WINTER

24

Niemand bemerkte die Rückkehr des Wolfsjägers nach Hope.

In der Nacht vor Thanksgiving, als der geräumte Schnee aufgetürmt an den Straßenrändern lag und das Salz auf dem Asphalt glitzerte, glitt sein silberner Trailer wie ein Geisterschiff in die Stadt.

J. J. Lovelace saß allein in dem alten, grauen Chevy, mit dem er stets fuhr, wenn er mit dem Trailer unterwegs war. Als er zur Kreuzung an der alten Schule kam, stellte er die Scheinwerfer aus und ließ den Wagen langsam ausrollen.

Hinter den Bäumen auf der anderen Straßenseite befand sich der Friedhof, auf dem seine Mutter lag, die er nie kennengelernt hatte. Doch Lovelace sah nicht hinüber, dachte nicht einmal daran. Stattdessen schaute er mit zusammengekniffenen Augen die dunkle Hauptstraße entlang und registrierte zufrieden, dass kein Mensch zu sehen war. Er fuhr an, ließ die Kreuzung hinter sich und rollte mit Standlicht durch die Stadt.

Sie sah ganz so aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Die modernen Autos ausgenommen, deren Windschutzscheiben zum Schutz vor dem Frost abgedeckt waren. Manche Namen über den Schaufenstern der Geschäfte hatten sich geändert, an der Tankstelle standen neue Säulen, und an einem Drahtseil über der Straße schwankte eine neue Ampel im Wind, deren rotes Licht verloren in der Dunkelheit leuchtete.

Lovelace hegte keine besonderen Gefühle für Hope. Und keine Erinnerungen, weder gute noch schlechte, wurden von dieser geisterhaften Fahrt durch einen Ort geweckt, den er einst sein Zuhause genannt hatte. Für ihn war es bloß eine von vielen gesichtslosen Städten.

Buck Calder hatte ihm eine Karte geschickt und eingezeichnet, wie er zu den Hicks fand, bei denen er seinen Trailer abstellen sollte. Aber Lovelace brauchte keine Karte. Er konnte sich gut an den Weg erinnern, führte er doch am alten Haus seines Vaters vorbei. Lovelace fragte sich, ob er etwas empfinden würde, wenn er es wiedersah.

Er hatte Calder gesagt, dass er spät eintreffen werde und es nicht nötig sei, seinetwegen aufzubleiben. Bei einem Job wie diesem kam man am besten ungesehen und blieb ungesehen. Deshalb hatte er gewartet, bis die Jagdsaison vorüber und die neugierigen Amateurjäger wieder aus der Bergwelt verschwunden waren.

Sobald er die Stadt verlassen hatte, schaltete er das Abblendlicht ein. Fünf Meilen weit folgte er den Schneefurchen auf dem Schotterweg, doch das einzige Lebenszeichen, das er entdeckte, war eine Eule, die auf einem Zaunpfosten hockte und ihn mit ihren riesigen Augen beobachtete.

Das Tor zum alten Haus seines Vaters war von Unkraut überwuchert und verschwand fast unter Schneewehen. Lovelace hielt so an, dass die Scheinwerfer das Haus anstrahlten. Wenn er den Motor ausmachte und das Fenster herunterkurbelte, hörte er vielleicht den Hope River rauschen. Aber er tat es nicht. Es war eine frostkalte Nacht, und die Kälte steckte ihm in den alten Knochen.

Er konnte das Haus deutlich durch die kahlen Äste der Pappeln erkennen. Es stand seit langem leer, das sah man auf den ersten Blick. Ein zerbrochenes Fliegengitter hing an jenem Fenster, hinter dem einmal die Küche gewesen war, und das Wrack eines Wohnwagens stand mit klaffendem Dach auf dem Hof. Schnee hatte sich vor den Fenstern aufgetürmt, als wären sie mit Leichentüchern verhangen.

Lovelace wusste, dass solche Augenblicke gewöhnlich nostalgische Gefühle heraufbeschworen, aber er empfand überhaupt nichts, so sehr er sich auch bemühte. Am ehesten überraschte ihn noch, dass kein Stadtmensch das Haus abgerissen und sich ein modernes Wochenendhäuschen hingestellt hatte. Er schlug das Lenkrad ein und fuhr ins Tal.

