Das zweite Tauwetter setzte sanfter ein als das erste. Kein warmer Wind ließ plötzlich den Schnee schmelzen, und der Hope River hatte sich offenbar ausgetobt und blieb jetzt, wild tosend zwar, in seinem Bett.
Der Schnee war von den Ebenen verschwunden, die graubraun in der fahlen Sonne trockneten, und hatte sich jetzt, in der ersten Aprilwoche, wie eine verebbende Flut ins Tal zurückgezogen. Eine Weile hielt er sich noch an den Waldrändern und in den schattigen Senken und Rinnen der höher gelegenen Ranches. Die Bäume schienen dem Wetter noch nicht so recht zu trauen. Obwohl die sonnenbeschienenen Lichtungen im Wald knospten und sprossen, blieben die sich durchs Tal windenden Pyramidenpappelreihen noch einen weiteren Monat grau und blattlos.
Das Leben, das im Leib der weißen Wölfin keimte, duldete keinerlei Verzögerung. Drei Wochen zuvor hatte sie eine verlassene Kojotenhöhle am Fuß einer Rodung gefunden, und die beiden überlebenden Welpen hatten ihr dabei zugesehen, wie sie stundenlang grub, bis die Höhle ihren Vorstellungen entsprach.
Ihr Bauch war schwer geworden, und im schmelzenden Schnee wurde die Jagd immer mühseliger für sie. Die beiden Welpen waren nun ausgewachsene Jährlinge mit dem vollen Gewicht erwachsener Tiere, doch mangelte es ihnen noch an Gewitztheit und Lebenserfahrung. Sie hatten zwar so manche Jagd miterlebt, mussten aber noch nie allein ein Tier reißen.
Und seit das Muttertier trächtig war, hatten sie selbst mit den vom Winter geschwächten Hirschen ihre Not.
Immer wieder schlichen sie sich an, kundschafteten aus – jedes Mal vergebens. Manchmal fingen sie ein Kaninchen oder einen Schneehasen und teilten die Beute mit ihrer Mutter, doch war das Mahl nur selten die Mühe wert, die sie aufgewendet hatten. Abgemagert und unruhig folgten sie dem Geruch von Aas und stürzten sich auf die Beutereste anderer Raubtiere.
Es war ein ganz anderer Geruch, der sie an den schneeverwehten Rand einer Lichtung lockte, auf der ein alter Mann an einen Baum gelehnt saß. Seine nackten Zehen ragten aus dem Schnee, der in einiger Entfernung vom Leichnam mit Kojoten- und Rotluchsspuren übersät war. Die Wölfe waren misstrauisch, lag doch etwas Beängstigendes und zugleich Vertrautes in seinem Geruch, und weit Beunruhigenderes verriet ihnen der Geruch des Platzes selbst, an dem sie ihn gefunden hatten. Mit angelegten Ohren und eingeklemmten Schwänzen schlichen sie sich fort und überließen den Leichnam den aus dem Winterschlaf erwachenden Bären.
Die Witterung, die die wärmende Luft aus dem Tal herauftrug, war viel verlockender. Inzwischen hatten die Hauptherden mit dem Kalben begonnen, und die Wölfe kannten bereits die Stellen, an denen die Rancher ihre toten Tiere abluden. Die Wölfe brauchten nur die Kojoten zu vertreiben, dann konnten sie ungestört fressen.
Als die Stunde der weißen Wölfin gekommen war, verschwand sie allein in der Höhle. Die beiden Jährlinge warteten die ganze Nacht und auch den nächsten Tag darauf, dass sie wieder herauskäme. Sie liefen rastlos auf und ab oder lagen stundenlang da, den Kopf auf den Pfoten, und beobachteten den Eingang zur Höhle. Manchmal streckten sie winselnd den Kopf ins Loch, doch ein Knurren aus der Tiefe warnte sie, nicht näher zu kommen Als die Wölfin sich auch am zweiten Abend nicht blicken ließ, zogen sie hungrig davon.
Und während das Muttertier sechs Junge zur Welt brachte, taten sie es ihrem toten Vater gleich, stahlen sich aus dem Wald und rissen ohne große Mühe ihr erstes Kalb.
Sie hatten keinen schlechten Geschmack: Es handelte sich um ein reinrassiges Black-Angus-Kalb der Calder-Ranch.
