht gut aus und ist gesund. Sie lebt im Schatten der Berge. Manchmal geht sie diese Liste durch, zählt an den Fingern all die Dinge ab, für die sie dankbar sein sollte. Sie versucht zu lächeln. Aber wenn sie lächelt, fühlt sich das eher an wie ein Riss, der durch die Kehle hindurch zu irgendeiner Dunkelheit in ihr führt.
Sie geht gern online und gibt bei Google Begriffe ein wie »Beulenpest« und »Genozid« und »Elephantitis« und sogar »Reizdarm«. Sie blättert durch die Websites und schaut bestürzt die Fotos an und fühlt sich dann kurzfristig besser.
Der Kellner – ein dunkelhaariger Mittzwanziger mit Koteletten – kommt an ihren Tisch und serviert ihnen das Essen: Das Ribeye-Steak für Bobby und in der Pfanne gebratener Heilbutt für sie. Der Kellner fragt, ob er sonst noch etwas für sie tun kann – noch etwas Wasser vielleicht? »Ja«, sagt sie. Dasselbe Wort hat sie zu Bobby gesagt, als er anrief und sie fragte, ob sie sehr beschäftigt sei, ob sie mit ihm zum Mittagessen gehen wolle. Ja. Automatisch. Ohne nachzudenken, eine reine Reaktion. Sie weiß nicht so recht, wozu sie noch Ja sagen wird – sie weiß nicht einmal, was sie sonst sagen sollte, wie sie sich so gegenübersitzen, sein Blick beständig auf ihr, nach ihren Augen suchend –, während ihr Blick durch den Raum huscht und sich auf alles und nichts konzentriert.
Sie kennt Bobby seit Jahren. Sooft sie und ihr Mann zu einer Party oder einer Wohltätigkeitsveranstaltung gingen, war er ebenfalls da, schlenderte durch den Saal, klopfte Schultern, schüttelte Hände. Einige Leute haben sich darüber beklagt, wie sehr Bend sich verändert hat, wie Bobby es verändert hat, die großen Parkplätze und die Betonkästen ihres neuen Einkaufszentrums, die hastig errichteten, neuen Wohnsiedlungen mit den beständig sich wiederholenden fünf Varianten einer Neo-Tudor-Fassade.
Die beiden hatten noch nie auch nur ein Hallo, wie geht’s? Schön dich zu sehen gewechselt, bis sie sich vor zwei Wochen mit einer Freundin in der Deschutes Brewery traf. Aus einem Pint wurden drei. Sie geht so gut wie nie mehr aus, und das Bier war so kalt und sie war so durstig, und als sie von ihrem Barhocker aufstand, musste sie sich konzentrieren, um nicht zu stolpern. Sie fühlte sich warm und entspannt. Die Musik plätscherte aus den Lautsprechern an der Decke, und sie hätte gern getanzt. Als sie Minuten später aus der Toilette kam, stieß sie mit Bobby zusammen. »Ups«, sagte er und fing sie, seine Hände auf ihrer Taille, sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. Sie spürte die Hitze, die er verströmte. Er ist viel älter als sie, aber attraktiv und fit und überbordend selbstbewusst. In diesem Augenblick küsste sie ihn. Direkt auf den Mund. Und er küsste sie zurück, aber zuerst lachte er, und als er es tat, spürte sie auch in sich ein Lachen. Und das war’s. Sie löste sich von ihm und kehrte zu ihrem Hocker zurück und schnappte sich ihre Handtasche und verabschiedete sich von ihrer Freundin und drehte sich nicht mehr um. Am nächsten Morgen hatte sie weniger ein schlechtes Gewissen, sondern zerbrach sich vielmehr den Kopf darüber, ob jemand sie gesehen hatte oder Bobby etwas sagen oder mehr wollen würde, als sie ihm geben wollte.
Und jetzt sind sie hier. Sein viel zu zahnreiches Lächeln ist eine Herausforderung. Dieses Essen hier ist eine Herausforderung.
Ihre Beine wippen unter dem Tisch. Sie ist heute Morgen zehn Meilen gelaufen, und sie will sich noch immer bewegen, über die Bürgersteige rennen, die sich durch die Stadt schlängeln. Sie hat so viel Energie, und weiß nicht, wohin damit. Das Innere ihres Körpers fühlt sich größer an als die Außenhaut. Sie weiß noch gut, dass sie sich als Teenager so fühlte. Wachstumsschmerzen nannte ihre Mutter das.
»Und?«, fragte Bobby und wischt sich mit der Serviette den Mund.
»Und.«
Er hebt die Augenbrauen, und sie überlegt sich krampfhaft, was sie sagen soll. Seit mehr als zwölf Jahren hatte sie schon kein Rendezvous mehr – falls das überhaupt eins ist. »Erzähl mir etwas, das du in letzter Zeit gelernt hast.« Das fragt sie normalerweise Graham beim Abendessen. Sie würde sich am liebsten selber schlagen, sich mit der flachen Hand auf die Stirn klatschen.
