18

Er konnte den Blick nicht von ihr wenden.

Sie schlenderte am Bach entlang und sprach in ihr Handy. Schuhe und Socken hatte sie ausgezogen, und vor jedem Schritt streckte sie ihre Zehen wie eine Balletttänzerin. Moon Eye weidete im saftigen Gras nah am Wasser, und Helen strich gedankenverloren mit einer Hand über sein Fell, als sie an ihm vorbeiging. Luke fragte sich, ob sie überhaupt ahnte, wie schön sie war.

Er saß vor der Hütte im Gras, wo sie ihr Picknick gemacht hatten. Als sie aus dem Wald hierher zurückgekommen waren, hatte Helen eine alte, blaue Decke am Boden ausgebreitet, Käse, Obst, Nüsse, Kekse und Schokolade geholt, sich mit ihm in die Sonne gesetzt, gegessen und dabei aufgeregt über das soeben Erlebte geredet.

Die Sonne verschwand hinter der Hütte. Ihr Schatten kroch über die Decke, über Lukes Oberkörper, seine Beine und schließlich seine Stiefel. Neben ihm wälzte sich Buzz auf dem Rücken wie im siebten Hundehimmel, als Luke ihm den Bauch kraulte und dabei Helen betrachtete. Sie redete mit ihrem Boss, der sie offenbar ein wenig aufzog.

»Was soll das heißen, ich hab Glück gehabt?«, fragte sie. »Von wegen Glück. Das ist Können, Prior, reines Können. Wann hast du schon mal zwei Wölfe an einem Tag gefangen?«

Gleich nachdem sich das Alpha-Weibchen aus dem Staub gemacht hatte, war es passiert. Sie überprüften erneut alle Frequenzen und hörten ein zweites Signal. In einer Falle einige hundert Meter weiter fanden sie einen zweiten Wolf, diesmal einen jungen Rüden.

»Ich sage dir, Dan, diese Stelle da oben am Wrong Creek ist die reinste Wolfsautobahn.«

Luke hörte den Flügelschlag von Wildgänsen und schaute blinzelnd zum Himmel hinauf. Zwei Scharen Gänse folgten in Pfeilformation der Bergkette nach Süden. Erneut blickte er zu Helen hinüber und sah, dass sie die Vögel ebenfalls betrachtete. Sie hatte ihn schon einige Male dabei ertappt, wie er sie beobachtete, aber es schien ihr nichts auszumachen. Sie lächelte, als sei es das Natürlichste von der Welt.

Anfangs hatte sie ihn ein bisschen nervös gemacht, und er hatte viel gestottert, doch sie schien das gar nicht zu bemerken, und schon bald entspannte er sich. Mit ihr war alles ganz unkompliziert. Sie war lebhaft, redete schnell und viel, und wenn sie lachte, warf sie den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit den Händen durchs Haar.

Am besten gefiel ihm, dass sie ihn manchmal berührte, wenn sie ihm etwas erzählte, ihm einfach nur, als sei es ganz selbstverständlich, eine Hand auf Arm oder Schulter legte. Als sie das zweite Signal gehört hatten und wussten, dass ein zweiter Wolf in die Falle gegangen war, hatte sie ihn in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Luke wäre vor Verlegenheit fast gestorben. Der Hut fiel ihm vom Kopf, und er wurde rot bis über beide Ohren.

Moon Eye hörte plötzlich auf zu grasen, hob den Kopf und schaute über den See. Und in der nächsten Sekunde sprang Buzz auf und rannte bellend den Hügel hinunter. Zwei Reiter näherten sich ihnen vom Wald her. Als Luke sie erkannte, gab es ihm einen Stich ins Herz.

Er hatte mit Helen vereinbart, dass seine Mithilfe beim Fallenstellen ein Geheimnis blieb. Nicht mal Dan wusste davon. Doch jetzt flog die Sache auf. Als er zu Helen hinüberschaute, sah er, dass sie das Gleiche dachte. Sie beendete ihr Telefongespräch. Luke stand auf und beobachtete, wie Clyde und sein Vater die Pferde um den See und den Abhang hinauflenkten, während Buzz bellend um sie herumsprang.

»Guten Morgen«, sagte Helen fröhlich.

Sie befahl Buzz, still zu sein. Lukes Vater tippte sich grüßend an den Hut und bedachte sie mit jenem Lächeln, das er stets dann aufsetzte, wenn er überzeugt war, jemanden in die Enge getrieben zu haben.