In der Hütte hatte sie es noch für einen guten Einfall gehalten, aber als sie nun den Wagen abstellte und über die Straße zum Andenkenladen schaute, wäre Helen am liebsten wieder umgekehrt. Doch wahrscheinlich war es dafür bereits zu spät. Lukes Mutter hatte sie bestimmt schon durchs Schaufenster gesehen.
Sie hatte Luke erzählt, sie wolle in die Stadt, um bei Iversons einige Vorräte zu kaufen, denn er sah mit Sicherheit nicht gern, wenn sie seine Mutter aufsuchte. Doch Helen fand, sie schulde der Frau eine Erklärung. Was sie ihr allerdings genau sagen wollte, wusste sie nicht. Etwa: Tut mir leid, dass ich Ihnen Ihren Sohn weggenommen habe? Oder: Tut mir leid, dass ich ihm die Unschuld geraubt habe? Es fiel ihr schwer genug, sich selbst über ihr Verhältnis zu Luke klarzuwerden, wie sollte sie es da einem anderen erklären.
Wie sollte jemand auch nur annähernd verstehen, wie sie sich an jenem Tag gefühlt hatte, als er mit seinen beiden großen Taschen vor ihrer Hütte auftauchte und sagte, er sei von zu Hause fortgegangen und ob er »einige Tage bei ihr bleiben« könne? Sie hatte ihn einfach in den Arm genommen, und so waren sie lange eng umschlungen dagestanden.
»Ab jetzt passe ich auf dich auf«, hatte er gesagt. Und so war es auch.
Mit ihm auf winzigem Raum zusammenzuleben schien ihr das Natürlichste von der Welt zu sein. Luke hatte scherzhaft gemeint, sie lebten wie die Wölfe. Und in gewisser Weise stimmte das auch. Bevor sie ins Bett gingen, wärmten sie abends oft Wasser auf dem Ofen, zogen sich aus und wuschen sich gegenseitig. Nie zuvor hatte Helen einen so zärtlichen Liebhaber gehabt, und nie zuvor, selbst mit Joel nicht, hatte sie ein solches Verlangen gespürt.
Mit Joel hatte sie Leidenschaft, Befriedigung und auch Freundschaft kennengelernt, doch erst jetzt begriff sie, dass zwischen ihnen nie jene Vertrautheit gewesen war, die sie mit Luke verband. Als sie mit Joel zusammengewesen war, hatte sie sich stets kontrolliert und sich bemüht, jene Frau zu sein, die er ihrer Meinung nach haben und behalten wollte.
Nun glaubte sie allerdings, dass es echte Vertrautheit nur geben konnte, wenn zwei Menschen ganz sie selbst waren und sich nicht ständig aneinander maßen. Mit Luke konnte sie so sein. Bei ihm fühlte sie sich begehrt und schön, doch vor allem fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht immerzu beurteilt.
Doch wie um alles in der Welt sollte sie das seiner Mutter erklären? Vielleicht war es doch besser, wieder nach Hause zu fahren. Statt dessen aber bekreuzigte sie sich in Gedanken und stieg aus.
Die frisch übermalte Autotür sah fast so schlimm aus wie mit dem eingekratzten Wort HURE. Luke hatte bei einem Toyota-Händler in Helena den richtigen Farbton aufgetrieben und hervorragende Arbeit geleistet, nur war der Wagen insgesamt so vergammelt und verrostet, dass die Tür wie eine Aufforderung zu neuen Schmierereien wirkte.
Als sie die Tür zum Paragon öffnete, ertönte die Glocke. Zum Glück waren keine Kunden da; Ruth Michaels stand an der Kasse.
»Soweit ganz gut. Und selbst?«
»Besser, seit der Schnee endlich weg ist.«
»Kann ich mir denken. Ist Mrs. Calder da?«
»Klar, sie ist hinten. Ich hol sie. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Helen wartete und summte leise eine Melodie vor sich hin, um ruhiger zu werden. Sie konnte die beiden Frauen miteinander reden hören, verstand aber nicht, was sie sagten. Ruth kam zurück und zog ihren Mantel an.
»Ich muss mal kurz was erledigen. Bis später dann, Helen, ja?«
»Gut.«
Wieder hörte sie die Glocke an der Tür, und ihr fiel auf, dass Ruth beim Hinausgehen das »Offen/Geschlossen«-Schild umdrehte und die Tür abschloss.
