Helen benötigte den Rest des Tages sowie fast den ganzen nächsten Tag, um ihre Sachen auszupacken und die Hütte bewohnbar zu machen. Und sie hätte noch länger gebraucht, wenn Dan ihr nicht geholfen hätte.
Verglichen mit einigen anderen Orten, an denen sie bereits gehaust hatte, war die vier mal vier Meter große Blockhütte gar nicht so schlecht. Sie hatte ein Fliegenfenster in jeder Wand; um das Dach würde Helen sich allerdings so bald wie möglich kümmern müssen. In einer Ecke stand ein dickbauchiger Ofen mit einer Herdplatte. Die Kiste daneben hatte Dan mit Brennholz für einen Monat gefüllt und ihr eine Kettensäge für den Fall dagelassen, dass sie neues Holz brauchte. Außerdem gab es noch einen Coleman-Gasofen mit zwei Brennern.
»Mann, da kann ich ja richtige Dinnerpartys geben«, sagte sie.
»Klar, für deinen neuen Freund Buck Calder.«
»Ach, hör auf!«
Auf den wackligen Regalen neben dem Ofen standen diverse Tassen, Schüsseln und Teller, die ziemlich angeschlagen waren und, falls jemand auf die Idee kam, sie zu stehlen, das Wappen des Forest Service trugen. Von den spinnwebenverhangenen Gardinen, die aussahen, als würden sie bei der ersten Berührung zu Staub zerfallen abgesehen, bestand der einzige Wandschmuck aus einer in Folie eingeschweißten Karte von Hope und einigen rußigen, gusseisernen Pfannen, die an Nägeln über dem Becken aus abgeplatzter Emaille hingen. Die Spüle selbst war mit einem schön geformten Pumpschwengel ausgestattet, doch das Wasser lief in einen weniger schönen Putzeimer unter dem Becken ab.
In der gegenüberliegenden Ecke standen zwei Etagenbetten. Für das untere hatte Dan vorsorglich eine neue Matratze, Decken und Kissen besorgt. An sonstigen Möbelstücken gab es noch einen alten Schrank und einen einfachen Holztisch mit zwei Stühlen. Im Dielenboden war eine Falltür eingelassen.
»Und was ist da unten?«
»Ach, da geht’s in den Keller. Du weißt schon, Waschküche, Sauna, das übliche eben.«
»Kein Swimmingpool?«
»Der wird erst nächste Woche eingebaut.«
Sie machte die Falltür auf und sah einen kahlen Kriechkeller mit Betonboden, etwa einen Meter breit und anderthalb Meter tief. Darin wurden im Winter die Lebensmittel vor Frost und im Sommer vor Hitze geschützt.
Der einzige Luxus war der kompakte kleine japanische Generator, den Dan draußen neben der Tür angebracht hatte, damit sie den Laptop, den CD-Player und das von Dan besorgte Handy aufladen konnte. Theoretisch, sagte er, sollte es auch möglich sein, das Telefon an den Laptop anzuschließen und E-Mail zu empfangen, bloß funktionierten die Handys hier oben in den Bergen nicht besonders gut, so dass man oft keinen Empfang hatte. Doch der Gedanke an die Einsamkeit machte Helen nichts aus. Sicherheitshalber wollte Dan außerdem noch eine Mailbox für sie einrichten lassen.
Hinter der Hütte befand sich noch ein kleiner Verschlag mit einer Art improvisierter Dusche – ein Eimer mit Löchern. Vögel hatten darin genistet, aber mit etwas Geschick würde Helen die Dusche schon wieder hinkriegen.
»Ich hab versucht, hier ein bisschen sauberzumachen«, sagte Dan.
»Lieb von dir. Danke.«
»Egal, was dein Freund Buck Calder sagt, allein bist du hier bestimmt nicht.«
»Wie meinst du das?«
Er zeigte ihr die Mausefallen, die er hinter dem Ofen und unter dem Bett aufgestellt hatte. Sie waren zugeschnappt, die Köder verschwunden, doch war keine Maus zu sehen.
»Du kannst also immer noch keine Falle stellen, Prior.«
»Deshalb sitze ich ja auch hinterm Schreibtisch.«
»Was für einen Köder hast du benutzt?«
»Käse, was hättest du denn genommen?«
»He, du weißt doch, einen Trapper fragt man nicht nach seinen Tricks.«
In dieser ersten Nacht war sie zu müde, um Jagd auf Mäuse zu machen, doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, wünschte sie, sie hätte es getan. Buzz stellte ihnen die ganze Nacht nach und veranstaltete dabei einen solchen Lärm, dass sie ihn schließlich nach draußen brachte und in den Toyota einschloss. Sich selbst überlassen, huschten die Mäuse bis zum Morgengrauen durch ihre Träume. Als Dan am nächsten Tag kam, hatte Helen eine komplizierte Falle konstruiert, bei deren Anblick Dan in schallendes Gelächter ausbrach.