»Ma’am.«

Clyde sagte keinen Ton, sondern starrte Luke nur an, als sie die Pferde vor der Hütte zügelten. Luke sah, wie der Blick seines Vaters über die Reste ihres Picknicks, dann über Helens nackte Füße und schließlich zu ihrem Gesicht wanderte.

»Die Arbeit für Fish & Wildlife scheint ja ganz angenehm zu sein.«

»Klar«, sagte Helen. »Ist besser als jeder Urlaub.«

»Picknick am Seeufer, kein Chef, der einem auf die Finger schaut …«

»Genau. Mittags aufstehen, ein bisschen in der Sonne liegen …«

»Klingt wirklich gut.«

»Und die Lohntüte sollten Sie erst mal sehen!«

Ihr Sinn für Ironie beeindruckte Luke, doch am liebsten hätte er sie gewarnt, wie gefährlich es war, solche Scherze mit seinem Vater zu treiben. Sie musste doch sehen, dass dieses Lächeln keineswegs freundlich gemeint war und er mit ihr spielte wie eine Katze mit einer Maus.

Luke hatte er bisher noch keines Blickes gewürdigt. Er ließ sein Opfer gern zappeln. Doch jetzt drehte er sich zu ihm um, und Luke spürte, wie sich die grauen Augen mit kaltem, kritischem Blick auf ihn richteten.

»Nun, mein Sohn, schön, dass wir dich endlich gefunden haben. Ich hab schon gedacht, der alte Wolf hat dich erwischt.«

»Nein, Sir, ich w-w-war …«

»Du erinnerst dich doch sicher noch dran, dass wir den Hardings heute Morgen beim Zusammentreiben ihrer Herde helfen wollten. Ich bin mit Clyde auf die Pachtweide geritten, aber du warst nicht da.«

Die Sache mit den Hardings hatte Luke völlig verschwitzt.

»Ich w-w-war da. Ihr m-müsst wohl gerade …«

»Ach, du warst da?«

»J-j-a, Sir.«

»Und wie kommt’s dann, dass Abe gesehen hat, wie du mit dieser jungen Dame hier im Pick-up zum Wrong Creek gefahren bist?«

»Ich w-w-wollte …«

Lukes Zunge schien am Gaumen zu kleben. Seine Brust schmerzte, als sei sie in einem Schraubstock eingeklemmt, und seine Wangen brannten. Als er mit Helen allein gewesen war, hatte er sich fast wie ein Mann gefühlt, doch jetzt war er wieder das dumme, sprachlose Kind.

Er schaute zu Helen hinüber, weil er befürchtete, dass sie ihn nun genauso einschätzte, doch sie hielt seinen Blick für einen Hilferuf.

»Er hat mich begleitet, weil ich ihn gebeten hatte, mir zu helfen«, sagte sie.

Sein Vater sah sie an. Er lächelte noch immer, doch sein Blick war eisig.

»Und ihm habe ich es zu verdanken, dass wir heute Morgen zwei Wölfe fangen und mit Halsbändern versehen konnten.«

Lukes Vater senkte den Kopf ein wenig und hob die Augenbrauen. »Sie haben zwei Wölfe gefangen?«

»Genau. Dank Luke. Er hat mir geholfen, sie zu finden.«

Lukes Vater schwieg einen Moment, während er darüber nachdachte. Clyde beobachtete ihn aufmerksam, wie um zu erfahren, wie er sich nun verhalten sollte, während Bucks Pferd ungeduldig mit den Hufen scharrte.

»Und? Wo sind sie?«

»Tja, wie schon gesagt, wir haben ihnen Halsbänder umgelegt.«

»Und dann?«

Helen runzelte die Stirn. »Tut mir leid, worauf wollen Sie hinaus?«

Er stieß ein kurzes trockenes Lachen aus und schaute Clyde an.