»Hallo, Helen.«
»Hi, Mrs. Calder.«
Helen hatte sie seit Thanksgiving nicht mehr gesehen, und verblüfft registrierte sie, welche Ähnlichkeit sie mit Luke hatte: die gleiche blasse Haut und die schönen, grünen Augen. Sie lächelte.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ahm. Na ja, ich …«
»Kommen Sie. Setzen wir uns hierhin, da kann man uns nicht beobachten.«
Helen folgte ihr zu der kleinen Kaffeetheke und setzte sich auf einen Barhocker. Eleanor Calder stellte sich hinter den Tresen.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee machen?«
»Nur, wenn Sie auch einen trinken.«
»Ich glaub, dann nehme ich einen ›ohne‹.«
»Für mich einen ›mit‹, bitte. Einen großen, extra stark.«
Helen überlegte, wie sie beginnen sollte. Stumm schaute sie zu, wie Lukes Mutter den Kaffee zubereitete. Und sie fragte sich erstaunt, wie eine Frau so lange mit einem Mann wie Buck Calder verheiratet sein konnte, ohne ihre Liebenswürdigkeit und Würde zu verlieren.
»Ich bin hergekommen, weil ich das mit Luke erklären wollte – nein, eigentlich nicht erklären, sondern … ich wollte Ihnen nur sagen, dass… ach Mist.«
Mrs. Calder lächelte. »Ich mache Ihnen die Sache ein bisschen leichter.« Sie stellte Helen den Kaffee hin und goss sich dann selbst eine Tasse ein. »Sie haben Luke sehr glücklich gemacht. Soweit ich es beurteilen kann, tun Sie ihm also nur gut.«
Sie ging um den Tresen herum, setzte sich und rührte nachdenklich in ihrem Kaffee.
»Danke«, sagte Helen verblüfft.
»Und dass er zu Ihnen gezogen ist, nun, da kann ich nur sagen, einige Leute hier in dieser Gegend sind ziemlich altmodisch. Was Sie machen, geht nur Sie was an. Und ehrlich gesagt, wüsste ich auch nicht, wo er sonst hin soll.«
»Luke hat mir erzählt, dass Sie auch ausgezogen sind.«
»Ja.«
»Das tut mir leid.«
»Nicht nötig. Ich hätte schon vor Jahren gehen sollen. Wahrscheinlich bin ich nur wegen Luke geblieben.«
Sie redeten noch eine Weile über Lukes Bewerbung für die Universität und dann über die Wölfe. Helen sagte, dass wahrscheinlich nur noch drei oder vier übrig waren. Aus Aberglauben erzählte sie jedoch nichts davon, dass sie seit dem Vortag auch das Signal des Alpha-Weibchens nicht mehr empfingen. Mit etwas Glück konnte dies nämlich bedeuten, dass es sich zum Jungen in eine Höhle zurückgezogen hatte.
»Was ist mit den anderen passiert?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat jemand sie getötet.«
Eleanor Calder runzelte die Stirn.
»Wissen Sie, ich habe ganz vergessen, Luke etwas davon zu erzählen, und vielleicht sollte ich auch lieber nichts erwähnen, aber oben auf der Ranch arbeitet ein Mann namens Lovelace für meinen Schwiegersohn. Erst fiel mir nicht ein, wo ich den Namen schon mal gehört hatte, aber dann wusste ich es wieder. Es gab einmal einen berühmten alten Trapper in Hope mit diesem Namen, und den haben sie den ›Wolfsjäger‹ genannt.«
Dan erkannte sofort, dass Calder und dessen Schwiegersohn die Richtlinien der Viehzüchtervereinigung diesmal buchstabengetreu befolgt hatten. Die beiden toten Kälber waren mit Planen abgedeckt, und sie hatten sorgfältig Sperrholzplatten über die Spuren und den Kot gelegt, den die Wölfe als Visitenkarte hinterlassen hatten.
Zum Glück hatten sie diesmal nicht das Fernsehen angerufen, doch dafür machte sich Clyde Hicks nun selbst ans Werk. Seine Videokamera lief, sobald Dan und Bill Rimmer auf die Weide fuhren. Dan hatte zwar wie gewöhnlich seine eigene Kamera mitgebracht, um die Untersuchung des Kadavers zu filmen, doch Hicks wollte kein Risiko eingehen.