Joel hatte ihr die Methode gezeigt, als sie ihr erstes Jahr zusammen auf dem Cape verbrachten und das Schiffhaus plötzlich zur Zuflucht für heimatlose Nagetiere wurde. Man brauchte dazu nur einen Eimer, ein Stück Draht und eine Blechdose, in die man an beiden Seiten ein Loch bohrte. Man steckte den Draht durch die Löcher und hängte sie über einen mit einigen Zentimetern Wasser gefüllten Eimer. Dann brauchte man bloß noch einen Stock an den Eimer zu lehnen, die Dose mit Erdnussbutter einzufetten, den Hund wegzusperren und sich schlafen zu legen. Die Mäuse kletterten am Eimer hoch, krabbelten über den Draht, und sobald sie auf die Dose wollten, drehte diese sich, und die Mäuse fielen ins Wasser.
»Funktioniert immer«, sagte Helen.
»Nie im Leben.«
»Wetten wir um ein Abendessen?«
»Die Wette gilt.«
In dieser Nacht gingen drei Mäuse in die Falle, die sie stolz Dan zeigte, als er am nächsten Nachmittag mit den Halsbändern, Fallen und Kartenmaterial für ihren Computer kam. Er warf ihr zwar halbherzig vor, geschummelt zu haben, hielt dann aber Wort und lud sie, nachdem sie einen weiteren Tag damit verbracht hatten, die Hütte auf Vordermann zu bringen, zum Essen in Nelly’s Diner ein.
Helen gab sich Mühe, das größte Steak zu bewältigen, das ihr je unter die Augen gekommen war. Auf der Karte wurde es scherzhaft als »Dino-Knochen« angepriesen, aber selbst das war noch untertrieben.
An sämtlichen Wänden des Diners hingen riesige Fototapeten mit Bildern der Rocky Mountains, die früher, durch die kleinen Vorderfenster betrachtet, die echten Berge armselig aussehen ließen. Doch im Lauf der Jahre war die Farbe nachgedunkelt, und in der Wärme hatten sich die Tapetenränder gelöst, so dass die Landschaft nun im Schatten zu liegen und von seltsamen Erdspalten durchzogen zu sein schien. Vor diesem Hintergrund drohenden Untergangs aber sorgten die Tische mit ihren rot-weiß karierten Papierdecken und den in roten Gläsern schwimmenden Kerzen für eine etwas fröhlichere Atmosphäre.
Es waren nur zwei weitere Tische besetzt: der eine von einer Familie deutscher Touristen, deren riesiger Winnebago die Aussicht aus den vorderen Fenstern versperrte, der andere von zwei älteren Männern, beide mit weißen Stetsons und Hörgeräten.
Der einzige Kellner war ein freundlicher Riese mit blau getönter Sonnenbrille, die langen grauen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Den Kommandos aus der Küche – bestimmt war das Nelly – entnahmen sie, dass er Eimer hieß. Darüber hinaus wiesen ihn die Tätowierungen und das schwarze T-Shirt mit der Aufschrift »Bikers for Jesus« als den Besitzer der Harley Davidson aus, die chromglänzend draußen vor dem Restaurant stand. Als Helen und Dan hereinkamen, sagte er: »Engel mit euch.« Sie brauchten einen Augenblick, bis sie begriffen, dass dies als Begrüßung gemeint war, und vermieden es angestrengt, sich anzusehen, bevor sie nicht an ihrem Tisch saßen.
Helen schob den Teller weg und lehnte sich zurück.
Sie fragte sich, ob sie in seinen Augen an Glaubwürdigkeit verlieren würde, wenn sie sich jetzt eine Zigarette ansteckte, und beschloß, es lieber nicht zu tun.
Beim Essen hatten sie fast ausschließlich in Erinnerungen an die gute alte Zeit in Minnesota geschwelgt. Helen erzählte von dem Tag, an dem seine Hand ausgerutscht war, als er einem gefangenen Wolf ein Beruhigungsmittel geben wollte, und sich die Spritze selbst in den Oberschenkel gejagt hatte. In Sekundenschnelle war er zusammengeklappt. Sie lachten so laut, dass sich die beiden deutschen Kinder immer wieder zu ihnen umdrehten und sie mit ihren großen blauen Augen anstarrten.
