Die vaterlosen Welpen von Hope waren fast fünf Monate alt. Sie waren schlank und schlaksig, mit ihrem dichten Winterfell aber nur wenig kleiner als die drei älteren Wölfe. Die Milchzähne hatten sie inzwischen fast alle verloren, und obwohl sie sich bei der Jagd noch zurückhielten und noch viel über das Leben in der Wildnis lernen mussten, wurden sie mit jedem Tag verwegener und gewitzter.
Mittlerweile hatten sie alle ihren festen Platz in der Rangordnung des Rudels, und ob im Spiel oder im Ernst, bei einer Rast oder am Kadaver einer Beute, stets unterwarfen sich die Schwächeren bereitwillig dem Stärkeren. Sie legten die Ohren an, zogen den Schwanz ein und krochen auf ihn zu, leckten ihn ab und schnappten nach den Kiefern des kräftigeren Tiers, das selbstbewusst mit hohem, buschigem Schwanz über ihnen stand.
Da ihr Vater, der Alpha-Rüde und Kälberkiller, tot war, erwarteten die Welpen ebenso wie die beiden Jungtiere von der Mutter die Führung des Rudels. Sie war jetzt diejenige, die alle von ihrem Nachmittagsnickerchen aufscheuchte und zur Jagd zusammentrommelte. Sie war es auch, die sie durch den herbstlich dämmrigen Wald führte, die stehenblieb, um in der kalten Nachtluft Witterung aufzunehmen, die entschied, welches Tier zur Beute wurde und welches nicht.
Nur das jüngere Weibchen hatte zusammen mit seinem Vater Kälber gerissen, auch wenn sich die übrigen Tiere dann an der Beute satt fraßen. Das Weibchen war auch an jenem Abend bei ihm gewesen, als ihn die tödliche Kugel getroffen hatte. Voller Entsetzen war es geflohen. Seither gab es sich damit zufrieden, sich der Führung der Mutter zu unterwerfen.
Und ob aus Angst oder angeborenem Instinkt – das Muttertier hielt sich von jenen Orten fern, an denen das Vieh der Menschen weidete, und machte Jagd auf Elche oder Hirsche, die zum Winter von den Bergen herabkamen und durch die Brunft unachtsam wurden. Die Elchbullen kämpften mit Macht um ihren Harem, und die Berge hallten wider von ihrem Röhren und dem Krachen der aufeinanderprallenden Geweihe.
Doch die Wölfe waren nicht die einzigen Jäger, auch menschliche Räuber waren unterwegs. Seit einem Monat nun zogen Männer in grün-braun gefleckten Anzügen, mit erdbeschmierten Gesichtern, mit Bogen und rasiermesserscharfen Pfeilen durch die Cañons und ließen haufenweise Gedärm liegen, von dem die Wölfe fraßen, wenn sie, wie so oft, selbst nichts gerissen hatten.
Bald tauchten auch Männer in leuchtendem Orange mit Gewehren auf. Manche fuhren in ihren Autos über die Waldwege und schossen aus dem Fenster auf alles, was ihnen vor den Lauf kam. Die romantischeren Naturen besprühten sich mit Hirschdrüsenduft oder imitierten die Brunftschreie, um die Tiere ins Fadenkreuz ihres Zielfernrohrs zu locken.
Einen Monat lang herrschte im Wald hektisches Treiben; es wurde begattet und getötet, im Überfluss Leben gesät und vernichtet.
Die beiden Jäger stapften schweigend den Weg entlang. Das einzige Geräusch auf dem nassen Waldboden war das Quatschen ihrer Gummistiefel. Ein steiler, mit Douglastannen bewachsener Abhang verschwand über ihnen hinter dem Vorhang eines klammen, herbstlichen Nebels, der seit dem Morgengrauen über dem Cañon lag.
Die Männer trugen Kampfanzüge, und in den Gürteln steckten Automatikpistolen und lange Messer mit gezackten Klingen. Auf dem Rücken schleppten sie Rucksäcke, und die Magnum-Gewehre hingen ihnen über der Schulter. Morgen begann die Jagdsaison, und diese beiden wollten offensichtlich vom ersten Augenblick an dabei sein. Wahrscheinlich würden sie irgendwo ihr Zelt aufschlagen und noch vor dem Morgengrauen auf Pirsch gehen.