»Ihr Leute von der Regierung schneidet den Film doch so, wie ihr ihn haben wollt«, sagte er. »Also sorgen wir dafür, dass wir unsere eigenen Beweismittel haben.«
Offenbar hielt er sich für eine Art Künstler, denn immer wieder schwenkte er die Kamera, zoomte das Bild heran oder änderte den Blickwinkel, so dass er nicht nur die Untersuchung, sondern auch Dan filmte, wie dieser die Untersuchung filmte.
Calder begrüßte sie nicht mal. Sein Schweigen sagte mehr als alle Worte. Als er Dan im Büro angerufen hatte, um ihm zu sagen, was passiert war, listete er nur die nüchternen Tatsachen auf und fügte hinzu, dass er Helen Ross nicht sehen wolle. Dan rief sie an und hinterließ auf ihrer Mailbox eine entsprechende Nachricht.
Rimmer untersuchte nun das zweite Kalb auf der Ladefläche des Trucks. Die Biss- und Blutspuren ließen keinen Zweifel daran, dass das erste Kalb von einem oder mehreren Wölfen gerissen worden war.
Calder sah ihnen mit verschränkten Armen zu. Jetzt war nichts mehr von dem falschen Charme zu merken, den er bei ihren früheren Besuchen auf der Ranch hatte spielen lassen. Er sah blass und mitgenommen aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen, wie die meisten Rancher in der Zeit des Kalbens.
Dan wusste, dass etwas nicht stimmte, als Bill Rimmer verstummte. Am zweiten Kalb fand er Bissspuren, aber fast kein Blut. Er öffnete den Brustkorb des Tieres.
»Tja«, sagte er schließlich, »gefressen haben sie jedenfalls von diesem hier.« Er richtete sich auf und warf Dan einen Blick zu, bevor er sich zu Calder umdrehte. »Aber umgebracht haben sie das Kalb nicht.«
»Was?« sagte Calder.
»Das Kalb ist eine Totgeburt.«
Calder schaute ihn einen Augenblick an.
»Bei uns gibt es keine Totgeburten«, sagte er eisig.
»Nun, Sir, ich fürchte, dies hier ist eine. Die Lungen haben sich nicht geöffnet. Ich kann es Ihnen zeigen, wenn …«
»Verschwinden Sie von hier.«
Dan versuchte zu vermitteln. »Ich bin mir sicher, Sir, dass Sie als Entschädigung den vollen Marktwert für beide Tiere erhalten können. Die Tierschützervereinigung zeigt in solchen Dingen meist Verständnis …«
»Glauben Sie etwa, dass ich das Blutgeld dieser Leute will?«
»Sir, ich …«
»Verschwinden Sie endlich von meinem Grund und Boden.«
Luke hätte sich in dem Gewirr der Holzfällerwege beinahe verfahren, weil er nicht an der Ranch vorbei wollte, da er fürchtete, dass ihn jemand sah. Doch der einzige andere Weg führte durch den Wald.
Er hatte sich aufgemacht, nachdem Helen zurückgekommen war und ihm davon erzählt hatte. Es war Mittag, also würde Kathy unten im großen Haus sein und für die Kälbertruppe das Mittagessen kochen. Ihm blieb ungefähr eine halbe Stunde Zeit.
Endlich fand er den Weg, den er gesucht hatte. Er war schlammig und voller Schlaglöcher, und einmal musste er anhalten und einen umgefallenen Baum aus dem Weg räumen. Schließlich verriet ihm die Landschaft, dass er sich wahrscheinlich oberhalb von Kathys Haus befand. Er stellte den Wagen ab und ging den Rest des Wegs zu Fuß.
Von der oberen Wiese aus wirkte die Ranch verlassen. Ein silberner Trailer und ein alter, grauer Chevy standen versteckt hinter der Scheune. Luke wusste, dass sie weder Clyde noch Kathy gehörten. Als er an Princes Grab vorbeikam, schoss Maddie, die alte Colliehündin, bellend hinter dem Haus hervor. Sobald sie ihn erkannte, kam sie winselnd und schwanzwedelnd auf ihn zu. Während er sich bückte, um sie zu streicheln, schaute er sich aufmerksam um. Ihr Gebell schien niemanden alarmiert zu haben, alles blieb ruhig.
Um sicherzugehen, klopfte er an die Küchentür und schaute auch noch in der Scheune nach, aber es war niemand da. Daraufhin ging er rasch zum Trailer, klopfte an und drückte, als keine Antwort kam, die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen.