Endlich sah er den mächtigen Torbogen der Calder-Ranch mit dem Ochsenschädel darüber, der eine Mütze aus Schnee trug und all jene im Auge behielt, die sich der Ranch näherten. Eine Meile dahinter befand sich das Ranchhaus. Auf dem Hof brannte Licht, und Lovelace konnte parkende Autos und zwei Hunde sehen, die aus einer der Scheunen gerannt kamen, dann aber stehenblieben, als er nach links auf den Weg zur Hicks-Ranch einbog.

Als er sie erreichte, stellte er den Trailer unter einigen hohen Bäumen hinter den Scheunen ab, wo er, so Calder, nicht einmal aus der Luft gesehen werden konnte. Außer ihm wussten nur Hicks und seine Frau, dass und warum er komme, hatte Calder versichert.

Der eisige Wind schlug ihm ins Gesicht, als er aus dem Wagen stieg. Es mussten an die vierzehn, fünfzehn Grad minus sein. Er klappte die Ohrschützer seiner Fellmütze herunter und ging zurück zum Trailer, vorbei an dem Schneemobil, das auf der Ladefläche seines Chevys stand. Die Stiefel versanken mit lautem Knirschen im überfrorenen Schnee. Im Haus bellte ein alter Hund.

Vor der Tür zum Trailer blieb er stehen und schaute zum Himmel. Er war sternenklar, doch Lovelace hätte sich Wolken gewünscht, die die Kälte ein wenig linderten.

Im Trailer zündete er eine Lampe an und stellte einen Topf Milch auf den Spiritusofen. Dann setzte er sich zitternd vor Kälte auf die Pritsche, um zu warten, und versuchte sich die Hände unter den Achseln zu wärmen. Als die Milch warm war, goss er sie in einen Becher, wölbte die Hände darum und trank. Sie wärmte ihn nicht.

Im Trailer gab es einen Holzofen, aber ihm fehlte die nötige Kraft, ihn in Gang zu setzen. Der Wagen war ein Arbeits-, kein Luxusgefährt. Er sah wie eine kleinere Ausgabe seiner Fallenkammer aus und war etwa sechs Meter lang; ein schmaler, mit Linoleum ausgelegter Gang führte von Pritsche und Kochnische im vorderen Teil, zu Tisch und Werkbank am anderen Ende. Die Ausrüstung hatte Lovelace in Holzschränken im ganzen Trailer versteckt. Er hatte sie selbst gebaut und eingepasst, und nur er kannte die verborgenen Türen, hinter denen er jene Dinge aufbewahrte, die seinen wahren Beruf verrieten: die Fallen, Schlingen und Töpfe mit Köderfleisch, sowie das zerlegbare deutsche »Heckenschützengewehr« mit dem aufschraubbaren Schalldämpfer und dem Lasernachtsichtgerät, den Empfänger, mit dem er halsbandtragende Wölfe aufspürte, und die M44-Zyanidgas»killer«, das einzige Gift, das er allerdings nur selten einsetzte, da er wusste, wie sehr sein Vater dies missbilligt hätte. Er hatte fast einen Monat gebraucht, um alles wieder auf Vordermann zu bringen.

Er trank den letzten Schluck Milch. Ihm war ebenso kalt wie zuvor, also schwang er die Beine auf die Pritsche, legte sich hin, immer noch mit Mantel, Mütze, Stiefeln und Handschuhen, und deckte sich mit Wolfsfelldecken und dem alten Quilt zu, den Winnie einmal für ihr gemeinsames Bett genäht hatte. Anschließend löschte er die Lampe.

Er lag reglos da und versuchte, sich von der Kälte abzulenken, indem er an den Job dachte, mit dem er morgen beginnen wollte. Sein letzter Auftrag war eine Weile her, doch er zweifelte nicht daran, der Aufgabe gewachsen zu sein. Trotz seines Alters konnte er sich noch mit den Jungen messen.

 

»Reichen wir uns die Hände«, sagte Buck Calder.

Sie saßen alle am langen Tisch, der im Wohnzimmer aufgestellt worden war. Dampfschwaden stiegen von dem riesigen, goldbraunen Truthahn auf, der inmitten einer Vielzahl von Schüsseln auf einer Platte thronte. Helen wandte sich Luke zu, der neben ihr saß, und reichte ihm die Hand. Er griff lächelnd danach und senkte den Blick, damit sein Vater das Gebet sprechen konnte. Einen Augenblick lang war nur das Knistern der großen Scheite im Kamin zu hören.