Helen saß auf dem Beifahrersitz ihres Toyota und streichelte dem schlafenden Buzz gedankenverloren über den Kopf, während sie die Männer im Seitenspiegel näher kommen sah.
Es waren nicht die ersten Jäger der Saison, die sie und Luke zu Gesicht bekamen. Einer von ihnen, kaum älter als sechzehn, hatte sie gefragt, wofür denn die Fallen waren, und als Helen es ihm erklärte, hielt er mit weit aufgerissenen Augen einen Vortrag darüber, dass Wölfe sämtliches Rotwild und alle Elche töteten, die doch von Rechts wegen ihnen, den Jägern, zustanden. Etwas in seinen Augen ließ Helen an die jungen Soldaten denken, die Joel in seinem Brief beschrieben hatte.
Sie beobachtete Luke, wie er durch den Wald zum Weg herunterkam, über der Schulter die Fallen, die er gerade eingesammelt hatte. Sie mussten sämtliche Fallen abbauen, da es ihrer Sache wohl kaum diente, wenn ein Jäger in eine hineintrat. Doch als Helen die beiden Typen im Rückspiegel sah, gefiel ihr der Gedanke gar nicht so schlecht.
Als die Jäger auf Höhe des Wagens waren, trat Luke aus dem Wald. Ruckartig fuhr Buzz hoch, sah die Männer und begann zu bellen und zu knurren. Helen befahl ihm, still zu sein, und kurbelte das Fenster herunter.
Die Jäger musterten die Fallen, die Luke zu den bereits eingesammelten auf die Ladefläche warf. Helen glaubte, einen der Männer von der Wolfsversammlung wiederzuerkennen, und als die beiden an ihr vorbeigingen, lächelte sie ihm zu und sagte hallo. Ohne eine Miene zu verziehen, nickte er kaum merklich mit dem Kopf. Doch einige Schritte weiter sagte er etwas zu seinem Begleiter, das Helen nicht verstand, woraufhin sich der Mann nach ihr umdrehte. Dann fingen beide an zu lachen. Luke setzte sich ans Steuer.
»Rambo-Idioten«, sagte Helen.
Luke lächelte. Er ließ den Motor an.
»Waren Sie n-nie auf Jagd?«
»Nein, aber ich kenne genügend Biologen, die auf Jagd gehen. Dan Prior zum Beispiel. Er war mal Großwildjäger, und darüber haben wir uns bei unserer gemeinsamen Arbeit in Minnesota endlos gestritten.«
Sie fuhren jetzt an den Jägern vorbei. Helen lächelte sie erneut freundlich an. Buzz knurrte.
»Dan behauptete stets, im Grunde sei der Mensch ein Raubtier und dürfe den Kontakt zu seinem innersten Wesen nicht verlieren. Er sagte, es sei das Problem unserer Gattung, dass wir uns zu sehr von unserer wahren Natur entfernt haben. Und die eine Hälfte in mir sagt, okay, stimmt, die andere aber hält das bloß für einen verdammt guten Vorwand der Männer, sich als echte Kerle aufzuspielen, so nach dem Motto: ›He, wir sind geborene Killer, also los, Kumpel, lass uns was killen.‹ Ich persönlich bin ehrlich gesagt eine lausige Schützin.«
Luke lachte.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Helen. »Waren Sie schon mal auf der Jagd?«
An der Art, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, merkte Helen, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Sie müssen es mir nicht erzählen.«
»Ist sch-sch-schon in Ordnung.«
Er berichtete von dem Elch, wie er auf ihn geschossen, ihn verwundet im Baum gefunden und sein Vater ihn dann gezwungen hatte, ihm beim Ausweiden zu helfen. Während er redete, hielt er den Blick starr auf den Weg gerichtet. Helen betrachtete ihn über Buzz’ Kopf hinweg und versuchte, sich vorzustellen, was er ihr erzählte.
Seit jenem kalten Morgen, an dem er sie völlig apathisch in ihrer Hütte gefunden hatte, war eine Nähe zwischen ihnen entstanden, wie sie sie bisher noch nie erlebt hatte. Sie wusste, ohne ihn hätte sie das nicht durchgestanden.
Und während sie sich langsam von ihrem Schock erholte, jeden Tag ein bisschen mehr, hatte er dafür gesorgt, dass sie etwas aß, dass sie schlief und es warm hatte. Spätabends erst, wenn er die Lampen gelöscht und Holz im Ofen nachgelegt hatte, machte er sich auf den Heimweg. Und beim Morgengrauen war er wieder da, ließ Buzz hinaus und machte Kaffee.
