JUSTIN
Ein Traum von einem großen schwarzen Vogel flattert mit dem Aufwachen davon. Dieser Morgen ist schlimmer als der letzte. Seine Wimpern sind verklebt, sein Kissen ist feucht von Rotz. Unter dem Kiefer hat er Schwellungen, seine Lymphdrüsen fühlen sich an wie wässrige Murmeln. Er massiert sich die Nebenhöhlen und spürt einen Kloß im Hals. Ächzend schält er sich aus dem Schlafsack und zieht seine Jeans an. Die Kälte ist in den Baumwollstoff gekrochen, seine Beine überziehen sich mit Gänsehaut.
Sein Körper fühlt sich an, als wäre er über Nacht verkalkt. Direkt vor dem Zelt streckt er den Hals und drückt sich die Knöchel ins Kreuz, bis er sich nach einigem Knacken etwas lockerer fühlt.
Die Nacht hat die Welt mit einem Hauch aus Tautropfen überzogen. Ein leichter Dunst hängt über dem Boden, wirbelt um Baumstämme und weht über den Fluss, doch die aufgehende Sonne wird ihn bald wegbrennen.
Dann bemerkt er um das Zelt herum das frisch zertrampelte Gras und den Stiefel, der direkt vor ihm liegt. Das Leder ist zerrissen und verfärbt, als wäre er durch den Verdauungstrakt eines großen Tiers gewandert. Er erkennt ihn als den Stiefel des toten Mannes. Lange steht er nur da, starrt ihn an und versucht, sein noch vom Schlaf vernebeltes Hirn zum Funktionieren zu bringen. Der Anblick ist so verstörend wie der einer Spinne, die über die Linse eines Projektors läuft und vergrößert auf die Leinwand geworfen wird. Eine furchteinflößende Unterbrechung des Albtraums dieses frühen Morgens.
Ihm fällt ein, was Graham am Abend zuvor gesagt hatte – dass Bären fast so intelligent sind wie Menschen –, und fragt sich, was für eine Tierart eine Warnung hinterlassen würde. Keine Tierart.
Wahrscheinlich war es der Hund. Der Hund hat den Stiefel gefunden und hier abgelegt. Das ist die einzig vernünftige Erklärung.
Als er zur Feuergrube geht, weicht er dem Stiefel aus, behält ihn dabei aber im Blick, als könnte er hochspringen und ihn treten. Mit zusammengeknüllten Zeitungsseiten entzündet er ein paar Holzscheite, und bald hat er ein Feuer knistern.
Er denkt an letzte Nacht. Jetzt sieht er sie nur noch als Schwarz-Weiß-Bilder vor sich, wie eine Szene aus einem alten Film, an die man sich nur undeutlich erinnert. Die Gefahr, die er zu der Zeit spürte, wirkt jetzt nicht mehr greifbar, da er die kalte Morgenluft einatmet und sieht, wie die Luft um ihn herum immer heller wird. Aber dieses Gefühl der einstweiligen Sicherheit verschwindet, als er zum Waldrand geht, um den Leinwandsack zu holen, und feststellen muss, dass er nicht mehr da ist.
Der Ast hängt schief herunter, ist vom Baum gerissen, auf dem er eine herzförmige Wunde leuchtend weißen Holzes am Stamm hinterlassen hat. In Bodennähe, wo das Seil festgebunden war, entdeckt er Kratzspuren in der Rinde, hier haben Klauen und Zähne an dem Seil gezerrt, bis auch der letzte Faden gerissen war. Um den Baum herum und auch in den Wald hinein ist das Gras niedergetrampelt. Irgendetwas hängt in der Luft. Wenn er die Nasenlöcher weitet und tief einatmet, kann er es riechen. Es riecht wie Boo, wenn er aus dem Fluss kommt und sich schüttelt. Nach Sperma. Nach Haaren. Mit einem Hauch von muffigem, altem Frittierfett.
Er lauscht angespannt, hört aber nur Vogelgezwitscher und den Fluss, deshalb hebt er den Fuß und macht einen zögerlichen Schritt, überquert die Grenze zwischen der immer heller werdenden Wiese und dem noch schattenverhüllten Wald. Dabei spürt er ein Kribbeln in den Fußsohlen, als würde die Hitze der Bärentatzen noch aus dem Waldboden strahlen. Er bewegt sich vorsichtig, bahnt sich einen Weg durch ein Gebüsch, steigt über einen Stamm und achtet darauf, keinen Ast zu zertreten oder an einer Wurzel hängen zu bleiben. Nach nur ein paar Metern entdeckt er das Seil, wie eine Schlange liegt es in den braunen Kiefernnadeln. Er folgt ihm durch einen engen Korridor aus Bäumen und findet an seinem Ende den Sack, noch daran festgebunden, aber aufgerissen und der Inhalt auf dem Waldboden verstreut.