»Haben Sie die Tiere schon abtransportieren lassen oder was?«

»Ich denke, Mr. Calder, Sie wissen, worum’s bei unserer Arbeit geht. Wir …«

»Sie haben sie einfach wieder laufenlassen.«

»Ja, aber …«

»Lassen Sie mich offen zu Ihnen sein, junge Frau. Ich habe gerade Abe Harding, einem guten Freund und Nachbarn, geholfen, die Herde zusammenzutreiben. Und dieser Mann, der im Gegensatz zu Ihnen und Ihren Bossen in Washington, D.C., nicht sinnlos Steuergelder verpulvern kann, hat sechs Kälber verloren. Das ist für Abe ein Verlust von, sagen wir, dreitausend Dollar. Und jetzt erzählen Sie mir, Sie haben zwei von diesen Biestern gefangen und sie wieder laufenlassen? Soll ich mich darüber etwa freuen?«

Luke sah Helen an, dass sie wütend war, aber auch eingeschüchtert. Schließlich gab es niemanden, den sein Vater nicht einschüchtern konnte. Luke sah, wie sie schluckte.

»Worum’s hier geht, Mr. Calder …«

»Worum’s hier geht, das haben Sie und Mr. Prior uns erzählt, war, dass wir es hier mit einem einzelnen Wolf zu tun haben. Wie haben Sie ihn noch genannt, einen ›Streuner‹, stimmt’s? Und jetzt haben wir’s plötzlich mit wie vielen zu tun?«

Helen schwieg.

»Wollen Sie es mir nicht sagen?«

»Ich glaube, es gibt hier ein ganzes Rudel.«

»Aha, jetzt ist es also schon ein Rudel. Und wie viele sind es genau?«

»Etwa neun, aber fünf davon sind Welpen und …«

»Neun? Und Sie haben zwei gefangen und wieder laufenlassen? Damit die noch mehr Vieh reißen und rechtschaffene Männer wie Abe Harding ruinieren?«

»Mr. Calder …«

»Danke, Ma’am, ich hab genug gehört.«

Er griff nach den Zügeln, riss das Pferd scharf herum und warf dann einen Blick über die Schulter.

»Luke?«

»J-j-a, Sir?«

»Wenn du mit dem fertig bist, was du hier oben zu tun hast, wäre ich dankbar, wenn du nach Hause kommen könntest. Es gibt da noch ein oder zwei Dinge, die wir zu klären haben.«

Luke nickte. Sein Vater tippte grüßend an den Hut.

»Miss Ross.«

Er trat dem Pferd die Hacken in die Flanken und sprengte zum See hinunter, Clyde dicht hinter ihm. Luke suchte seine Sachen zusammen. Gedemütigt und beschämt wich er Helens Blick aus. Als er die Tasche aufhob, legte sie ihm eine Hand auf die Schulter.

»Luke?«

Er richtete sich auf, konnte ihr aber immer noch nicht in die Augen schauen.

»Es war mein Fehler. Tut mir wirklich leid. Ich hätte Sie nicht bitten sollen, mir zu helfen.«

»Das m-m-macht doch nichts.«

Und als er seine Sachen eingesammelt hatte, ging er ohne ein weiteres Wort ans Wasser zu Moon Eye und schwang sich in den Sattel. Dann ritt er den Abhang hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen, doch er spürte ihren Blick in seinem Rücken.

 

Helen verbrachte den Rest des Nachmittags damit, die beiden Wölfe mit Hilfe ihres Empfängers zu orten. Zum Glück blieben die Signale hoch oben am Wrong Creek und somit weit weg von den Herden.

Gegen sieben Uhr kehrte sie zur Hütte zurück und duschte. Jetzt im Herbst war das Wasser so kalt, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. Sie würde sich bald nicht mehr draußen waschen können.

Sie ertappte sich dabei, wie sie über die Duschtür zum See schaute und hoffte, Luke auf seinem Pferd zu sehen, obwohl sie wusste, dass er nicht kommen würde, nicht nach dem, was heute morgen geschehen war. Dabei hätte sie so gern ihren Erfolg gefeiert, aber es war nur Buzz da, um ihr Gesellschaft zu leisten.

Fröstelnd rannte sie zurück zur Hütte, trocknete sich rasch ab und zog sich an. Nachdem sie die Mailbox abgefragt hatte (es waren keine Nachrichten da), steckte sie sich zum ersten Mal seit drei Tagen genussvoll eine Zigarette an und legte Musik von Sheryl Crow auf. Doch dann machte sie den Fehler, auf die Texte zu achten, ging zum Apparat und stellte ihn aus. Sie wollte feiern und sich nicht die Pulsadern aufschneiden.