»Lieber Gott, wir danken Dir dafür, dass Du unsere Vorväter wohlbehalten durch dies große Land geführt und ihnen geholfen hast, unzählige Gefahren und Hindernisse zu überwinden, so dass sie dies, unser Heim, zu einem sicheren Ort machen konnten. Möge ihr Mut und ihre Gesinnung uns leiten, und mögen wir uns der Früchte Deiner Liebe würdig erweisen, die heute vor uns ausgebreitet liegen. Amen.«

»Amen.«

Alle begannen zugleich zu reden, und das Thanksgivingmahl begann.

Sie waren fünfzehn, Kathy Hicks’ Baby mitgezählt, das stolz zwischen seinen Eltern auf einem mit dem Tisch verschraubten Kinderstuhl saß. Lukes Schwester Lane und ihr Mann Bob waren aus Bozeman herübergekommen. Lane war Lehrerin an der Highschool und sah nicht nur wie ihre Mutter aus, sondern war ihr auch charakterlich ähnlich. Bob schien einzig über Grundstückspreise reden zu können, und genau das tat er gerade mit Doug Millward, der mit Hettie und seinen drei Kindern gekommen war. Außer Helen war Ruth Michaels die einzige, die nicht zur Familie oder zum Freundeskreis gehörte; sie wirkte noch viel verkrampfter als Helen.

Helen hatte die Einladung nur auf Lukes Drängen hin angenommen und sich gefragt, wie sein Vater sich verhalten würde, denn sie wusste nicht, ob sie schon genügend Selbstvertrauen besaß, um sich noch einmal mit ihm anzulegen. Doch sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Genau wie alle anderen gab sich Buck Calder ihr gegenüber äußerst charmant.

Helen hatte Kathy vor dem Essen beim Tischdecken geholfen und sich zum ersten Mal richtig mit ihr unterhalten. Es beeindruckte Helen, wie intelligent und lustig sie war, doch was sie an Clyde fand, blieb ihr ein Rätsel. Allerdings wusste Helen aus eigener Erfahrung, dass die Partnerwahl für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar war. Als sie sich zum Essen an den Tisch setzten, war Helen, gestärkt durch Lukes Anwesenheit an ihrer Seite, froh, gekommen zu sein.

Sie genoss das ausgezeichnete Essen im Familienkreis und in einem richtigen Heim, auch wenn es nicht ihr eigenes war. Dreimal ließ sie sich vom Truthahn nachgeben, und Doug Millward, der ihr gegenüber saß, machte sich einen Spaß daraus, ihr immer neue Schüsseln zu reichen.

Und erst als ihr Teller leer war, kam das Gespräch auf Wölfe.

»Was ist, Buck?«, fragte Hettie Millward. »Haben Sie in dieser Saison einen Elch geschossen?«

»Nein, Ma’am, hab ich nicht.«

»Er ist noch nie ein besonders guter Schütze gewesen«, flüsterte Doug Millward Helen zu, doch so laut, dass es jeder verstehen konnte, und alle lachten. Dann sagte Clyde: »Ich hab mit Pete Neuberg vom Jagdgeschäft geredet, wisst ihr? Und er meint, es ist die schlechteste Jagdsaison seit Jahren gewesen. Zuwenig Hirsche und Elche. Er sagt, es liegt an den Wölfen.«

Kathy verdrehte die Augen. »Angeblich sind sie auch fürs schlechte Wetter verantwortlich.«

»Können Wölfe denn das Wetter machen?«, fragte der kleine Charlie Millward.

Seine Schwester Lucy versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. »Das war doch bloß ein Witz, du Esel.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Helen sah, dass Buck Calder sie beobachtete.

»Glauben Sie das auch, Helen?«, fragte er.