Eine Packung Oreos liegt zerfetzt unter einem Busch, aufgenagt und geleert. Mehrere leere Pepsi-Dosen glänzen hier und dort zwischen den Bäumen, das dünne Blech von scharfen Zähnen schartig aufgerissen, damit der Bär den zuckrigen Rückstand ablecken konnte, der noch an dem Metall klebte. Von der Bratpfanne wurde der Griff abgebrochen.
Kleidungsstücke, ihre schmutzigen Sachen, wurden in die Erde getreten oder auf seltsame Weise über Büsche geworfen. T-Shirts und Socken und Jeans. Vor seinen Füßen findet er eine Unterhose. Kindergröße, weiße Boxershorts. Er hebt sie auf. Sie sind noch feucht von Speichel und am Hintern aufgerissen. Er stellt sich seinen Sohn darin vor, wie Zähne an ihm nagen, ihn aufreißen.
Das ängstigt ihn am meisten, der Anblick dieser Unterhose. Sofort sieht er das Gesicht seiner Frau vor sich; es ist verschlossen, abweisend, wie eine Tür, für die er keinen Schlüssel hat. Er fragt sich, um wie viel versteinerter sie noch werden wird, wenn er ihr davon, von ihrer Zeit im Canyon erzählt.
Er untersucht den Sack. Er ist noch zu benutzen, wenn er ihn sich beim Gehen an die Brust drückt. Die lange, fransige Wunde, die ihm gerissen wurde, kann genäht werden. Er macht sich daran, ihre Kleidung, den Müll und die Kochutensilien einzusammeln. Als er die Hand auf die Bratpfanne legt, kriecht ihre Kälte seinen Arm hoch, zusammen mit dem Gefühl, beobachtet zu werden. Er sucht den Wald in seiner Umgebung nach Bewegungen ab. Ein Eichhörnchen bearbeitet einen Kiefernzapfen, ein Meisenhäher flattert zwischen den Bäumen umher.
Als er zum Lager zurückkehrt, verschwindet dieses Gefühl nicht.
Seine Füße fühlen sich kalt und blutleer an, während er auf dem Feuer Kaffeewasser kocht. Der Geruch der gemahlenen Bohnen weckt seinen Vater. Er kommt in seinem weißen T-Shirt und seiner durchlöcherten Unterhose aus dem Zelt. Er streckt sich und gähnt theatralisch, und das Geräusch lockt Boo aus dem Zelt. Er nimmt sofort den Stiefel zwischen die Zähne und präsentiert ihn Justins Vater, wie eine Katze es mit einer toten Maus machen würde. »Verdammt, Boo.« Sein Vater nimmt den Stiefel und droht damit dem Hund. »Böser Hund. Böser Hund.«
Boo kläfft einmal und legt verwirrt den Kopf schief, und sein Vater untersucht den Stiefel. »Das Ding sieht aus, als wäre es in einen Häcksler geraten«, sagt er, bevor er ihn dreißig Meter weit in den Fluss wirft. Kurz schwimmt er auf dem Wasser, treibt von ihnen weg wie eine abgefeuerte Kugel in Zeitlupe, dann versinkt er.
Justin bemüht sich um einen neutralen Ton. »Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden.«
»Sag bloß nicht, dass du Angst hast.«
Justin erzählt ihm von letzter Nacht – dem Besuch –, und dann von heute Morgen – dem abgerissenen Ast. Während er redet, geht sein Vater zu dem Sack, der wie ein ausgenommenes Tier neben dem Zelt liegt. Er tritt dagegen, und die Pfannen und Teller darin klappern.
»Ich will weg. Okay? Können wir fahren?«
»Werden wir.«
»Wann?«
»Werden wir.«
»Aber wann? Wann werden wir?«
»Heute Abend. Wie geplant.« Sein Vater lächelt beinahe, das sieht Justin. Ist es die Gefahr, die ihn reizt, der Flirt damit?
»Denk an Graham.«
»Weißt du nicht mehr? Es ist eine Million Mal wahrscheinlicher, dass man an einem Bienenstich stirbt. Weißt du das nicht mehr?«
»Hundert Mal.«
»Hundert. Eine Million.« Er zuckt die Achseln, als wäre das kein Unterschied. »Seit über fünfzig Jahren komme ich jetzt hierher. Und hatte nie irgendwelche Probleme.«
»Das ist ein Problem.« Justin deutet auf den Sack als Beweisstück. »Du hast dein Problem direkt vor deinen Füßen.«
Anscheinend starrt Justin ihn mit nackter Wut im Gesicht an. Um sich dagegen zu wehren, verschränkt sein Vater die Arme. »Diesen Ort wird es morgen nicht mehr geben«, sagt er. »Ich habe nur noch ein paar Stunden, um ihn zu genießen. Ich werde jetzt ein schönes Frühstück essen. Und dann werde ich gute, frische Luft atmen. Und ich werde den Vögeln lauschen und ein bisschen wandern. Dann werde ich einen Hirsch schießen, einen großen.« Mit der Zunge greift er nach einer Bartsträhne, zieht sie in den Mund und kaut. »Und weder du noch ein Hinterwäldler oder ein Bär können mich davon abbringen.« Er klopft Justin auf den Schenkel – nur einmal –, wie um dem Satz Nachdruck zu verleihen und die Diskussion ein für alle Mal zu beenden.