Sie dachte daran, Joel einen Brief zu schreiben. Wieder eine schlechte Idee. Verdammt, warum sollte sie ihm schreiben? Er war dran! Da sie mit dem Handy zur Abwechslung mal guten Empfang hatte, beschloss sie, ihre Mutter in Chicago anzurufen. Doch es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Mit Celia in Boston erging es ihr genauso, und mit Dan Prior. Wo zum Teufel steckten sie alle?

Wie zur Antwort klingelte das Telefon, das sie immer noch in der Hand hielt.

Es war Bill Rimmer. Er gratulierte ihr zu ihrem Fang und sagte, nun habe sie wohl die Wette, wer den ersten Wolf fange, gewonnen. Er war unterwegs zu den Hardings, um mit ihnen über die vermissten Kälber zu reden, und fragte, ob sie mitkommen wolle.

»Nein, danke, Bill, zu denen geh ich nur noch in voller Rüstung.«

»Wissen Sie was? Wenn ich da oben fertig bin, spendiere ich Ihnen in der Stadt einen Drink.«

Sie vereinbarten, sich eine Stunde später im Last Resort zu treffen. Vielleicht dachte Helen, war es ja gar nicht schlecht, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Gerüchte über Hardings Verlust würden sich bestimmt wie ein Lauffeuer verbreiten.

Es war schon fast dunkel, als sie durch Hope fuhr und auf der Hauptstraße das rote Neonschild von The Last Resort leuchten sah. Langsam rollte sie auf der anderen Straßenseite vorbei, ließ den Blick über die parkenden Autos schweifen, in der Hoffnung, Bill Rimmers Wagen zu entdecken. Aber er war noch nicht da.

Die Vorstellung, drinnen auf ihn warten zu müssen, war ihr alles andere als angenehm, also fuhr sie ein Stück weiter und parkte vor dem Waschsalon. Zwei junge Cowboys alberten darin herum und luden nasse Wäsche in die Trockner. Helen war selbst schon zweimal hier gewesen, einmal mit ihrer Wäsche und einmal, um Wolfskot zu waschen.

Dan hatte ihr in Minnesota diesen Trick gezeigt, mit dem man herausfinden konnte, was ein Wolf gefressen hatte. Man schnürte die Kothaufen einzeln in je ein gekennzeichnetes Stück Nylonstrumpfhose und gab diese in die Maschine. Nach dem Waschen waren nur noch Haare und Knochenstückchen übrig. Da die anderen Benutzer des Waschsalons von einem solchen Waschgang wohl nicht begeistert gewesen wären, musste man diskret vorgehen. Die Haare aus dem Kot, den Helen damals gewaschen hatte, stammten von unterschiedlichen Tieren, einige von Rotwild, andere vom Elch, aber auch ein paar von Kälbern, was aber nicht unbedingt bedeutete, dass die Wölfe tatsächlich ein Kalb gerissen hatten; vielleicht hatten sie auch nur einen Kadaver gefunden und davon gefressen.

Eine Viertelstunde später war Bill Rimmer immer noch nicht da. Helen wurden allmählich die Blicke der Fahrer vorbeikommender Autos und vor allem der beiden Cowboys im Waschsalon peinlich. Vielleicht hatte Rimmer woanders geparkt. Oder er hatte in der Kneipe angerufen, um ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Sie stieg aus und ging über die Straße.

Kaum hatte sie das Lokal betreten, bedauerte sie diesen Entschluss. Unter den Wildtrophäen an den Wänden richteten sich etwa ein Dutzend Augenpaare auf sie; nicht eines davon wirkte freundlich, und keines davon gehörte Bill Rimmer.

Fast hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Doch ihr Eigensinn, der sie stets in irgendwelche Schwierigkeiten brachte, setzte sich durch, und sie fragte sich, warum sie sich hier keinen Drink genehmigen sollte, wenn sie Lust darauf hatte. Also holte sie tief Luft und ging geradewegs zur Bar.

Sie bestellte sich eine Margarita, setzte sich auf einen der Barhocker und steckte sich eine Zigarette an.