In den ersten Tagen hatte Helen kaum ein Wort herausgebracht. Es war wie in einem Wachkoma. Doch statt in Panik zu geraten oder sie mit Fragen zu belästigen, hatte er sich still um sie gekümmert, als sei sie ein verletztes Tier, als verstehe er auch ohne viele Worte, was geschehen war.
Erst später erwähnte er, dass sein Vater ihm erlaubt hatte, ihr, wenn sie einverstanden sei, mit den Wölfen zu helfen. Und während sie in der Hütte lag oder in Decken gehüllt draußen im fahlen Sonnenschein saß, machte er sich an die Arbeit, überprüfte die Fallen und hörte die Signale der halsbandtragenden Wölfe ab.
Wenn er abends zur Hütte zurückkam, gab er ihr seine Notizen, und während er das Abendessen zubereitete, berichtete er, was er getan und gesehen hatte. Trotz ihres Kummers erkannte sie, dass er in seinem Element war.
In letzter Zeit schien sein Stottern manchmal völlig verschwunden zu sein. Es kehrte nur zurück, wenn er von seinem Vater sprach oder aufgeregt war. So wie an jenem Morgen, als er zu ihr rannte und rief, dass ein Wolf in einer der Fallen sei.
»Sie müssen m-m-mitkommen.«
»Luke, ich kann nicht …«
»Aber Sie m-m-müssen. Ich weiß nicht, w-w-was ich machen soll.«
Er half ihr beim Anziehen und Zusammensuchen ihrer Sachen. Dann fuhr er mit ihr im Toyota zu einem engen Cañon hoch über der Millward-Ranch, wo sich die Wölfe neuerdings häufig aufhielten. Er lenkte den Wagen so schnell über die schmalen Holzfällerwege, dass sie manchmal die Augen schließen musste.
Wie sich herausstellte, hatten sie einen der Welpen, ein Weibchen, gefangen. Nach Helens Anweisungen erledigte Luke die meiste Arbeit, maß und notierte, überließ es aber ihr, die Spritzen zu geben und die Blut- und Kotproben zu nehmen. Der Welpe wog etwas mehr als dreißig Kilo und würde noch wachsen, also legten sie ihm ein Halsband für ausgewachsene Tiere um, das sie mit Schaumgummi und Tesamoll polsterten.
Für Helen bedeutete dieser Tag eine Wende. Lukes Begeisterung schien in ihr einen Funken Hoffnung zu wecken, dass das Leben eines Tages doch wieder schön sein könnte.
Sie weinte sich immer noch fast jeden Abend in den Schlaf oder lag wach und stellte sich vor, wie Joel mit seiner perfekten Belgierin vor den Traualtar trat. Immer wieder sagte sie sich, dass es verrückt sei, sich so elend zu fühlen, da sich doch eigentlich nichts geändert hatte. Seit seiner Bewerbung um diesen Job war es zwischen ihr und Joel aus gewesen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, anderes zu denken – seine Heirat bewies, wie wertlos sie war.
Sie bestrafte sich, indem sie das Rauchen aufgab, und war überrascht, wie leicht es ihr fiel. Nur manchmal machte sie der Entzug aggressiv, so zum Beispiel an dem Abend, an dem ihr Dan das Schneemobil brachte.
Er hatte sie in ein schickes Restaurant nach Great Falls ausführen wollen, doch im letzten Moment musste sie ihm dann sagen, dass ihr einfach die Kraft dazu fehlte. Er hatte ziemlich verletzt reagiert und versucht, sie zu überreden, bis sie ihn schließlich anschrie.
Doch für Luke waren ihre Launen kein Problem. Er schien zu verstehen, wenn sie plötzlich wütend wurde oder in Tränen ausbrach. Dann nahm er sie in den Arm und hielt sie fest, bis sie zu weinen aufhörte, so wie an jenem ersten, frostkalten Morgen.
Während er ihr die Geschichte von dem Elch erzählte, fragte sie sich erstaunt, wie er es als Sohn eines solchen Vaters geschafft hatte, so sanft und zärtlich zu sein. Er musste es von seiner Mutter haben, einer Frau, deren freundliche Zurückhaltung Helen bisher nicht zu durchbrechen vermocht hatte.
Lukes Stottern wurde schlimmer.