Graham wacht mit einem Rasseln in der Brust auf. Er sitzt am Lagerfeuer und hustet in seine Faust und geht zu einem anderen Klappstuhl, als der Wind sich dreht und ihm Rauch ins Gesicht bläst, der den Husten noch schlimmer macht. Sobald er kann, saugt er an seinem Inhalator, gibt sich zwei Einheiten Albuterol. Das hilft ihm schließlich, mehrere Batzen Schleim aus der Lunge zu husten. Er spuckt sie ins Feuer, wo sie zischen.
Als der Husten endlich aufhört, erwarten sie die Geräusche des Morgens. Der Fluss. Das Flattern von Krähenflügeln in einem nahen Busch. Das Pfeifen eines Murmeltiers. Das Geräusch von etwas, das sich von einem Baum löst und durch die Äste klappert und mit einem dumpfen Schlag auf dem Waldboden auftrifft.
Die Sonne bricht durch die dunklen Baumstämme und taucht alles in ein fahlrotes Licht. Für die Augen ist es fast schmerzhaft, der ganze Canyon ist ein von Schatten durchschnittenes Zinnoberrot.
»Roter Himmel am Morgen ist dem Seemann eine Warnung«, sagt Justins Vater mit Blick auf den Wald.
Als sein Vater zum Fluss geht, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen und sich unter den Achseln zu waschen, setzt Justin sich zu Graham, der mit den Ellbogen auf den Knien und der Kamera in der Hand dasitzt. »Was machst du da?«
»Ich schau mir meine Fotos an.«
Auf dem Display sieht Justin die Aufnahme, die Graham am letzten Abend gemacht hat – nur Justin ist nicht drauf. Das Zentrum ist sein Vater, die Lippen feucht vom Schnaps und zu einem schiefen Lächeln verzogen.
»Wo bin ich?«
»Schätze, ich wollte dich nicht draufhaben.«
Die Worte schmerzen so, wie sie treffenderweise das Wochenende beschreiben. Justin fängt jetzt an zu spüren, was alle Eltern spüren – wenn ihr Kind in diese spezielle Lebensphase eintritt, die charakterisiert ist von verschlossenen Zimmertüren und plärrender Musik und theatralischem Augenverdrehen –, man fühlt sich verraten von der wachsenden Distanz zwischen Kind und Eltern. »Oh«, sagt er nur, weil er nicht mehr herausbringt.
Dann deutet Graham auf eine Stelle hinter der Schulter seines Vaters. »Siehst du das?« Er beugt sich über die Kamera und benutzt den Zoom, um den Hintergrund deutlicher zu machen, bis das Display eine gepixelte Silhouette mit zwei starrenden Leuchtkäfer-Augen zeigt. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Justin. Von letzter Nacht hat er Graham nichts erzählt – nichts von der Schnauze, die gegen das Zelt drückte, nichts von dem vom Baum gerissenen Leinwandsack –, weil er weiß, dass er dem Jungen damit nur Angst machen würde. »Vielleicht ein Opossum.« Justins Blick wandert zum Wald, zu der Stelle, wo die Augen waren. Dort spielen zwischen den Kiefern Schatten.
»Du glaubst nicht, dass es ein Bär ist?«
»Nein. Das glaube ich nicht.«
Justins immer größer werdende Besorgnis implodiert und verkriecht sich tief in seinem Inneren, als Graham die Kamera ausschaltet und das Display schwarz wird. Dass er, ein Kind, die Möglichkeit der Gefahr so einfach abtun kann, bringt Justin dazu, sich selber zu schelten, weil er so leicht zu erschrecken ist –, auch wenn die Augen noch schwach in seinem Kopf brennen.
»Dad?«, sagt Graham und schaut Justin jetzt an, schaut ihn richtig an. Unverwandt, besorgt, empfindsam – das ist sein Sohn –, und Justin legt ihm den Arm um die Schultern, als wollte er ihn wieder bei sich aufnehmen. »Ich vermisse Mom.«
»Wir sehen sie ja bald wieder.«
Eine Weile schauen sie einander an. Seine Augen haben diese wunderschöne Grauschattierung, die man für einen Edelstein in einem bedeutungsvollen Schmuckstück auswählen würde. Justin sieht in ihnen eine Entschlossenheit, die für ihn noch unerreichbar war in diesem Alter, als seine weicheren Teile noch sehr leicht nachgaben, und er ohne jedes Selbstbewusstsein tat, was man ihm sagte. Justin deutet einen Boxhieb zum Kinn an und klopft ihm dann laut und mit beinahe gewalttätiger Zuneigung auf den Rücken.
»Aber zuerst müssen wir diesen Tag noch überstehen. Und ich freue mich auf diesen Tag«, sagt Justin, doch sein Blick wandert zur Kamera. »Ich habe das Gefühl, es wird ein guter Tag.«