»Oh«, sagt er. »Gute Frage.«
»Wirklich?«
Er schneidet ein Stück Fleisch ab und steckt es sich in den Mund. Er legt Messer und Gabel nicht weg, sondern hält sie aufrecht, während er geräuschvoll kaut. »Hör zu. Hier ist eine Geschichte.« Er hat noch nicht geschluckt, aber das hält ihn nicht vom Reden ab. »Vor ein paar Tagen habe ich mir ein Grundstück angeschaut, das ich vielleicht kaufen will. Der Besitzer fuhr mit dem Makler und mir einen schmalen Feldweg entlang in eine Schlucht irgendwo am Ende der Welt – wirklich, am gottverdammten Ende der Welt. Wir schauen uns um und finden diese Drähte und Blechdosen mit Löchern darin. Anscheinend benutzten die Cowboys die Dinger, um wilde Pferde einzufangen. Wir reden vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie trieben die Pferde also in diesen Canyon, wo schon andere Männer warteten. Sobald die verstörten Pferde hereingerannt kamen, zogen diese Männer die Drähte straff, die sie zuvor auf den Boden gelegt hatten. An den Drähten hingen Stoffstreifen und Dosen voller Kieselsteine. Die Pferde glaubten dann, sie wären plötzlich eingezäunt. Und wenn sie gegen den Draht stießen, klapperten die Steine laut in den Dosen und schüchterten sie ein. Ist das nicht klasse?«
»Ist es. Klasse.«
Er schwenkt den Wein im Kelch, riecht ausführlich daran und öffnet die Lippen. Als er dann wieder spricht, ist die Hochachtung in seiner Stimme Verachtung gewichen. »Was für ein Haufen blöder Pferde. Und was für eine einfache Idee, sie zu fangen.« Seine Augen, die bereits auf ihr ruhen, scheinen ihren Fokus zu verengen. »Man braucht keine Bäume oder Holz oder stundenlange Arbeit, muss nicht darauf warten, bis der Geruch der Männer verflogen ist.«
Sie trinkt einen Schluck Wasser.
»Muss keine gezähmten Pferde bis zur Erschöpfung reiten, um einer durchgehenden Herde nachzujagen.«
Sie trinkt noch einen Schluck, und dann ist ihr Glas wieder leer bis auf das Eis, unter dem die Zitrone begraben ist wie ein ertrunkener Kanarienvogel. Sie schaut sich im Restaurant nach ihrem Kellner um, kann ihn aber nirgends entdecken, und als sie sich wieder Bobby zuwendet, merkt sie, dass er sie noch immer anschaut.
»Was ist mit dir?«, fragt er.
Sie merkt, dass sie pinkeln muss. »Was ist mit mir?« Sie trägt die Haare offen. Das macht sie schon seit Längerem nicht mehr. Es fühlt sich fremdartig an, wie es über ihr Gesicht streicht und ihre Sicht zur Seite beschränkt. Sie fühlt sich maskiert hinter ihren Haaren, versteckt. Das ist gut. Da das Restaurant gut gefüllt ist und draußen auf der Straße viele Leute vorbeigehen, ist das Risiko hoch, von jemandem entdeckt zu werden.
»Was hast du in letzter Zeit gelernt?«
»Hm. Mal sehen.« Sie senkt den Blick auf seinen Teller, den Wald aus Broccoli am Rand. »Hast du gewusst, dass Broccoli so ziemlich das Blähendste ist, was man essen kann?« Ihr Mund scheint jemand anderem zu gehören. Sie kapiert nicht, warum sie das gesagt hat. Vielleicht weil es ihr egal ist? Aber wenn es ihr egal wäre, würde sie jetzt im Augenblick nicht vor Verlegenheit unter den Tisch kriechen wollen.
Sein Lächeln schwindet einen Augenblick, bevor es sich wieder in seinem Gesicht festsetzt. »Muss ich mir merken.«
»Tut mir leid.«
»Was?«
»Ich bin an so etwas einfach nicht gewöhnt.«
»Ist doch okay.«
»Wirklich?«
Bobby schneidet wieder in das Steak. »Wir essen doch nur zu Mittag.«
»Mehr nicht?«
Ihr gefällt die Art, wie Bobby sie ansieht, so intensiv und so anders als ihr Mann, dessen Augen sie nicht mehr suchen, immer auf etwas anderes gerichtet sind, ein Buch, einen Stapel Papiere, das Fenster. »Schau mich doch einfach an, wenn ich mit dir rede.« Aber sie weiß auch, wenn er sie wirklich einmal ansieht – gierig, wenn sie aus der Dusche steigt und das Handtuch vom Halter zieht –, wünscht sie sich, er würde weggehen. Vielleicht weil es das einzige Zusammensein mit ihr ist, das er noch will; ansonsten könnten sie, was ihn angeht, auch in ihren getrennten Zimmern bleiben. So fühlt es sich auf jeden Fall an. Sie ist verwirrt. Sie beide sind verwirrt. Sie weiß das.