Mit keinem Wort spielten sie auf ihre kurze Affäre an, wofür Helen sehr dankbar war. Es hatte sie anfangs ein wenig beunruhigt, dass Dan jetzt geschieden war. Sie wusste nicht, ob es inzwischen wieder eine Frau in seinem Leben gab, wünschte es ihm aber.
Dan kapitulierte ebenfalls vor dem Steak. Er nahm einen Schluck Bier, lehnte sich zurück, schwieg einen Augenblick und lächelte sie an.
»Was grinst du so?«, fragte sie.
»Ach, ich hab nur so nachgedacht.«
»Worüber?«
»Wie schön es ist, dich hier zu haben.«
»Mann, für ein Gratisessen würde ich überall mit dir hingehen.«
An seinem Blick sah sie, dass er etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Sie hoffte, dass er seine Gedanken nicht aussprach und alles verdarb.
»Weißt du, Helen, als Mary und ich uns getrennt haben, da hätte ich dich beinahe angerufen.«
»Ach?«
»Ja, ich habe oft an dich gedacht. Und daran, was aus diesem Sommer damals geworden wäre, wenn ich nicht …«
»Hör schon auf, Dan.«
»Tut mir leid.«
»Das muss es nicht.«
Sie griff über den Tisch nach seiner Hand und lächelte ihn an.
»Wir sind Freunde«, sagte sie leise. »Und so war es eigentlich schon immer.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Und im Moment brauche ich einen Freund mehr als, na ja, mehr als alles andere.«
»Tut mir leid.«
»Sag das noch mal, und ich verrate dir nie mehr meine Mäusefängergeheimnisse.«
Er lachte und ließ ihre Hand los. Zum Glück tauchte jetzt Eimer auf und fragte, ob er die Steaks abräumen könne und ob sie lieber Creme- oder Schokoladentorte wollten. Sie entschieden sich für Kaffee.
»Sie sind also die Wolfslady, oder?«, fragte er, als er mit dem Kaffee zurückkam.
»Stimmt. Woher wissen Sie das?«
Er zuckte die Achseln. »Das weiß doch die ganze Stadt.«
Buck sah noch mal in den Rückspiegel und vergewisserte sich dann, dass auch die Straße vor ihm frei war. Wenn er auf Höhe ihrer Einfahrt ein Auto sah, fuhr er einfach weiter.
Es war wirklich praktisch, dass sie hier draußen am Rand der Stadt wohnte, wo es keine neugierigen Nachbarn gab und er den Wagen einfach hinterm Haus parken konnte, so dass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Jedenfalls war das viel besser, als es in irgendeinem schäbigen Motel an der Interstate oder oben im Wald zu treiben, den nackten Hintern den Elementen ausgesetzt, oder – im Winter – hinten auf dem Pick-up, was in jungen Jahren ganz in Ordnung war. Doch mit zunehmendem Alter brauchte man für die Liebe, wie für die meisten Dinge im Leben, etwas mehr Komfort.
Vor einiger Zeit hatten sie ein Signal vereinbart. Wenn sie die Vorhänge vor dem kleinen Fenster auf der Straßenseite schloss, bedeutete dies, dass sie Besuch hatte, dann fuhr Buck weiter. Er freute sich, dass dies heute nicht der Fall war. Er sah Licht im Haus und stellte sich vor, wie sie duschte, frisch roch und für ihn bereit war. Schon allein bei dem Gedanken spannte sich der Stoff seiner Hose im Schritt.
Buck hatte immer einen Grund gefunden, von zu Hause zu verschwinden. Einmal war es irgendeine Sitzung, zu der er musste, dann ein Nachbar, den es zu besuchen, oder ein Geschäft, das es in der Stadt zu tätigen galt. Für die seltenen Augenblicke, in denen es knifflig wurde, hatte er Freunde, auf die er sich verlassen konnte. Heute Abend nahm er angeblich an einem Viehzüchtertreffen in Helena teil, wo er tatsächlich kurz gewesen war. Meist brauchte er nicht einmal zu lügen, da Eleanor nie fragte, wohin er ging oder wann er zurück sein würde; und wenn er heimkam, schlief sie schon.
Die Straße war frei, also lenkte er den Wagen in die Auffahrt und parkte hinter dem alten Kombi. Als er ausstieg, ging die Haustür auf. Er sah sie in ihrem schwarzen Bademantel im Türrahmen lehnen, wo sie auf ihn wartete, ein verführerisches Lächeln im Gesicht. Er ging schweigend auf sie zu. Als er bei ihr war, glitten seine Hände unter ihren Morgenmantel und umfassten ihre nackten Hüften, während er sie auf den Hals küsste.