»Mein V-V-Vater war st-st-stinksauer. Er w-w-wollte immer, dass ich so w-w-werde wie mein B-Bruder. Der hat schon mit z-z-zehn einen S-S-Sechsender geschossen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Bruder haben.«
Luke schluckte und nickte.
»Er ist t-t-tot. Starb v-v-vor fast elf J-J-Jahren.«
»Oh, das tut mir leid.«
»B-b-bei einem A-A-Autounfall. Er war f-f-fünfzehn.«
»Wie grausam.«
»Ja.«
Mit einem grimmigen, kurzen Lächeln sah er zu ihr herüber. Sie verstand, dass er nicht weiter darüber reden wollte. Dann wies er mit einem Nicken auf den Empfänger am Armaturenbrett.
»W-W-Warum hören Sie nicht die Fallensignale ab? Vielleicht h-h-haben wir ja noch mal Glück gehabt.«
»Sie sind der Boss.«
Sie griff nach dem Empfänger und stellte ihn an. Es waren nur noch zwei Fallen einzusammeln. Die Chance, dass sie noch einen weiteren Wolf gefangen hatten, war gering. Schade, dachte Helen, vor Beginn der Jagdsaison hätte sie gern mindestens vier Tieren aus dem Rudel ein Halsband umgelegt – und davon am liebsten zwei Welpen.
Die meisten Jäger waren vernünftig und hielten sich an das Gesetz, doch gab es auch andere, die auf alles schossen, was sich bewegte. Wenn aber das Tier ein Halsband trug, überlegten sie es sich vielleicht.
Sie fand die Frequenz des Peilsenders der ersten Falle. Es war nichts zu hören.
Anders bei der zweiten.
Sie hatten die Falle an der Gabelung eines Wildwechsels für Rotwild aufgestellt, nicht weit von der Stelle, an der sie den weiblichen Welpen gefangen hatten. Der Pfad war auf beiden Seiten von steilen, mit Gebüsch und jungen Tannen bewachsenen Hängen umgeben. Nach dem Kot und den vielen Spuren zu schließen, die sie dort vorgefunden hatten, musste es sich um eine Art Treffpunkt für Wölfe handeln. Man konnte direkt bis an den Wechsel fahren. Um aber keine allzu große Unruhe zu verbreiten, gingen sie das letzte Stück zu Fuß.
Sie hörten das jämmerliche Schreien schon von weitem, und als sie um die letzte Kurve bogen, sahen sie, wie sich das Gebüsch an der Weggabelung heftig bewegte. Sie legten ihre Rucksäcke ab, doch erst als Helen den Stock mit der Spritze vorbereitete, nahm sie einen seltsamen, schalen Geruch wahr, etwa wie nasses Hundefell, nur viel stärker. Auch das Schreien klang seltsam, ganz anders als die Laute, die sie von gefangenen Wölfen kannte. Und als sie, während Luke sich im Hintergrund hielt, vorsichtig durch die Büsche starrte, fand sie auch heraus, warum.
»O je«, sagte sie leise.
»Was ist?«
»Luke, wir sind doch hinter Wölfen her. Das hier ist ein Bär.«
Es war ein Jungtier, ein männlicher Grizzly, etwa acht oder neun Monate alt. Helen klemmte die Spritze an ihren Stock und drückte etwas von dem Beruhigungsmittel heraus, um Luftbläschen zu beseitigen.
»W-W-Wollen Sie ihn betäuben?«
»Tja, wir müssen sein Bein aus der Falle befreien. Er ist schon ein wenig übers Knuddelalter hinaus, meinen Sie nicht? Sehen Sie die Zähne und diese Klauen? Das ist kein Teddybär mehr. Wir müssen uns beeilen. Wahrscheinlich ist seine Mutter in der Nähe.«
In dem Versuch, sich zu befreien, hatte sich der kleine Bär mit der Ankerkette im Gebüsch verheddert, so dass ihm nicht mehr viel Bewegungsfreiheit blieb. Während Luke ihn ablenkte, gelang es Helen, hinter ihn zu schlüpfen und ihm die Spritze ins Hinterteil zu stoßen. Er schrie auf und fuhr zu ihr herum, doch da war das Beruhigungsmittel schon in seinem Körper.