»Willst du wissen, was ich noch gelernt habe? Ich habe gelernt, dass jeder Mensch zwei Gesichter hat. Es gibt das äußere Gesicht, die Maske, die man für die Welt trägt, und das innere Gesicht, das nur herauskommt, wenn die Jalousien heruntergelassen und die Türen geschlossen sind.«
»Ist das wirklich so?«
»Ja. Es ist so. Ich will dir ein Beispiel geben. Du kennst doch Tom Bear Claws?«
»Den Indianer. Der dich hasst.«
»Genau der. Hast du gewusst, dass er mich nicht hasst und ich ihn nicht hasse? Dass wir tatsächlich sogar Freunde und Geschäftspartner sind? Hast du das gewusst?«
»Das verstehe ich nicht.«
»Weil du nur das äußere Gesicht kennst.« Er hebt sein Weinglas und hält es so, dass ein Auge, jetzt riesig und vorquellend, sie durch das Glas anschaut. »Äußeres Gesicht, inneres Gesicht.«
»Wahrscheinlich.«
Sie schaut nach draußen, wo eben eine Wolke vor die Sonne zieht und die Welt verdunkelt. Ihr Spiegelbild erscheint im Fenster. Ihre Haare bedecken den Großteil ihres Gesichts, aber sie kann ihre Lippen sehen, und sie sind rot und zu einem merkwürdigen Lächeln nach oben gebogen. Diese Frau hat sie schon lange nicht mehr gesehen, und sie erkennt sie nicht wieder.
»Du siehst wunderschön aus, weißt du.«
Sie lacht bellend.
»Was ist?«
»Sag das noch mal.«
»Du siehst wunderschön aus?«
»Das habe ich lange nicht mehr gehört. Es ist nett, es zu hören.«
In Träumen muss man manchmal rennen – weil etwas einen verfolgt –, aber so sehr man sich auch anstrengt, der Körper reagiert wie mit Bleigewichten beschwert. Ihr geht es oft so. Sie fühlt sich, als würde sie durch einen Tagtraum waten. Aber sie wird nicht verfolgt. Stattdessen verfolgt sie etwas, vielleicht nur ein Gefühl: Lebendigkeit.
Sie ist sich nicht sicher, wie man so etwas nennt. Eine Midlife-Crisis. Das verflixte siebte Jahr, das fünf Jahre zu spät kommt. Sie fühlt sich gelangweilt, aufgebracht, beengt, niedergedrückt.
Bobby fragt: »Was ist das Schönste, das du je gesehen hast?«
Sie lächelt und senkt den Kopf – sie kann sich nicht entscheiden, ob er kindisch oder charmant ist. Eine solche Frage hätte ihr vor langer Zeit ein Junge stellen können, als sie im Auto oben auf dem Gipfel des Pilot Butte saßen, mit den Sternen über ihnen und den Lichtern der Stadt unter ihnen gleich hell.
»Ich weiß es nicht.« Sie will sagen, wie ihr Sohn ihr zwischen den Beinen herausgezogen und zwischen ihre Brüste gelegt wurde und das Blut durch die Nabelschnur noch zwischen ihnen floss, aber sie tut es nicht. Stattdessen greift sie zu ihrem Glas und schwenkt den Inhalt. »Und du?«
»Du.«
»O Mann. Du weißt aber, wie man dick aufträgt, was?«
»Hey, ich meine das ernst.«
»Aha.«
»Du bist fantastisch. Das bist du wirklich.«
Sie merkt, dass sie mit ihren Haaren spielt, sie schüttelt, sich eine Strähne um den Finger wickelt und dann wieder loslässt. »Ich bin verheiratet, Bobby.«
»Ich glaube nicht wirklich an die Ehe. Ich habe es dreimal probiert, weißt du, deshalb bin ich bei dem Thema in gewisser Weise ein Experte. Und meiner Meinung nach ist die Ehe widersinnig. So ticken wir nicht. Will man sein ganzes Leben lang immer dieselben Hosen tragen oder dasselbe Gericht essen? Ich liebe dieses Ribeye, aber ich würde es mir nie und nimmer jeden Tag bestellen.«
»Dann bin ich also Fleisch für dich?« Sie kann nicht einschätzen, wie sie klingt, ob flirtend oder spöttisch.
»Wir sind alle Fleisch, Karen. Aber ich habe das nur als Analogie gemeint.«
Als die Rechnung kommt, greift sie danach, obwohl sie weiß, dass er darauf bestehen wird zu bezahlen. Aber danach zu greifen vermittelt ihr kurzfristig ein Gefühl der Kontrolle. Und dann liegt seine Hand da, auf der ihren, schwer und gebräunt und von Adern überzogen. »Die Rechnung gehört mir.«
Sie überlässt sie ihm, ohne ihre Hand wegzuziehen.
»Gehen wir noch zu mir«, sagt Bobby, es ist keine Frage, sondern eine Aussage. »Einen Drink vielleicht?«
Sie schaut auf ihre Uhr, ohne die Zeit zu erkennen. »Ich glaube nicht.«
»Hast du was Besseres zu tun?«
»Ich muss noch laufen.«