Er brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass dies wohl kaum die Behausung eines Schreiners war. Das verriet ihm schon der Geruch. Ein Wolfsfell lag auf dem Bett, doch das hatte nicht viel zu bedeuten. Dann fand er die verborgenen Schranktüren. Zwei Fächer waren mit Fallen, Drähten, Fußangeln und anderen Dingen vollgestopft, die er noch nie gesehen hatte. In einer anderen entdeckte er Flaschen, die sämtlich nummeriert waren, aber keine Beschriftung trugen. Er machte eine auf und schnupperte daran. Es roch wie das Zeug, das Helen in der Hütte aufbewahrte. Wolfsurin.
Dann hörte er draußen einen Wagen vorfahren.
Rasch stopfte er die Flasche und eine der Fußangeln in die Manteltasche und stellte alles andere wieder so hin, wie er es vorgefunden hatte. Dann trat er aus dem Trailer und versuchte, die Tür leise hinter sich zu schließen, aber sie fiel mit einem lauten Klicken ins Schloss.
»Mr. Lovelace?«
Luke erstarrte und stieß einen stummen Fluch aus. Es war Clyde. Er kam um die Scheune herum zum Trailer.
»Mr. Lovelace?«
Als er Luke sah, wurde seine freundliche Miene feindselig. Hinter ihm tauchte Kathy mit dem Baby auf.
»Luke!«, sagte sie.
»Hi.«
»Was machst du hier?«, fragte Clyde.
»Ich w-w-wollte meine Schwester besuchen.«
»Ach ja? Und wie bist du hergekommen? Bist du geflogen?«
Luke wies mit dem Kopf zum Wald hinauf. »Mein W-W-Wagen steht da oben.«
»Du hast vielleicht Nerven, spionierst hier auf anderer Leute Grund und Boden herum.«
»Jetzt mach mal ‘nen Punkt, Clyde«, sagte Kathy.
Clydes Blick huschte zum Trailer hinüber.
»Hast du da auch rumgeschnüffelt?«
»Nein, hab b-b-bloß angeklopft. Ist aber k-k-keiner da.«
Er spürte, wie er rot wurde. Wann zum Teufel würde er endlich anständig lügen lernen?
Clyde nickte. »Was du nicht sagst.«
Luke zuckte die Achseln. »Ja.«
»Und jetzt verschwinde.«
»Clyde!«, rief Kathy. »Er ist meinetwegen gekommen!«
»Und? Jetzt habt ihr euch gesehen, was willst du mehr?«
»Wag ja nicht, so mit mir zu reden …«
»Halt den Mund.«
Luke sah, wie seine Schwester zusammenzuckte.
»Ist in Ordnung, Kathy. Ich v-v-verschwinde ja schon.«
Er ging an ihnen vorbei und gab sich alle Mühe, ihr tapfer zuzulächeln. Kathy schien den Tränen nahe, schaute ihn an, drehte sich dann um und lief weg. Als er das Hundegrab erreicht hatte, begann Luke zu rennen, und erst beim Wagen blieb er wieder stehen.
Er brauchte für den Rückweg zur Hütte nicht ganz so lange wie für den Hinweg. Als er dort ankam, sah er Dan Priors Wagen neben Helens Pick-up stehen. Buzz rannte durch den Schlamm auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Das angespannte Schweigen, das ihn empfing, als er die Hütte betrat, verriet ihm, dass sie sich gestritten hatten. Dan nickte ihm zu.
»Hi, Luke.«
»Hi.«
Luke sah Helen an; sie wirkte ziemlich aufgebracht.
»Dan will die übrigen Wölfe töten«, sagte sie.
»Stimmt doch, oder? Oder sollen wir es alle, wie heißt es noch, ach ja, richtig, sollen wir es lieber ›finale Lösung‹ nennen?«
Luke schaute vom einen zum andern. »Warum?«
Dan seufzte. »Sie haben eins der Kälber von Ihrem Vater gerissen.«
»Also lässt sich Dan einschüchtern und tut genau das, was dein Vater will: Er sorgt dafür, dass die Wölfe verschwinden. ›Keine Wölfe. Niemals. Nirgendwo.‹ – Man muss einfach nur laut genug schreien.«
»Helen, begreifst du denn nicht mal die einfachsten Regeln der Politik?«
»Politik?«
»Ja, Politik. Sollte sich die Lage hier noch weiter zuspitzen, kann das gesamte Wiederansiedlungsprogramm um Jahre zurückgeworfen werden! Diese Wölfe haben schon genug Chancen gehabt. Manchmal muss man eben eine Schlacht verlieren, wenn man den Krieg gewinnen will.«
»Das ist doch Blödsinn, Dan! Du lässt dich einfach von diesem Calder schikanieren. Weißt du noch, was du gesagt hast?