»Ruth Michaels«, sagte er, »du bist doch wirklich die aufregendste Frau diesseits des Missouri.«
»Ach ja? Und wen hast du auf der anderen Seite?«
Als er später nach Hause kam und sich zum zweiten Mal an diesem Abend auszog, drehten sich Bucks Gedanken um weniger erregende Dinge. Aus dem kleinen Kabinett, das Schlaf- und Badezimmer miteinander verband, betrachtete er Eleanors schlafende Gestalt im großen Messingbett und fragte sich, was sie in Gottes Namen dazu gebracht hatte, Ruth Geld anzubieten.
Ruth fand die Idee offenbar recht amüsant. Sie hatte ihm die Neuigkeit etwa eine halbe Stunde nach seiner Ankunft mitgeteilt, als sie verschwitzt und zufrieden auf ihrem Bett lagen und er, aus keinerlei bestimmtem Grund, an die hübsche junge Biologin dachte, die dort oben allein im Wald lebte, und sich fragte, wie seine Chancen wohl bei ihr standen. Als wollte sie ihn für diese Gedanken bestrafen, erzählte ihm Ruth wie von einer längst beschlossenen Sache, dass Eleanor ihr aus der Patsche helfen und ihre Geschäftspartnerin werden wollte. Er wäre fast aus dem Bett gefallen.
»Deine Partnerin?«
Ruth lachte. »Weißt du, als sie hereinkam, war ich schrecklich nervös und dachte nur, meine Güte, da kommt sie, sie weiß Bescheid. Und dann sitzt sie da mit ihrem Cappuccino und bietet mir Geld an.«
»Das kann sie doch nicht tun. Verdammt noch mal, Ruthie, ich hab dir doch gesagt, ich gebe dir das verdammte Geld.«
»Dein Geld könnte ich nicht annehmen.«
»Und von ihr kannst du’s?«
»Ja.«
»Das kapier ich nicht.«
»Tja, mein lieber Buck, denk drüber nach.«
Und dann lachte sie, dass ihre Brüste sich auf eine Weise bewegten, die ziemlich irritierend war, wenn man versuchte, wichtige Neuigkeiten richtig einzuschätzen. Er hatte Ruth gefragt, was so lustig sei, und sie erzählte ihm, Eleanor habe gesagt, sie wolle mehr als nur eine »stille Teilhaberin« sein.
Buck fand das überhaupt nicht witzig.
Er stand unter der Dusche und spülte sich den Sexgeruch vom Körper, während er weiter nachdachte. Natürlich konnte er Eleanor nicht darauf ansprechen, solange sie ihm nicht selbst etwas sagte. Außerdem war es schließlich ihr Geld. Ihr Vater hatte es ihr vererbt, und es war allein ihre Sache, aus welchem Fenster sie ihr Erbe warf. Doch wenn sie ihre Pläne in die Tat umsetzte, würde sein Leben komplizierter werden, denn eine der Grundregeln bei Seitensprüngen lautete, dass man Frau und Geliebte möglichst weit auseinanderhielt. Für Ruth schien dies erstaunlicherweise kein Problem zu sein.
Er trocknete sich vor dem Spiegel ab, bewunderte wie immer seine Figur und suchte nach Spuren, die Ruth hinterlassen haben könnte. Nichts zu sehen. Dann putzte er sich die Zähne, sah sich grinsend an, ging ins Schlafzimmer und vermied jene Bodendielen, von denen er wusste, dass sie knarrten. Er machte die Nachttischlampe aus, die Eleanor für ihn angelassen hatte, und schlüpfte leise neben ihr ins Bett.
Wie jeden Abend hatte sie ihm den Rücken zugekehrt. Sie lag mit dem Gesicht zur Wand, ohne sich zu bewegen. Er konnte sie kaum atmen hören. Manchmal glaubte er, dass sie nur so tat, als schliefe sie.
»Gute Nacht«, sagte er leise, erhielt aber keine Antwort.
Frauen! dachte Buck, als sich die Konturen der Zimmerdecke über ihm langsam in der Dunkelheit abzeichneten. Selbst nach all diesen Jahren, nach all der Mühe, die er aufgewandt hatte, möglichst viele von ihnen kennenzulernen und möglichst viel über sie zu erfahren, blieben sie letztlich doch eines von Gottes größten Rätseln.
Eleanor hörte ihn seufzen, hörte, wie er sich herumwälzte, und wusste, dass er sich zu ihr umgedreht hatte, sie vielleicht beobachtete, um zu sehen, ob sie schlief. Sie bewegte sich nicht. Bald würde er noch einmal kurz seufzen, sich zur anderen Seite drehen, sich etwa fünf Minuten später auf den Rücken legen, einmal mit der Zunge schnalzen und schließlich zu schnarchen beginnen.