»Dass sie fürs Wetter verantwortlich sind?«

Sie bedauerte die freche Bemerkung, sobald ihr die Worte entschlüpft waren. Das Gelächter, das sie hervorriefen, veränderte unmerklich Calders Lächeln, und Helen spürte, wie sich Luke auf seinem Stuhl wand. Hastig fuhr sie fort: »Sicher, sie reißen Elche und Hirsche, denn davon ernähren sie sich hauptsächlich, also dürfte ihre Anwesenheit nicht ganz ohne Auswirkung bleiben.«

Clyde schnaubte verächtlich und zog sich damit einen strafenden Blick seiner Frau zu. Luke beugte sich vor und räusperte sich.

»Wir h-h-haben in den letzten W-W-Wochen ziemlich viele Elche und Hirsche gesehen.«

»Haben wir«, sagte Helen. »Das stimmt.«

Einen Moment lang sprach niemand ein Wort. Eleanor stand auf, um das Geschirr abzuräumen.

»Tja, ich weiß nicht«, sagte sie, »wenigstens reißen sie kein Vieh mehr.«

»An meines haben sie sich sowieso nie rangewagt«, sagte Doug Millward.

Luke zuckte die Achseln. »Schmeckt w-w-wahrscheinlich nicht so gut.«

Alle, selbst Lukes Vater, brüllten vor Lachen, und die Unterhaltung wandte sich wieder anderen Themen zu. Als niemand hinschaute, wandte sich Helen Luke zu.

»Danke, Partner«, sagte sie leise.

 

An diesen Blick und die Berührung ihrer Hände, als sein Vater das Gebet sprach, musste Luke noch lange denken.

Es machte ihn stolz, dass sie ihn Partner genannt hatte. Und wie er an diesem Abend so neben ihr gesessen hatte, war er sich fast wie ihr Freund vorgekommen. Wenn so viele Leute um einen Tisch saßen, hielt er normalerweise den Mund, damit er nicht stotterte. Doch Helen an seiner Seite zu wissen gab ihm so großes Selbstvertrauen, dass er sie, ohne nachzudenken, verteidigt hatte. Ja, er hatte sogar einen Witz gemacht.

Luke kam es so vor, als wären sie sich in den folgenden zwei Wochen noch nähergekommen. Doch wenn er von ihr träumte, und das tat er oft, dann war sie immer mit jemand anderem zusammen, erkannte ihn nicht oder lachte ihn aus, jenen Traum ausgenommen, den er in der letzten Nacht gehabt hatte.

Er spazierte mit ihr am äußersten Rand des Meeres auf einem langgezogenen, weißen, von Palmen gesäumten, wunderschönen Sandstrand, so wie man ihn aus Reisebroschüren kennt. Sie trug ein gelbes, schulterfreies Kleid. Die sanften Wellen spülten über den Sand und schäumten um ihre nackten Füße. Das Wasser war warm und klar, und in den Wellen konnte er, kurz bevor sie sich brachen, große Schwärme von Fischen erkennen.

Er zeigte sie ihr, und Helen blieb stehen. Ihre Schultern berührten sich, und beide sahen zu, wie diese Fische in allen nur erdenklichen Farben und Formen in vollendeter Harmonie hierhin und dorthin flitzten.

Es war einer jener Träume, von denen man weiß, dass sie Träume sind, noch während sie andauern, jene Art Traum, die sich verflüchtigt, wenn die Wirklichkeit einbricht, wie sehr man sich auch daran klammert. Doch Luke hatte herausgefunden, dass es manchmal im Schwebezustand zwischen Schlaf und Wachen einen Augenblick gab, in dem man die Ereignisse bestimmen konnte. Und so war es an diesem Morgen gewesen. Er hatte sich gewünscht, dass Helen sich zu ihm umdrehte, und das hatte sie auch getan. Und in der Sekunde, ehe er wach wurde, hatte sie sich mit ihrem Mund dem seinen genähert, und beinahe hätten sie sich geküsst.

Er dachte an diesen Traum, während er sich duschte und rasierte. Er wusste, dass er ihn den ganzen Tag über immer wieder durchleben würde. Der Anlass für diesen Traum war ganz offensichtlich der Brief ihres Vaters, den Helen gestern erhalten hatte, ein Brief mit der Einladung zur Hochzeit und einem Flugticket nach Barbados. In drei Wochen schon würde sie fliegen und länger als eine Woche über Weihnachten wegbleiben.

Luke zog sich an und ging nach unten, um zu frühstücken.