Hope soll ein richtungweisendes Experiment werden. Wenn du dich nicht gegen Leute wie ihn zur Wehr setzt, gewinnst du den Krieg ganz bestimmt nicht.«
»Du musst dich eben damit abfinden, Helen. Hope ist noch nicht so weit; es kann noch nicht mit Wölfen leben.«
»Wenn du die Wölfe umbringst, wird Hope nie lernen, mit ihnen zu leben. Verdammt, ich weiß überhaupt nicht, warum du mich eigentlich geholt hast.«
»Weißt du was? Dieselbe Frage habe ich mir auch schon gestellt.«
»Früher hast du mal Mumm gehabt.«
»Früher hast du mal Verstand gehabt.«
Sie sahen einander wütend an. Luke holte die Fußangel und die Flasche mit dem Wolfsurin aus seiner Tasche und legte beides auf den Tisch.
»Das hier d-d-dürfte manches ändern.«
Buck war sofort gekommen, nachdem Clyde ihn angerufen hatte. Er ging gleich mit ihm zum Trailer.
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«, fragte Buck.
»Muss fast drei Wochen her sein. Kathy hat gehört, wie er mitten in der Nacht mit dem Schneemobil losgefahren ist. Sie macht sich Sorgen, weil er sonst nie so lange fortbleibt, und glaubt, dass ihm was passiert ist.«
Wenn das stimmte, war Buck nicht allzu traurig. Der Versager hatte verdammt lange gebraucht, um eine Handvoll Wölfe zu töten, und Buck ein kleines Vermögen gekostet. Trotzdem brachten die Bestien weiter seine Kälber um.
Sie durchsuchten den Trailer. Es sah nicht so aus, als habe Luke etwas mitgenommen. Wenn doch, hatte er keine Spuren hinterlassen.
»Bist du sicher, dass er hier drin war?«
»Ich glaube schon.«
Buck dachte einen Augenblick nach. Wenn Luke hier herumgeschnüffelt hatte, musste er einen konkreten Verdacht gehabt haben. Es war also durchaus möglich, dass der Junge direkt zu Dan Prior lief, und dann konnten im Handumdrehen alle möglichen Regierungsleute hier auftauchen.
»Wir sollten den Trailer lieber verschwinden lassen«, sagte Buck, »und den alten Chevy auch.«
»Wie denn? Sollen wir sie vielleicht abfackeln?«
»Manchmal bist du wirklich schwer von Begriff, Clyde. Nein, nicht abfackeln. Fahr sie irgendwohin, und lass sie einfach stehen.«
»Gut.« Er schwieg einen Augenblick. »Und wenn der alte Knacker wiederkommt?«
»Dann sagen wir ihm, wo sie stehen. Klar?«
Sie machten sich sofort an die Arbeit. Während Clyde im Trailer aufräumte und alles Herumliegende verstaute, ging Buck ins Haus, um Ray anzurufen. Er sagte ihm, dass er in der Wolfsgeschichte dringend etwas erledigen müsse, und bat ihn deshalb, mit Jesse eine zusätzliche Kälberschicht einzulegen. Ray stimmte missmutig zu.
»Sollte man nicht nach ihm suchen?«, fragte Kathy. »Vielleicht ist Mr. Lovelace ja was zugestoßen.«
»Das wär bestimmt nicht verkehrt. Ich werde mal mit Craig Rawlinson in Ruhe darüber reden. Aber wir müssen vorsichtig mit dem sein, was wir über ihn sagen, Schatz. Offiziell hat er sich für uns um ein paar Kojoten gekümmert, okay? Und kein Wort über Wölfe.«
»So blöd bin ich nun auch wieder nicht, Dad.«
»Das weiß ich, Schatz.«
Dann drückte er sie an sich und sagte, er würde jetzt mit Clyde den Trailer wegbringen, bloß für den Fall, dass Luke sofort alles bei seinen Freunden von Fish & Wildlife ausplauderte. Wenn in der Zwischenzeit jemand kam, sollte sie einfach sagen, sie wisse nichts.