Sie beneidete ihn um die Leichtigkeit, mit der er in die Welt des Traums hinüberglitt. Vor langer Zeit, als sie selbst noch hoffte, schlafen zu können, hatte sie es mit dem gleichen Ritual versucht: linke Seite, rechte Seite, auf den Rücken, aber es funktionierte nie.
Wenn er nicht getrunken hatte, schnarchte er nicht besonders laut. Es klang fast wie ein Blasebalg, mit dem man im Winter das Feuer im Wohnzimmer anfachte. Der Rhythmus ihres eigenen Atems war schneller, und jeden Abend versuchte sie, ihn beizubehalten. Aber es klappte nicht. Sie lag da, wartete unangenehm lang mit dem Ausatmen und wehrte sich mit jedem Schlag ihres Herzens dagegen, dass ihr Mann sie selbst noch im Schlaf beherrschte.
Manchmal, wenn sie sicher war, dass er schlief, drehte sie sich leise und vorsichtig um, so dass die Matratze sich nicht bewegte, und beobachtete ihn. Sie sah, wie die mächtige Brust sich hob und senkte, sah das Zittern der offenen Lippen, wenn er ausatmete. Sein nach oben gekehrtes, im Schlaf entspanntes Gesicht wirkte fast kindlich, ja anrührend. Über seine Stirn verlief wie ein Heiligenschein ein helles Band, dort, wo ihn der Hut vor der Sonne schützte. Eleanor suchte in ihrem Herzen nach Spuren ihrer früheren Liebe und erinnerte sich an die Zeit, als sie mehr als Mitleid oder Verachtung für ihn empfunden hatte.
Vor ihrer Ehe hatte sie zwar nicht alles, aber doch ziemlich viel über Bucks Verhältnis zu Frauen gewusst. Die Freundin einer Freundin hatte persönliche Erfahrungen mit ihm gemacht und sie gewarnt. Als Eleanor ihn jedoch zur Rede stellte, legte er ein entwaffnend offenes Geständnis ab und überzeugte sie schließlich davon, dass er doch immer nur auf sie gewartet habe.
Sie hätte ihn vermutlich auch geheiratet, wenn sie nicht von seiner Aufrichtigkeit überzeugt gewesen wäre. Sein Verlangen nach Frauen war eine Schwäche, und bei einem so starken Mann konnten Schwächen durchaus etwas Reizvolles sein. In der zutiefst katholischen Eleanor weckte dies einen bisher nie gekannten Missionierungseifer. Und sie war nicht die erste Frau – und würde gewiss auch nicht die letzte sein –, die einen Mann in dem Glauben heiratete, ihn retten zu können.
Dass Buck Calder nicht bereit war, sich retten zu lassen, oder einfach nicht zu retten war, stellte sich schon nach wenigen Jahren heraus, doch brauchte sie noch eine ganze Weile, um sich diese Tatsache einzugestehen.
Seine politische Arbeit in der Region und als Sprecher der Viehzüchtervereinigung bot ihm reichlich Gelegenheit, seinen Vergnügungen außer Haus nachzugehen, und was ihre Augen nicht sahen, konnte ihr Herz leicht verleugnen. Er war ein geschickter Betrüger, wählte die Frauen mit Bedacht und mied jene, die später vielleicht Schwierigkeiten machten. Und diejenigen, die er mit ins Bett nahm, schienen die Regeln zu kennen. Sie riefen ihn nie zu Hause an, hinterließen keine Make-up-Flecken auf seiner Kleidung und schienen ihm auch in ihrer größten Leidenschaft keine Beiß- oder Kratzspuren zuzufügen.
Der Wunsch nach Verdrängung machte erfinderisch. Und Eleanor, der viel von der Schmach der betrogenen Gattin erspart blieb, ließ sich bereitwillig täuschen.
Als Kathy zur Welt kam, änderte sich alles.
Die Geburt setzte zwei Wochen zu früh ein, und Buck befand sich gerade auf einer Viehzüchterkonferenz in Houston. Alles geschah derart rasch, dass sie erst spät am Abend, das Neugeborene im Arm, von der Klinik aus in seinem Hotel anrufen konnte und in sein Zimmer durchgestellt wurde. Eine Frau meldete sich, eine, die offenbar die Regeln noch nicht kannte.
»Hier Mr. Calders Bett«, flötete sie, ehe er ihr den Hörer aus der Hand reißen konnte.