Sie traten einige Schritte zurück und warteten darauf, dass das Medikament wirkte. Helen wusste, dass sie den Bären eigentlich wiegen und messen und all den Untersuchungen unterziehen sollte, die sie sonst an ihren Wölfen vornahm, um die Daten dann an jene Gruppe von Fish & Wildlife weiterzuleiten, die sich mit Grizzlys beschäftigte. Da aber möglicherweise die Mutter des kleinen Bären nicht weit war, sich im Augenblick vielleicht sogar überlegte, wer von ihnen beiden besser schmeckte, wollte Helen nicht allzu viel Zeit vergeuden.
»Wollen w-w-wir ihn untersuchen?«
»Wenn Sie wollen. Aber ich bin hier weg, sobald die Falle von seinem Bein ist.«
Das Knurren des kleinen Bären klang jetzt schläfrig. Als er sich hinlegte, knieten sie neben ihm nieder. Helen rümpfte die Nase.
»Er sollte mal sein Deodorant wechseln.«
»Ja, meine Mutter sagt immer, die stinken wie Küchenabfall.«
Helen hebelte die Falle auf. Sein Bein blutete. Beim Herumzerren hatten sich die Bügel ins Fleisch gegraben. Luke wusste, was zu tun war, und reichte ihr zuerst ein Tuch, um die Wunde zu reinigen, und dann die antibiotische Salbe, um das Bein damit einzureiben.
»Ich gebe ihm lieber noch eine Spritze.«
Als Luke ihr die Spritze reichte, knackte irgendwo unter den Bäumen am Hang ein Ast. Sie erstarrten, sahen sich um und lauschten. Alles war still.
»Verschwinden wir«, flüsterte Helen. Rasch lud sie die Spritze und verabreichte dem kleinen Bären ein Antibiotikum. Dann reichte sie Luke die Spritze und sah noch einmal nach dem Bein. Es blutete nicht mehr. Doch als sie sich erneut zu Luke umwandte, bemerkte sie, dass sich sein Gesichtsausdruck verändert hatte. Er schaute hinauf in den Wald, und als sie seinem Blick folgte, entdeckte sie einen ausgewachsenen Grizzlybären, der sie unverwandt anstarrte. Er stand kaum zehn Meter von ihnen entfernt.
»Das ist nicht seine M-M-Mutter.«
»Stimmt. Der ist zu groß.«
Sie verhielten sich völlig still und murmelten, fast ohne die Lippen zu bewegen.
»Wenn wir den Kleinen liegenlassen, b-b-bringt er ihn um.«
Helen wusste, dass Luke recht hatte. Männliche Grizzlys töten alle männlichen Jungbären, die ihnen über den Weg laufen, sogar die eigenen. Langsam hob der Bär die vorderen Tatzen vom Boden und stellte sich dann auf die Hinterbeine. Er maß gut drei Meter, sah aber aus, als sei er zehn Meter groß und wiege um die vierhundert Kilo. Sein Fell war hell, gelblichbraun, an Ohren und Kehle aber dunkler, dort, wo das Haar silbrige Spitzen aufwies. Er streckte die Schnauze witternd in die Luft.
Helens Puls jagte. Sie dachte an das Pfefferspray, das Dan ihr für eine solche Begegnung gegeben hatte. Es verstaubte in einer Ecke der Hütte.
»Lassen Sie uns zum Auto gehen, Luke.«
»G-G-Gehen Sie ruhig. Ich bleibe bei dem K-K-Kleinen.«
»Hören Sie, ich bin hier der Held, und jetzt gehen Sie, aber langsam, ganz langsam.«
Er gab ihr den Stock mit der leeren Spritze.
»Danke, den schenk ich ihm als Zahnstocher.«
Während Luke zurückwich, behielt sie den Bären im Auge. Sie hatte schon oft einen Bären gesehen, doch nie zuvor einen Grizzly. Ursus arctos horribilis lautete der lateinische Name, und im Augenblick fand sie, dass er recht gut zu ihm passte. Seine Klauen sahen wie Küchenmesser aus. Hell und gebogen. Sie konnte kaum den Blick davon lösen.
Was zu tun war, wenn man einem Horribilis von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, nun, da gab es widersprüchliche Ratschläge: sich hinlegen und tot stellen oder laut schreien und versuchen, ihn zu verscheuchen; reglos stehenbleiben oder sich zusammenrollen; langsam zurückweichen und dabei ruhig auf ihn einreden; auf einen Baum klettern; nicht auf einen Baum klettern. Nur in einem waren sich die Biologen einig, dass nämlich eine Flucht die reinste Zeitverschwendung war. Ein Grizzly brachte es auf sechzig Stundenkilometer. Deshalb, hatte Dan gesagt, sei es das Beste, wenn sie stets das Pfefferspray dabei habe. Aber das befand sich nun mal in der Hütte.