Clyde hatte inzwischen in der Scheune die Schlüssel für den alten Chevy gefunden, und zusammen hängten sie den Trailer an. Dann sahen sie noch einmal nach, ob von den Sachen des Wolfsjägers auch nichts liegengeblieben war, und fuhren los. Buck lenkte den Pick-up des Alten, und Clyde folgte ihm mit seinem Wagen.
Sie ließen den Chevy und den Trailer etwa fünfundvierzig Meilen außerhalb von Hope auf einer Raststätte für Trucker stehen. Es würde eine Weile dauern, sagte sich Buck, bis man die Wagen hier fand.
Als Kathy die Autos vorfahren hörte, nahm sie an, dass Clyde und ihr Daddy wieder zurückkamen. Doch einige Sekunden später sah sie durch das Küchenfenster zwei beigefarbene Pick-ups, die sie nicht kannte, neben dem Wagen ihres Vaters halten. In jedem Fahrzeug saßen zwei Männer, und jeder von ihnen trug einen Hut. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun.
Sie stiegen aus. Zwei Männer warteten neben den Fahrzeugen, während die anderen beiden auf das Haus zugingen. Als Kathy ihnen die Tür öffnete, zeigte ihr einer von ihnen, ein großer Mann mit mächtigem Schnurrbart, seinen Ausweis. Sie war viel zu verwirrt, um ihn sich genau anzusehen.
»Mrs. Hicks?«
»Ja?«
»Ich bin Special Agent Schumacher von den U.S. Fish & Wildlife Services. Dies hier ist Special Agent Lipsky.«
»Ähm, ja, Tag.«
Kathy erkannte sie wieder. Sie waren im letzten Herbst bei der Wolfsversammlung in der Stadthalle gewesen. Als Schumacher seinen Ausweis einsteckte, fiel ihr Blick auf das Pistolenhalfter unter seiner Jacke. Sie versuchte, unbekümmert dreinzuschauen, und zwang sich zu einem Lächeln.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ihr Mann, Ma’am, ist Mr. Clyde Hicks?«
»Ganz recht.«
»Könnte ich bitte mit ihm sprechen?«
»Er ist im Augenblick nicht da. Stimmt was nicht?«
Kathy sah, wie Agent Lipsky und die anderen beiden Männer zur Scheune hinüberstarrten.
»Wir haben Informationen erhalten, Ma’am, dass illegal Fallen auf dem Gebiet der Forest Services aufgestellt werden, vermutlich, um Tiere zu fangen, die auf der Roten Liste stehen oder deren Bestand bedroht ist.«
»Ach, tatsächlich?«
»Ja, Ma’am. Und der Informant hatte Grund zu der Annahme, dass diese Person oder diese Personen von hier aus operieren.«
»Wirklich?« Sie versuchte zu lachen. »Da handelt es sich bestimmt um ein Versehen.«
Dann sah sie Clydes Wagen die Auffahrt heraufkommen, gefolgt von einem weiteren Fahrzeug, das sie bald als Hilfssheriff Rawlinsons Auto erkannte. Neben ihm saß ihr Vater. Die Männer der Fish & Wildlife Services drehten sich um und warteten.
Als Clyde ausstieg, sah sie die Wut in seinen Augen. Sie hoffte nur, dass er sich nicht wie ein Trottel benahm und noch mehr Ärger heraufbeschwor. Zum Glück war ihr Vater da, um die Sache in die Hand zu nehmen. Sie trat zur Seite, als Special Agent Schumacher noch einmal alles von vorn erklärte.
Ihr Vater hörte ihm schweigend zu. Craig Rawlinsons Gesicht nach zu urteilen behagte ihm der Anblick der Männer ganz und gar nicht. Clyde wollte Schumacher unterbrechen, fing sich aber einen strengen Blick ein, der ihn sofort wieder verstummen ließ.
»Da muss jemand was durcheinandergebracht haben«, sagte ihr Vater, nachdem Schumacher zu Ende gesprochen hatte.
»Hat in letzter Zeit jemand bei Ihnen in einem Trailer gewohnt?«
Ihr Vater schaute Clyde stirnrunzelnd an.