Abgesehen von der Kellnerin hinter der Theke war sie die einzige Frau. Der Laden war überfüllt, doch sie kannte nur Ethan Harding und die beiden Holzfäller, die sie mit Luke oben am Wrong Creek gesehen hatte. Wahrscheinlich waren das die beiden, von denen auch Doug Millward gesprochen hatte. Die drei unterhielten sich am anderen Ende der Theke. Manchmal schauten sie zu ihr herüber, doch Helen beachtete sie nicht, um ihnen keine Gelegenheit zu geben, sie erneut zu ignorieren. Sie kam sich wie eine Aussätzige oder eine Fremde vor, die sich wie in einem kitschigen Western in diese Stadt verirrt hatte. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen, aber sie wollte ihnen nicht die Genugtuung geben, sie von hier vertrieben zu haben. Sie stellte sich vor, wie alle in Gelächter ausbrachen, wenn sie die Tür hinter sich schloss.

Sie trank aus, bestellte das gleiche noch einmal, tat, als interessiere sie sich für das Basketballspiel im Fernsehen, und fragte sich, wie sie bloß auf die blöde Idee gekommen war, sich in dieser gottverlassenen Kaschemme blicken zu lassen. Sie trank ihre zweite Margarita viel zu schnell. Der Drink war ziemlich stark. Hätte sie doch vorher etwas gegessen.

Und dann sah sie im Spiegel über der Theke, wie Buck Calder zur Tür hereinkam. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.

Er drängte sich zur Theke vor. Helen sah ihn im Spiegel und war, ohne es zu wollen, beeindruckt. Sie fragte sich, was die Leute, denen er die Hände schüttelte und auf deren Schultern er klopfte, wohl tatsächlich von ihm hielten. Sie waren wie geblendet von seinem Lächeln und seinen Sprüchen. Helen sah, dass er sie bemerkte, ihren Blick registrierte, und obwohl sie sich sofort abwandte, spürte sie mit wachsender Panik, dass er auf sie zukam.

»Was ist denn in diese Jungs gefahren? Lassen hier so eine hübsche Frau ganz allein am Tresen sitzen.«

Helen stieß ein Lachen aus, das sich ein wenig hysterisch anhörte. Er stand direkt hinter ihr und betrachtete sie im Spiegel.

»Sonst sind diese Jungs ja nicht so schüchtern.«

Helen wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Der Alkohol schien ihre Schlagfertigkeit zu beeinträchtigen. Neben ihr hatte ein Mann gerade eine Runde bestellt, und als er die Gläser an den Tisch trug, nahm Calder geschickt seinen Platz ein. Jetzt waren sie nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt, und ihre Beine berührten sich kurz. Sein Rasierwasser, das gleiche, das auch ihr Vater benutzte, roch nach Zitrone und verwirrte sie.

»Darf ich Sie für die mangelnde Höflichkeit der Jungs hier entschädigen und Ihnen einen Drink spendieren?«

»Nun, danke, aber eigentlich wollte ich mich hier mit jemandem treffen. Ich glaube, er hat …«

»Margarita, stimmt’s?«

Über den Tresen gebeugt rief er: »Lori? Bringst du uns ein Bier und eine Margarita? Danke, Schätzchen.«

Er wandte den Kopf und sah Helen lächelnd von oben herab an.

»Wollte mich nur für heute morgen entschuldigen.«

Helen runzelte die Stirn, als wüsste sie nicht, wovon er sprach.

»Ich weiß, Sie machen nur Ihren Job. Vielleicht war ich ein bisschen grob.«

»Ach was, ich hab ein dickes Fell und breite Schultern.«

»Ich würde sagen, dass sie gerade die richtige Breite haben.«

Sie lächelte verwirrt. Wollte er vielleicht mit ihr flirten?

»Ich schätze, Luke haben Sie mehr aus der Fassung gebracht als mich.«

»Der ist eben so. Er kommt nach seiner Mutter.«

Helen nickte, spielte auf Zeit. Sie schienen sich auf gefährlichem Terrain zu bewegen.

»Sensibel, meinen Sie«, sagte sie.

»So könnte man es auch nennen.«

»Ist doch nicht schlecht, sensibel zu sein, oder?«

»Hab ich auch nicht behauptet.«

Die Kellnerin bewahrte sie vor peinlichem Schweigen, als sie Helen sagte, dass sie am Telefon verlangt werde. Sie entschuldigte sich bei Calder und bahnte sich einen Weg durch die Menge bis zu der Ecke, in der das Telefon hing. Es war Bill Rimmer, der sich dafür entschuldigte, dass er sie versetzt hatte. Er sagte, Abe Harding habe ihm die Hölle heiß gemacht.

»Sind noch alle Knochen heil?«, fragte Helen.