Es war Viertel vor acht. An jedem anderen Tag wäre er bereits seit zwei Stunden auf und mit Helen im Wald unterwegs gewesen. Doch heute war Mittwoch: Sprachtherapie. Seine Mutter hatte er bereits fortfahren hören. Da es nicht mehr lang bis Weihnachten war, half sie Ruth nun fast jeden Tag im Laden.

Das Büro seines Vaters ging vom Wohnzimmer ab. Er ließ die Tür stets offen, damit er verfolgen konnte, was sich im Haus tat. Als Luke die Treppe herunterkam, sah er ihn am Computer sitzen, eine Zigarre zwischen den Zähnen.

»Luke?«

»Ja, Sir.«

»Morgen.«

»M-Morgen.«

Sein Vater machte die Zigarre aus, nahm die Brille mit den Halbgläsern ab, die er zum Lesen benutzte, und lehnte sich dann in seinem schweren Ledersessel zurück.

»Heute nicht draußen bei Helen?«

»Nein, Sir. Heute ist T-T-Therapietag.«

»Ach ja, richtig.«

Sein Vater stand auf und kam ins Wohnzimmer. Er hatte diese freundliche, liebenswürdige Miene aufgesetzt, die Luke stets so misstrauisch machte.

»Frühstückst du jetzt?«

»Ja, Sir.«

»Ich trinke einen Kaffee mit.«

Sein Vater ging vor ihm her in die Küche, nahm die Kanne aus der Kaffeemaschine, schenkte zwei Tassen ein und setzte sich damit an den Tisch. Luke trank nie Kaffee, aber sein Vater vergaß das immer wieder. Luke holte sich seine Cornflakes und nahm ihm gegenüber Platz.

Er wusste, was jetzt kam. In letzter Zeit hatte es eine ganze Reihe dieser kumpelhaften Gespräche unter vier Augen über seine Arbeit mit Helen gegeben. Erst gestern wollte sein Vater etwas über die Frequenzen der Peilsender wissen. Es war schon merkwürdig. Hätte der Typ vorher auch nur das geringste Interesse an Lukes Leben gezeigt, wären manche Dinge sicher ganz anders gelaufen.

»Und? Wie steht’s mit der Therapie?«

»G-G-Ganz gut.«

»Muss die arme Helen heute ganz allein zurechtkommen, wie?«

Luke lächelte. »Ja.«

Sein Vater nickte nachdenklich und trank einen Schluck Kaffee.

»Und wie ist gestern die Wolfssuche verlaufen?«

»G-G-Gut.«

»Wo treiben sie sich denn jetzt so rum?«

»Ach, d-d-die sind mal hier, m-m-mal da.«

»Ja, aber gestern zum Beispiel, wo waren sie da genau?«

Luke schluckte. Ausweichend zu antworten fiel ihm leicht, aber er war überfordert, wenn es um eine klare Lüge ging. Sein Stottern verriet ihn fast immer, und sein Vater beobachtete ihn genau.

»G-G-Gestern waren sie w-w-weit oben. Direkt am K-K-Kamm.«

»Ach ja?«

»Ja, u-u-ungefähr zehn M-M-Meilen südlich der g-g-großen Felswand.«

»Was du nicht sagst!«

Luke merkte, wie sich die Miene seines Vaters verfinsterte, und ärgerte sich, weil er sich so dumm angestellt hatte. Selbst ein Kind wäre nicht auf diese Lüge hereingefallen. Verlegen schaute er auf die Uhr.

»Ich m-m-muss jetzt los.«

»Die Wege sind frei. Clyde hat heute früh schon geräumt.«

Luke stand auf und stellte die leere Schale in die Spülmaschine. Dann griff er nach dem Autoschlüssel, nahm Hut und Jacke vom Haken an der Tür. Dabei spürte er, dass ihn sein Vater nicht aus den Augen ließ.

»Fahr vorsichtig, Luke.«

Die Stimme klang kalt und ausdruckslos. Luke zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.

»Mach ich, Sir.«

Er öffnete die Tür und floh.

 

Die Sitzung mit Joan lief gut.