»Dieser alte Knabe, der vor einer Weile hier war, um sich um die Kojoten zu kümmern, der hat doch einen Trailer gehabt, stimmt’s, Clyde?«
Agent Schumacher nickte und kaute gedankenverloren an seinem Schnauzbart.
»Haben Sie was dagegen, wenn wir uns ein wenig umsehen?«
Jetzt platzte Clyde der Kragen. »Und ob ich was dagegen hab!«
Kathys Vater hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Ich glaub nicht, Mr. Schumacher, dass wir Ihnen noch weiter behilflich sein können. Und ich darf hinzufügen, dass ich allerhand gegen die Andeutung einzuwenden habe, ich könnte einen Verbrecher beherbergen. Schließlich war ich hier in der Region politisch tätig.«
»Das hat niemand angedeutet, Sir. Wir müssen auf die Informationen, die wir erhalten, reagieren und tun auch nur unsere Arbeit.«
»Tja, und die ist jetzt getan. Ich danke Ihnen. Leben Sie wohl.«
Der Agent holte ein Blatt Papier aus seiner Tasche. »Sir, dieses Schreiben hier erlaubt es mir, das Grundstück zu durchsuchen.«
Buck Calder reckte das Kinn. Craig Rawlinson trat einen Schritt vor.
»Ihr Typen übertreibt aber ein bisschen«, sagte er. »Wissen Sie denn nicht, mit wem Sie es zu tun haben? Mr. Calder ist ein überaus angesehenes Mitglied unserer Gemeinde. Außerdem hat er Kälber im Wert von mehreren tausend Dollar durch diese verdammten Wölfe verloren, die Sie unbedingt schützen wollen. Letzte Nacht sind wieder zwei Tiere gerissen worden.
Und wenn tatsächlich irgend jemand diese Bestien umbringen sollte, tja, dann um so besser für ihn und uns.«
»Ich habe kein Wort von Wölfen gesagt«, erwiderte Schumacher. »Ich sprach nur von Tieren auf der Roten Liste sowie von Tieren, deren Bestand gefährdet ist.«
»Wir wissen alle, wovon Sie reden«, sagte Clyde.
»Nun würden wir uns gern auf Ihrem Grundstück umsehen, Sir.«
Kathy sah die Augen ihres Vaters aufblitzen, der gleiche Blick, bei dem sie als Kinder alle in Deckung gegangen waren.
»Nur über meine Leiche«, sagte er mit leiser Stimme.
Fast hätte Kathy gesagt, dass sie sich doch umsehen sollten, wenn sie wollten. Der Trailer war doch gar nicht mehr da. Aber sie hielt lieber den Mund.
Nach seinen Worten herrschte eisiges Schweigen. Schumacher drehte sich zu den übrigen Agenten um. Niemand schien zu wissen, was sie als nächstes tun sollten. Kathy sah, wie Craig Rawlinson schluckte. Dann stellte er sich neben Clyde und ihren Vater.
»Das hier fällt in meinen Zuständigkeitsbereich, und als Sheriff des Bezirks ist es meine Pflicht, den Frieden zu wahren. Sie sollten also lieber verschwinden. Und zwar sofort.«
Schumacher schaute ihn an, und sein Blick fiel kurz auf die Waffe an Craigs Hüfte. Dann drehte er sich um und sah zu Lipsky hinüber, der während der ganzen Zeit kein Wort gesagt hatte, obwohl er irgendwie den Ton anzugeben schien. Nach ein oder zwei Sekunden nickte er.
Schumacher deutete auf Craig Rawlinson.
»Sie übertreiben hier, Mister«, sagte er. »Ich werde mich mit Ihrem Vorgesetzten in Verbindung setzen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
Die Agenten stiegen wieder in ihre Wagen, und niemand sprach ein Wort, bis sie verschwunden waren. Clyde boxte triumphierend in die Luft.
Craig seufzte vor Erleichterung auf, und Kathys Vater klopfte ihm grinsend auf den Rücken.
»Ich bin stolz auf Sie, mein Sohn. Leute wie Sie haben den Westen erobert.«
Dann wandte er sich zu Kathy um. Sie hätte am liebsten geheult, doch nicht vor Erleichterung, sondern vor Wut.
»Alles in Ordnung, Schatz?«
»Nein, nichts ist in Ordnung! In Zukunft könnt ihr eure Lügen allein erzählen.«
Dann drehte sie sich um und verschwand im Haus.