»Ich habe sie noch nicht gezählt. Die Hunde sind ganz schöne Bestien.«

»Und was war mit den Kälbern?«

»Er hat da oben keine Spur mehr von ihnen gefunden. Aber er sagt, er weiß, dass es die Wölfe waren. Sagt, er hat sie gesehen und auch gehört.«

»Und was haben Sie gesagt?«

»Ich habe ihm gesagt, er muss erst mal beweisen, dass Wölfe seine Tiere gerissen haben, wenn er eine Entschädigung will.«

»Ich kann mir schon vorstellen, wie er darauf reagiert hat.«

»O ja, er war begeistert. Übrigens habe ich mit Dan gesprochen, und er meint, dass Sie beide morgen versuchen sollten, das Rudel mit dem Flugzeug ausfindig zu machen, schließlich tragen ja jetzt zwei von ihnen Halsbänder.«

»Gute Idee.«

Rimmer entschuldigte sich noch einmal und meinte, es sei sowieso besser, wenn sie die wütenden Rancher allein um den Finger wickle. Helen hatte ihm vorher mit gedämpfter Stimme erzählt, dass Buck Calder ihr einen Drink spendiert hatte.

»Na dann los, Helen. Er ist Ihr wichtigster Mann.«

»Danke, Bill.«

Calder sprach gerade mit jemand anders, als sie an den Tresen zurückkam. Helen hoffte, jetzt unbemerkt verschwinden zu können, doch Calder wandte ihr sofort wieder seine Aufmerksamkeit zu. Er hob das Glas und stieß mit ihr an.

»Trotz alledem«, sagte er. »Meinen Glückwunsch zum Fang.«

»Obwohl ich sie wieder laufengelassen habe?«

Er lächelte, und sie tranken.

Er wischte sich den Schaum von den Lippen. »Wie gesagt, Sie müssen Ihren Job machen, und das verstehe ich, auch wenn es mir nicht passt. Ich war bloß wütend auf Luke, weil er die Herde im Stich gelassen hat, besonders als ich erfahren habe, wie viele Kälber von Abe verschwunden sind. Tut mir leid, wenn ich … na ja, unhöflich war.«

»Ist schon in Ordnung.«

Helen griff nach einer Zigarette. Er gab ihr Feuer. Sie bedankte sich. Eine Zeitlang schwiegen sie.

»Luke kennt die Gegend da oben ziemlich gut«, sagte Helen.

»Ja, stimmt.«

»Und er hat Talent für die Arbeit, die ich mache.«

»Tja, der ist ein richtiger Tiernarr.«

Sie lachten.

»Hat er das auch von seiner Mutter?«

»Glaub schon. Jedenfalls ist sie in der Stadt aufgewachsen.«

»Wo wir Tiernarren alle aufwachsen.«

»Tja, scheint so.«

Er hob lächelnd das Glas zum Mund, ohne sie aus den Augen zu lassen. Und plötzlich wurde Helen klar, warum Frauen Buck Calder so attraktiv fanden. Es lag nicht so sehr an seinem Aussehen, das für sein Alter gar nicht so schlecht war, sondern ausschließlich an seinem Selbstvertrauen. Und es war schamlos, fast schon lachhaft, wie er auf die Frauen einging; doch wahrscheinlich genossen sie das.

Ohne sie zu fragen, bestellte er noch einen Drink und wechselte das Thema. Er brachte sie dazu, über sich selbst zu reden, über Chicago und ihre Arbeit in Minnesota, über ihre Familie und sogar darüber, dass ihr Dad wieder heiraten wollte.

Er tat das so geschickt und mit soviel Einfühlungsvermögen, dass Helen aufpassen musste, ihm keine Geheimnisse anzuvertrauen, denn das würde sie, wenn sie wieder nüchtern war, bestimmt bereuen.