Sie erzählte ihm von einer neuen Therapiemethode, bei der man den Stotterer auf Video aufnahm. Anschließend schnitt man das Stottern heraus und zeigte ihm, wie es aussah und klang, wenn er fließend redete. Offenbar habe man damit großartige Ergebnisse erzielt, sagte Joan, doch wollte sie seinetwegen kein Geld zum Fenster hinauswerfen, da er in der ganzen Stunde sowieso kaum gestottert habe.

Als sie sich verabschiedeten, legte sie eine Hand auf seinen Arm und sagte, dass er sehr glücklich aussehe. Er hatte sich tatsächlich noch nie in seinem Leben so gut gefühlt, und auf dem Weg zu seinem Wagen fragte er sich, woran sie das sah.

Von der Klinik fuhr er quer durch die Stadt zum Supermarkt, um ein paar Sachen einzukaufen, die er für Helen besorgen sollte. Er parkte seinen Jeep zwischen den Schneehaufen auf dem frisch geräumten Platz. Kaum war er ausgestiegen, sah er Cheryl Snyder und Jerry Kruger auf sich zukommen. Sie hatten ihn schon entdeckt, also gab es kein Entrinnen. Kruger hatte einen Arm um sie gelegt und gab mächtig damit an, als wollte er der Welt zeigen, dass sie beide jetzt zusammengehörten.

»Hey, Cooks! Wie läuft’s denn so?«

»Hi, Luke.«

Sie blieben stehen und plauderten ein paar Minuten miteinander; eigentlich hörte Luke mehr zu, während Kruger endlos redete und Witze riss, die Cheryl nicht mal ein Lächeln entlockten. Was sie gerade an diesem Typ fand, konnte Luke sich nicht vorstellen. Schließlich sagte er, dass er jetzt seine Einkäufe erledigen müsse, und sie verabschiedeten sich. Nach einigen Schritten rief Kruger ihm nach: »Hey, Cooks! Herzlichen Glückwunsch!«

Luke drehte sich um und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Hab gehört, dich hat endlich eine rangelassen!«

»Was?«

Cheryl gab ihm einen Stoß in die Rippen und sagte, er solle den Mund halten, doch Kruger schenkte ihr keine Beachtung.

»Ach, komm schon. Die Wolfsfrau! Weiß doch jeder.«

Er stieß ein Heulen aus, genau wie damals auf dem Jahrmarkt, dann begann er zu lachen. Cheryl riss sich von ihm los.

»Lass ihn doch reden, Luke«, sagte sie.

»Ich h-h-helf ihr bloß, sonst nichts.«

»Glaub ich dir aufs Wort«, sagte Kruger, »kommt bloß drauf an, bei was!«

Cheryl versetzte ihm einen ärgerlichen Stoß in die Rippen. »Du bist einfach widerlich, Jerry. Halt den Mund, ja?«

Wie benommen lief Luke durch die Gänge im Supermarkt. Er wusste, dass in Hope wie in jeder Kleinstadt geklatscht wurde, erlebte es aber zum ersten Mal, dass es dabei um ihn ging.

Er hoffte nur, dass Helen nichts davon erfuhr.

 

Eleanor steckte den Stern oben auf den Weihnachtsbaum im Schaufenster und trat einen Schritt zurück.

»Kommen Sie, den schauen wir uns von draußen an«, sagte Ruth.

Eleanor folgte ihr auf den Bürgersteig hinaus. Ein eisiger Wind fegte durch die Hauptstraße und wirbelte die bunten Lichterketten durcheinander, die im Zickzack zwischen den einzelnen Läden gespannt waren. Die beiden Frauen standen vor dem Paragon, strichen sich das Haar aus dem Gesicht und bewunderten Eleanors Werk.

»Sieht wunderschön aus«, sagte Ruth. »Wenn ich Weihnachtsbäume schmücke, sehen die immer irgendwie jüdisch aus.«

Eleanor lachte. »Wie kann denn ein Baum jüdisch aussehen?«

Ruth zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Ist einfach so. Sie sind Katholikin, oder?«

»So geboren, so aufgewachsen und so vom Glauben abgefallen.«

»Das merkt man. Ich meine, das mit dem ›geboren und aufgewachsen‹. Katholiken sind einfach einsame Spitze beim Weihnachtsbaumschmücken.«

Wieder musste Eleanor lachen. »Ruth, ich hol mir hier draußen in der Kälte noch den Tod.«

Sie gingen wieder hinein, und während Ruth einige Kunden bediente, die sich schon eine Weile im Laden umgesehen hatten, kümmerte sich Eleanor weiterhin um die Dekoration.