Buck kam nach Hause und gestand. Und um der Kinder willen, aber auch, weil er seine Rolle als reuiger Sünder genauso gut spielte wie die als Betrüger, erklärte Eleanor sich bereit, ihm zu vergeben, war es doch, wie er beteuerte, nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen. Nichts könne entschuldigen, was er getan habe, sagte er. Doch er sei in einer fremden Stadt gewesen, ganz allein, und nach ein paar Drinks zuviel könne es schon mal passieren, dass man auf Abwege geriete. Und da Eleanor schwanger und es schon ziemlich lange her gewesen sei, dass sie … na ja, sie wisse schon.
Sechs Monate lang machte sie ihm die Hölle heiß, verbannte ihn aus ihrem Bett und bemühte sich, nicht schwach zu werden, während er den reuigen Gatten spielte und seine angemessene Strafe mannhaft ertrug. Er sah nach den Kindern und erledigte die Arbeit auf der Ranch, während sie sich um das Baby kümmerte.
Eleanor war insgeheim beeindruckt davon, wie gut er jene monotonen Aufgaben bewältigte, um die sie sich bisher hatte kümmern müssen. Morgens weckte er Henry und Lane und zog sie an, abends badete er sie und brachte sie wieder ins Bett. Er kaufte ein, ohne sie fragen zu müssen, was sie brauchten. Er brachte ihr Blumen und kochte besondere Gerichte für sie, die sie kommentarlos zu sich nahm. Er war höflich und rücksichtsvoll und lächelte sie verlegen an, wenn sie sich herabließ, in seine Richtung zu schauen.
Eleanor wusste nicht, wie viele »Gegrüßet seist du, Maria« man zur Buße für einen Ehebruch aufbekam, aber gerade als sie zu dem Schluss kam, dass er genug gelitten habe, glaubten zwei mitfühlende Freundinnen, ihr alles mitteilen zu müssen, was ihr bislang verborgen geblieben war. Bei einem vormittäglichen Kaffeeplausch berichteten sie ihr in allen Einzelheiten, mit wem Buck in den letzten Jahren noch ins Bett gegangen war – und dazu gehörten auch einige Frauen, die Eleanor bis dahin für Freundinnen gehalten hatte.
Heute wusste sie, dass sie den Rat ihrer Freundinnen befolgen und ihn hätte verlassen sollen, doch in einem Winkel ihres Herzens war sie überzeugt, ihn doch noch retten zu können. Manchmal schaute sie aus dem Küchenfenster auf die schneebedeckte Weide, sah die Pappel aus der rostigen Karosse des alten Ford ragen und sagte sich, dass nichts unmöglich war, dass der Herrgott kein Unglück zuließ, das nicht auch einen Funken Hoffnung in sich barg.
Schließlich ließ sie ihn zurück in ihr Bett, doch sollten noch einmal drei Jahre vergehen, bevor sie wieder mit ihm schlief. Dabei sehnte sie sich nach ihm. Manchmal wachte sie nachts voller Begehren auf und musste all ihre Kraft aufbieten, um ihn nicht zu wecken und ihm in lustvoller Umarmung zu vergeben.
Auf genau diese Weise war Luke empfangen worden. Und während in den folgenden Monaten das letzte Kind in ihrem Schoß heranwuchs, entdeckten Eleanor und Buck eine Leidenschaft füreinander, die ihn ebenso erregte und überraschte wie sie selbst. Er war der einzige Mann, mit dem sie je geschlafen hatte, doch erst damals war ihr Körper ganz für ihn erwacht.
Selbst wenn sie heute, nach all diesen Jahren, an jene Zeit zurückdachte, konnte Eleanor die Heftigkeit und den Schmerz ihrer Liebe fast noch spüren und schämte sich dafür, so von der körperlichen Liebe überwältigt worden zu sein. Hätte sie sich doch nur zurückgehalten, vielleicht wäre dann der Kummer über seine späteren Eskapaden leichter zu ertragen gewesen. Denn nach der Geburt von Luke – ihrem Sohn, dem Vater so unähnlich, wie ein Kind es nur sein konnte – war es mit der Leidenschaft vorbei.
Für Buck, dachte sie später, war es wahrscheinlich nur wie das Ende einer seiner Affären gewesen.
Sie verstand seine Kritik an Luke als Kritik an ihr selbst, denn der Junge war tatsächlich ihr Ebenbild, und seine Schwächen und Unzulänglichkeiten mussten daher auch die ihren sein.