Langsam und möglichst leise, den Bären aus den Augenwinkeln beobachtend, begann sie, ihre Utensilien in den Rucksack zu packen.
Der Bär ließ sich wieder auf alle viere fallen und lief in gemächlichem, schaukelndem Schritt einige Meter nach links, während der plumpe Schädel wie bei einem betrunkenen Matrosen von einer Seite zur anderen schwang. Dann machte er kehrt und lief denselben Weg zurück, schaute Helen an, wandte den Blick wieder ab und streckte immer wieder seine Nase in die Luft, als werde er nicht ganz schlau aus ihr.
Sie konnte den dunklen Höcker seiner Schultern und die Nackenhaare sehen, die sich langsam aufstellten, ein Anblick, bei dem sie panische Angst ergriff. Plötzlich schämte sie sich für ihr elendes Selbstmitleid in der letzten Zeit, für all die Male, als sie sich gewünscht hatte, tot zu sein. Vielleicht hatten ihre Gedanken diese Nemesis heraufbeschworen, um sie zu erlösen. Aber sie war noch nicht bereit. Plötzlich wurde ihr so klar wie nie zuvor, dass sie leben wollte.
Sie blickte auf den kleinen Bären zu ihren Füßen. Er war immer noch bewusstlos. Dann fragte sie sich, ob Luke schon den Pick-up erreicht hatte und warum zum Teufel sie nicht mit ihm gegangen war. Weshalb riskierte sie ihr Leben für ein Geschöpf, das ihr ohne Skrupel den Kopf abbeißen würde, wenn es dazu Gelegenheit hätte?
Jetzt hörte sie hinter sich den Wagen und sah, wie der große Grizzly ihn entdeckte. Er hielt inne, wirkte aber keineswegs eingeschüchtert, sondern höchstens ein wenig irritiert. Sie überlegte, was sie tun sollten, wenn Luke da war. Sie mussten versuchen, den kleinen Bären auf die Ladefläche zu hieven, und beten, dass der große Grizzly sie gewähren ließ.
Dem Geräusch nach zu urteilen, kam der Pick-up näher. Sie hörte Buzz bellen und dann Luke, der ihm befahl, ruhig zu sein. Der große Bär beobachtete all dies aufmerksam, doch seinen eng angelegten Ohren nach zu urteilen, schien er nicht allzu viel davon zu halten. Helen wusste, dass dies kein gutes Zeichen war.
Langsam wandte sie den Kopf und sah, wie Luke vorsichtig aus dem Wagen stieg. Er ließ den Motor laufen. Buzz saß im Auto, die Vorderpfoten auf dem Armaturenbrett, und bellte, als ginge es um sein Leben. Als Luke auf Helen zukam, streifte sie sich gerade beide Trageriemen des Rucksacks über eine Schulter.
»Schnell, tragen wir das kleine Monster zum Wagen«, sagte Helen.
Sie packten den Bären jeweils an einem Ende und hoben ihn hoch; er wog an die dreißig Kilo. Unterdessen behielten sie den ausgewachsenen Bären im Auge, und der ließ plötzlich ein lautes, trockenes Bellen hören, dann noch eins. Der Schädel schwang aufgeregt hin und her.
»Das sieht nicht gut aus.«
»Das h-h-heißt, dass er uns g-g-gleich angreift.«
»Wenn er kommt, lassen wir den Kleinen hier fallen und verschwinden im Laster, okay?«
Plötzlich machte der große Grizzly ein lautes, knirschendes Geräusch mit den Zähnen. »Er k-k-kommt!«
Helen drehte sich um und sah, wie der Bär den Hang hinunter auf sie zupreschte. Im selben Augenblick rutschte ihr der Rucksack von der Schulter, und als sie ihn wieder hochziehen wollte, glitt ihr der kleine Bär aus den Händen.
»Scheiße!«
Sie ließ den Rucksack fallen, griff nach dem kleinen Bären und blickte über die Schulter auf den Angreifer. Der Hang war dicht mit Gebüsch und jungen Bäumen bewachsen, aber der Grizzly brach durchs Unterholz wie ein Schneepflug.