»Stört es Sie, dass sie so viel jünger ist?«

»Als mein Dad? Oder als ich?«

»Tja, beides.«

Helen dachte einen Augenblick nach. »Jünger als ich, nein. Glaube ich jedenfalls nicht. Jünger als er … ja, verdammt. Wenn ich ehrlich bin, dann macht es mir was aus. Ich weiß nicht, warum, tut es aber.«

»Ein Mann kann sich nicht gegen die Liebe wehren.«

»Ja gut, aber warum sucht er sich keine Gleichaltrige?«

Er lachte. »Sie meinen, er soll endlich erwachsen werden.«

»Genau.«

»Meine Mom hat immer gesagt, Männer werden nicht erwachsen, sie werden immer unausstehlicher. In jedem von uns steckt ein kleiner Junge, und er bleibt uns bis zu unserem Tod erhalten und schreit: ich will, ich will.«

»Und Frauen wollen nichts?«

»Sicher wollen sie, aber sie vertragen’s besser als Männer, wenn sie’s nicht bekommen.«

»Ach, was Sie nicht sagen!«

»Ja, Helen, ich glaube schon. Ich denke, Frauen sehen manches ein bisschen deutlicher als Männer.«

»Und das wäre?«

»Dass das Wollen besser sein kann als das Kriegen.«

Sie sahen einander einen Moment lang an. Es überraschte sie, einen philosophischen Zug an ihm zu finden, doch wie so oft schien in dem, was er sagte, noch eine andere Bedeutung mitzuschwingen.

Ethan Harding ging mit seinen mürrisch dreinschauenden Holzfällerkumpeln an ihr vorbei zur Tür. Er nickte Calder zu, doch keiner der Männer würdigte Helen auch nur eines Blickes.

Erst jetzt fiel Helen auf, wie wenig Menschen noch im Lokal waren. Sie hatten sich fast eine Stunde lang unterhalten. Helen sagte, es sei Zeit, sie müsse nach Hause, und wehrte seinen Versuch ab, sie noch zu einem letzten Drink zu überreden. Sie hatte mehr als genug getrunken.

»Ich habe unsere Unterhaltung sehr genossen«, sagte er.

»Ich auch.«

»Können Sie noch fahren? Ich bringe Sie sonst gern …«

»Nein, danke«, sagte sie ein wenig zu hastig.

»Ich begleite Sie noch bis zu Ihrem Wagen.«

»Ach was, das brauchen Sie nicht, ich komme schon zurecht.« Sie war noch nüchtern genug, um zu wissen, dass es ihrem Ruf schadete, wenn sie dabei gesehen wurden, wie sie zusammen die Kneipe verließen. Wahrscheinlich zerrissen sich sowieso schon genügend Leute das Maul über sie.

Die Straße war leer und die kühle Nachtluft einfach wunderbar. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel, und erst nachdem sie den gesamten Inhalt auf der Motorhaube ausgeleert hatte, fand sie ihn in ihrer Jackentasche. Es gelang ihr, den Wagen zu wenden, ohne irgendwo anzustoßen, und als sie mit äußerster Konzentration aus der Stadt fuhr, ahnte sie bereits, dass sie am nächsten Tag einen Kater haben würde. Und der war alles andere als angenehm, wenn sie am Morgen mit Dan flog.

Vor sich sah sie die Reihe mit den Briefkästen. Auf dem Weg in die Stadt hatte sie, wie schon seit drei Tagen, nicht in dem ihren nachgesehen, um sich nicht die Laune zu verderben, falls er wieder leer war. Jetzt holte sie das nach.

Als sie näher kam, sah sie etwas Weißes auf der Straße liegen. Erst einen Augenblick später erkannte sie, was es war. Sie richtete die Scheinwerfer darauf und stieg aus.

Es war ihr Briefkasten. Die Metallhalterung lag verbogen am Boden, der Kasten selbst war zertrümmert. Es sah aus, als hätte jemand darauf eingeschlagen und sei dann auch noch mit dem Auto darübergefahren. Die anderen Briefkästen waren unbeschädigt.

Helen stand da, vom Licht der Scheinwerfer angestrahlt, blickte stirnrunzelnd und ein wenig schwankend auf die Trümmer, wurde aber mit jeder Sekunde nüchterner. Der Motor begann zu stottern und starb dann ab. Erst jetzt hörte sie den klagenden Wind. Er hatte gedreht und wehte kalt von Norden.

Irgendwo im Wald begann ein Kojote zu heulen, der schon bald wieder verstummte. Sie starrte den grauen Schotterweg an. Einen Moment lang glaubte sie, dort etwas Helles flattern zu sehen, doch dann war es wieder verschwunden.

Sie wandte sich um und ging zurück zu ihrem Wagen. Noch einmal bewegte sich der Brief, der auf dem Weg lag, wurde vom Wind herumgewirbelt und dann fortgeweht.