Die anderen Kinder hatten frühzeitig die Nacht durchgeschlafen, und nur wenn sie krank waren, kamen sie zu den Eltern ins Bett. Doch Luke weinte und beruhigte sich erst dann, wenn sie ihn mit zu sich ins Bett nahm und im Arm hielt, bis er eingeschlafen war.
Anfangs drängte Buck sie, ihn zurück in die Wiege zu legen, doch Luke schreckte immer wieder hoch und begann von neuem zu weinen, so dass sie ihn trotz Bucks Protesten die ganze Nacht bei sich behielt.
Und so zeichnete sich schon bald die neue Struktur ihres Lebens ab: Eleanor war müde und abweisend; ihr Mann fühlte sich ausgeschlossen, ließ sich schon nach kurzer Zeit wieder auf amouröse Abenteuer ein – die sie nun nach Kräften ignorierte und derentwegen sie ihn mit aller Macht zu bedauern suchte. Und da war dann noch dieser kleine Junge, der nun im wahrsten Sinn des Wortes zwischen ihnen lag.
Und so begann der lange Winter ihrer Ehe. Ohne Begehren und Zuneigung blieb ihnen nicht einmal mehr die Wärme für den gegenseitigen Trost, als der junge Henry starb. Am nächsten waren sie einander noch, als sie sich am Tag nach der Beerdigung stritten. Buck hatte sie dabei überrascht, wie sie die Wäsche ihres toten Sohnes bügelte, und sie eine Närrin genannt. Was soll ich denn tun, hatte sie gefragt, soll ich die Sachen wegwerfen?
Sie hörte, wie sich ihr Mann jetzt auf den Rücken drehte und sein Kissen zurechtrückte.
Bald schnarchte er, und sie lag da und fragte sich, in welchem Bett er heute Abend wohl schon gewesen war. Aber sie gab sich Mühe, sich nach all den Jahren nichts mehr daraus zu machen.
Dan brachte Helen aus dem Last Resort, wo sie nach ihrem Essen noch ein Bier getrunken hatten, zu ihrem Wagen. Sie bedankte sich bei ihm für den schönen Abend und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Engel mit dir«, sagte sie, als sie losfuhr.
»Mit dir auch.«
Es ging auf Mitternacht zu, und die Stadt lag verlassen da. Helen fuhr bis zum Ende der asphaltierten Straße und bog dann auf den Kiesweg ein, der ins Tal führte. Buzz, der im Wagen geschlafen hatte, saß jetzt wachsam auf dem Vordersitz.
Sie fuhr diese Strecke zum ersten Mal im Dunkeln, und nachdem sie den Hauptweg am oberen Talende verlassen hatte, wurde es etwas schwierig. Es gab keine Schilder, und sie wusste nur, dass sie zweimal rechts und einmal links abbiegen musste. Doch sie hatte sich verfahren und stand schließlich vor einer Ranch, aus der bellend ein paar Hunde hervor schossen und jemand aus einem der oberen Fenster schaute, dessen Silhouette sich deutlich im gelben Licht abzeichnete. Sie winkte, wendete und hielt in einiger Entfernung, um im Licht ihrer Taschenlampe die Karte zu studieren.
Am Waldrand fand sie endlich die Reihe der fünf Briefkästen, darunter ihr eigener, hinter der einige Bäume die richtige Abzweigung verdeckten. Die Kiesstraße wurde zu einem Sandweg, der sich steil und zerfurcht weitere vier Meilen hinauf zum Eagle Lake wand. Die Briefkästen hatten verschiedene Farben, ihrer war weiß. Sie nahm an, dass die übrigen Kästen zu Hütten oder Häusern gehörten, die sie noch nicht kannte. Doch die einzigen Menschen, die sie bislang hier oben gesehen hatte, waren ein einsamer Wanderer und der Fahrer eines riesigen Holztransporters gewesen, der sie am Nachmittag fast vom Weg abgedrängt hatte.
Während der alte Lieferwagen unter den Bäumen entlang rumpelte, dachte sie daran, was Dan ihr beim Essen zu sagen versucht hatte. Es gab wirklich schlechtere Männer als Dan Prior. Davon konnte sie ein Lied singen. Seine Gefühle rührten sie, und einen Moment lang fühlte sie sich sogar geschmeichelt – bis sich ihr anderes Ich meldete, jenes Ich, das ihr immer einen kräftigen Tritt in den Hintern verpasste, wenn sie auch nur anfing, zufrieden mit sich zu sein, und ihr sagte, sei nicht blöd, der arme Kerl ist geschieden und vermutlich ziemlich einsam.