Sie hatten den Pick-up erreicht. Helen hechtete auf den Türgriff zu. Dabei glitt ihr fast der kleine Bär wieder aus den Händen. Buzz randalierte wie ein Wahnsinniger auf dem Beifahrersitz.
»Sollen w-w-wir ihn nicht lieber auf die L-L-Ladefläche legen?«
»Nein, hier rein. Schnell!«
Sie schoben den Bären in den Fußbereich des Beifahrersitzes, dann drängte Helen Buzz auf die andere Seite und sprang hinterher. Der große Grizzly hatte den Weg erreicht, war nur noch knapp zehn Meter entfernt und kam mit großen, wiegenden Schritten auf sie zu.
Helen klemmte sich hinters Steuer, während Buzz eingekeilt zwischen ihr und dem Seitenfenster hockte und ihr wie verrückt ins linke Ohr bellte. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Luke zurückgerannt war, um ihren Rucksack zu holen.
»Luke! Lass ihn liegen, komm her!«
Doch er hatte es fast geschafft. Der Bär kam immer näher. Luke packte den Rucksack, aber gerade als er sich umdrehen wollte, rutschte er auf dem schlammigen Boden aus und fiel hin.
»Luke!«
Sie hämmerte mit der Faust auf die Hupe, die laut aufgellte, aber der Bär zuckte nicht mal zusammen. Er war kaum zwei Meter von der Stelle entfernt, an der Luke versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Er konnte den Pick-up unmöglich noch rechtzeitig erreichen. Helen schrie.
Plötzlich wurde der Bär zur Seite gefegt, und einen Augenblick lang schien alles nur noch ein Gewirr aus braunem Fell zu sein. Dann begriff Helen, was passiert war. Ein zweiter Bär, vermutlich die Mutter des Kleinen, hatte angegriffen. Und durch die Wucht des Aufpralls war das Männchen in die Büsche geschleudert worden, wohin ihm das Weibchen nun brüllend nachsetzte.
»Luke, komm schon!«
Er hatte es fast geschafft. Doch das Männchen wollte sich nicht so einfach geschlagen geben. Es fegte das Muttertier beiseite und stürzte wieder auf den Pick-up zu.
»Er kommt! Schnell, steig ein!«
Luke sprang auf den Beifahrersitz, schwang die Beine über den kleinen Bären und streckte die Hand nach der Tür aus, um sie zu schließen, als das Männchen sie mit einem einzigen Tatzenhieb aus der Verankerung riss und ins Gebüsch schleuderte.
»F-Fahr, Helen, FAHR!«
Krachend legte Helen den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gaspedal, so dass der Pick-up den Weg hinunterschlingerte, über den Hang rutschte und die Räder Dreck und Steine auf den Grizzly regnen ließen, der einen Augenblick lang verdutzt stehenblieb.
»Jetzt halt endlich das Maul, Buzz!«, schrie Helen.
Sie sah rückwärts aus dem Fenster und versuchte, den Wagen zu steuern und Buzz zugleich gegen die Fahrertür zu drücken.
»Folgt er uns?«
»Nein …«
»Gott sei Dank.«
»Doch.«
»Scheiße!«
»Alle beide. Und der Kleine wacht wieder auf.«
»Na, phantastisch.«
Weiter unten auf dem Weg, etwa auf halber Strecke bis zu der Stelle, an der der Wagen vorher gestanden hatte, gab es, wenn sie sich recht erinnerte, eine Stelle, die breit genug zum Wenden war. Die Frage lautete nur, ob sie genug Zeit dazu hatten, bevor die Bären sie einholten. Helen wagte es nicht, sich zum Grizzly umzudrehen, da sie fürchtete, sonst vom Weg abzukommen.
»Ist er immer noch hinter uns her?«
»Ja. Und er holt auf.«
Dann sah sie den Wendeplatz und beschloss, das Risiko einzugehen. Sie sagte Luke, er solle sich festhalten, stieg auf die Bremse und riss den Pick-up herum. Der Wagen machte einen Satz, kippte, bis er nur noch auf zwei Rädern stand und Helen einen entsetzlichen Moment lang glaubte, sie würden sich überschlagen, krachte dann aber wieder auf den Boden – und Helen schaute dem Grizzly direkt ins Gesicht. Er schlitterte und prallte gleich darauf gegen die Fahrerseite, so dass der ganze Wagen wackelte. Buzz nutzte die Chance, schlüpfte unter Helens Arm durch und stürzte sich auf den kleinen, gerade wieder aufwachenden Bären.