Der Eagle Lake lag in einer Lichtung, einer großen Weide, die sich im Frühsommer in ein Meer von Blumen verwandelte. Am westlichen Ufer stand die Hütte, etwa zehn Meter vom Wasser entfernt, an einem sanften Hang, den ein Bach durchschnitt, zu dem in der Dämmerung morgens und abends Hirsche zur Tränke kamen.
Als Helen den Wald verließ und zur Hütte fuhr, strahlten die Scheinwerfer des Pick-up acht oder neun der Tiere an. Sie hoben gleichzeitig den Kopf und schauten sie ohne Scheu an. Helen hielt den Wagen an, und einige Augenblicke betrachteten sie einander, während Buzz vor Aufregung zitterte und kleine japsende Laute von sich gab. Dann drehten sich die Tiere um, liefen gemächlich davon, und gleich darauf waren ihre weißen Spiegel zwischen den Bäumen verschwunden.
Helen stellte den Wagen neben der Hütte ab, und während Buzz schnuppernd umherlief, lehnte sie sich an die Kühlerhaube und schaute zum Himmel hinauf. Es war kein Mond zu sehen, dafür leuchteten die Sterne um so mehr. Noch nie hatte sie einen derart strahlenden Himmel gesehen. Es ging kein Wind, und Kieferngeruch erfüllte die Luft.
Helen atmete tief ein und musste husten. Keine Frage, sie würde mit dem Rauchen aufhören. Für immer. Sie wollte sich nur noch diese eine Zigarette anstecken, und das würde die letzte sein. Die allerletzte.
Sie zündete sich die Zigarette an, ging am Bach entlang und stellte überrascht fest, dass allein das Licht der Sterne ausreichte, einen Schatten zu werfen. Am Uferrand lag auf einem kurzen Kiesstreifen ein Holzboot, das man früher vermutlich zum Fischen benutzt hatte, das inzwischen aber längst verrottet und von Binsen überwuchert war. Sie prüfte, ob die Sitzplanke im Boot ihr Gewicht aushielt, und setzte sich darauf, um ihre letzte Zigarette zu rauchen und das Spiegelbild des Himmels im glasklaren Wasser zu betrachten.
Hin und wieder hörte sie Buzz weiter oben im Wald herumstöbern, und einmal glaubte sie, den schweren Tritt eines größeren Tiers wahrzunehmen. Sonst war alles still; kein Frosch quakte, keine Insekten schwirrten, als schwiege die Welt in dieser Nacht aus Ehrfurcht vor dem Himmel. Im Wasser spiegelte sich eine Sternschnuppe. Seit ihrer letzten Nacht auf dem Cape hatte sie keine mehr gesehen, also schloss sie die Augen und wünschte sich wie damals gleich drei Dinge statt einem, nämlich, dass Joel gesund war, wie versprochen zu ihr zurückkehrte und, woran sie am meisten zweifelte, wieder mit ihr zusammensein wollte.
Sie stand auf und drückte die Glut der Zigarette aus. Dann steckte sie den Stummel in die Tasche. Schon verrückt, dachte sie, da machte sie sich nun mehr Sorgen um die Umwelt als um ihre Raucherlunge.
Morgen wollte sie ein neues Leben beginnen und sich auf die Suche nach dem Wolf machen. Sie fragte sich, wo der sich wohl gerade herumtrieb. Bestimmt war er auf der Jagd, die feuchte Nase in die Dunkelheit gereckt, die gelben Augen wachsam. Oder er schlich wie ein Schatten durch das Unterholz.
Vielleicht sollte sie heulen wie ein Wolf und warten, ob sie Antwort erhielt. Dan hatte immer behauptet, dass sie so gut heulte wie sonst niemand und kein Wolf in ganz Minnesota ihrem Ruf widerstehen könnte. Aber sie hatte seit Jahren keinen Wolfsruf mehr nachgeahmt, und obwohl ihr Publikum nur aus Buzz bestand, fühlte sie sich irgendwie gehemmt. Aber dann dachte sie, was soll’s, räusperte sich und legte den Kopf in den Nacken.
Sie war so sehr aus der Übung, dass ihr erster Versuch völlig missglückte. Sie klang wie ein Esel mit Halsschmerzen, und auch beim zweiten Mal war sie nicht viel besser. Dann, beim dritten Versuch, klappte es: der tiefe Ansatz, danach der sich langsam ausweitende, klagevolle Anstieg, der schließlich in der Nacht verklang.
Falls ein Wolf sie gehört hatte, gab er keine Antwort.
Sie erhielt nur ein Echo aus irgendeinem entlegenen Winkel der Berge, doch der Laut ließ Helen schaudern. Denn sie vernahm in ihm das Klagelied ihrer eigenen, trauernden Seele.