Sie legte den ersten Gang ein. Der Grizzly presste zähnefletschend das Gesicht gegen das Fenster.
»Tut mir leid, Kumpel, kein Platz mehr frei!«, rief sie. »Und tschüs!«
Und während Buzz und der kleine Bär versuchten, sich gegenseitig zwischen Lukes Beinen umzubringen, jagten sie den Weg hinunter und überließen es dem großen Grizzly, sich mit der Mutter des Kleinen zu beschäftigen.
Helen steuerte mit einer Hand, fuhr so schnell sie konnte und packte mit der anderen Buzz am Halsband. Luke setzte sich währenddessen mit dem kleinen Bären auseinander. Zwei Meilen weiter hatte der sich so weit erholt, dass er klaffende Löcher in Lukes Jeans reißen und ihm ein Stück vom Stiefel herausbeißen konnte.
Helen nahm an, dass sie weit genug von den ausgewachsenen Tieren entfernt waren, so dass der Kleine eine gute Überlebenschance hatte. Mit etwas Glück würde er seine Mutter wiederfinden. Helen hielt an, und ohne weitere Umstände warfen sie den Kleinen durch die fehlende Tür aus dem Wagen. Und während der ans Steuer gebundene Buzz noch wie verrückt bellte, schauten Luke und Helen dem kleinen Bären nach, der missmutig im Gebüsch verschwand.
»Bitte, gern geschehen!«, rief Helen ihm nach.
Sie legte eine Hand auf Lukes Schulter und stützte sich auf ihn. Er schüttelte grinsend den Kopf.
»V-V-Vielleicht sollten wir doch lieber bei den Wölfen bleiben.«
An diesem Abend begann es zu schneien. Da es windstill war, fiel der Schnee in schweren Flocken herab und blieb auf der Fensterbank liegen, während Helen und Luke drinnen kochten, aßen und lachend die Ereignisse des Tages rekapitulierten.
Nach dem Essen zogen sie sich warm an und fuhren, ehe Luke nach Hause ritt, mit dem Schneemobil hoch hinauf in den Wald. Die Schneeflocken wirbelten im Licht der Scheinwerfer durch die Luft. Luke saß hinter ihr und hielt sich fest, indem er – ganz vorschriftsmäßig – die Arme um sie schlang. Helen fand es angenehm, so gehalten zu werden. Sie fuhren dorthin, wo sie die Wölfe vermuteten. Als sie anhielten, hörte es auf zu schneien. Die Wolken rissen auf, und die schmale Sichel des Mondes trat hervor.
Helen stellte den Motor ab. Eine Weile standen sie einfach nur da und lauschten auf das gedämpfte Schweigen des Waldes.
Dann nahmen sie die Taschenlampe und den Empfänger und gingen mit knirschenden Schritten über den Schnee.
Sie spürten die Signale sofort auf, da sie laut und vernehmlich in der kristallklaren Luft klickten, und wussten, dass die Wölfe sich in unmittelbarer Nähe befanden. Im Strahl ihrer Taschenlampe entdeckten sie noch ganz frische Spuren.
Helen knipste die Lampe aus, und sie blieben reglos stehen, um zu lauschen. Nur hin und wieder war der Schnee zu hören, der manchmal von den Bäumen fiel.
»Heulen Sie«, flüsterte Helen.
Er hatte einige Male gehört, wie sie das Heulen eines Wolfs imitiert hatte, erfolglos übrigens, hatte es aber nie selbst versucht. Er schüttelte den Kopf.
»Versuchen Sie es«, sagte sie leise.
»Ich k-k-kann nicht. Da k-k-kommt nichts …«
Er deutete auf seinen Mund, und Helen begriff, dass er Angst hatte, seine Stimme würde ihn im Stich lassen.
»Ich bin’s doch nur, Luke.«
Er schaute sie lange an. Und sie sah in seinen traurigen Augen, was er für sie empfand, doch das wusste sie längst. Sie zog einen Handschuh aus und berührte lächelnd sein kaltes Gesicht. Sie fühlte, wie er unter ihrer Berührung zusammenzuckte. Und als sie die Hand wieder wegzog, legte er den Kopf in den Nacken und stieß ein langes, klagendes Heulen aus.
Und noch ehe es verklungen war, wehte über die schneebedeckten Wipfel der Bäume des Cañons die Antwort der Wölfe herüber.