Sie hatte am Morgen ein paar grüne Zweige und eine Stehleiter von der Ranch mitgebracht. Es war Jahre her, dass sie zuletzt Weihnachtsschmuck aufgehängt hatte. Zu Hause machte sich niemand mehr die Mühe, doch hier bereitete ihr die Arbeit eine fast kindliche Freude. Draußen wurde es dunkel, und im Fenster verbreiteten die Weihnachtskerzen am Baum ein warmes Licht.

Als die Kunden gegangen waren, kam Ruth und half ihr, eine große, goldene Girlande über der Eingangstür anzubringen. Ruth hielt das eine Ende, während Eleanor auf die Stehleiter stieg, um das andere Ende an der Bildleiste zu befestigen.

»Hilft Luke eigentlich immer noch dieser Helen Ross?«

»Ja, wir kriegen ihn kaum noch zu sehen.«

»Sie gefällt mir.«

»Mir auch. Ich glaube, Luke mag sie.«

»Wie alt ist er jetzt?«

»Achtzehn.« Sie drückte die Heftzwecke in die Wand.

»Ein gutaussehender Junge! Da möchte man glatt ein paar Jahre jünger sein!«

Eleanor schaute sie an, und Ruth wirkte plötzlich irgendwie verlegen.

Eleanor lächelte. »Sollen wir jetzt das andere Ende festmachen?«

»Klar.«

Sie trugen die Leiter auf die andere Seite der Tür, und Eleanor stieg wieder hinauf. Eine Weile schwiegen sie.

»Und wie kommt’s, dass Sie vom Glauben abgefallen sind? Wenn Ihnen die Frage nicht zu persönlich ist.«

Eleanor antwortete nicht sofort, nicht, weil ihr die Frage etwas ausmachte, sondern weil sie ihr zuvor noch nie gestellt worden war. Gerade wegen ihrer direkten Art konnte sie Ruth so gut leiden. Eleanor zog die Schachtel mit den Heftzwecken aus ihrer Tasche und nahm eine heraus.

»Nun, vielleicht wissen Sie noch nicht, dass unser ältestes Kind bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.«

»Doch, das weiß ich.«

»Ich bin mein Leben lang regelmäßig in die Kirche gegangen, zur Messe und zur Beichte – und ich kann Ihnen sagen, um diese Jahreszeit war das da draußen, wo wir wohnen, nicht immer einfach. Buck hat mich deswegen aufgezogen. Er wollte wissen, was ich denn um alles in der Welt zu beichten habe. Und wann ich denn die ganzen Sünden beginge. Ich soll das nächste Mal rechtzeitig Bescheid sagen, damit er mitmachen könne. Aber Buck ist kein Katholik, er hat das nie so richtig verstanden.«

Sie warf Ruth lächelnd einen Blick zu, dann heftete sie die Girlande an die Leiste.

»Das wär’s.«

Sie stieg von der Leiter, stellte sich neben Ruth und begutachtete ihr Werk.

»Gefällt mir«, sagte Ruth.

»Mmm. Wo sollen wir die andere hinhängen?«

»Hinten in den Laden?«

Sie trugen die Leiter nach hinten und wiederholten die gleiche Prozedur, während Eleanor ihre Geschichte weitererzählte.

»Nachdem Henry gestorben war, bin ich jedenfalls noch häufiger hingegangen. Habe kaum eine Messe ausgelassen. Wie die meisten Leute, wenn etwas Schreckliches in ihrem Leben passiert. Wissen Sie, man sucht nach einer Erklärung, nach einem Zeichen, nach einem Hinweis darauf, dass der, den man verloren hat, irgendwo anders lebt und glücklich ist. Und eines Tages habe ich dann begriffen, nun … dass er nicht mehr da ist.«

Ruth runzelte die Stirn und versuchte, sie zu verstehen.

»Ihr Sohn, meinen Sie?«

»O nein. Der ist da, keine Frage. Dem geht es gut, das weiß ich. IHN meine ich.«

»Sie wollen also sagen, dass Sie zwar an den Himmel, aber nicht an Gott glauben?«

»Ganz genau.«

Inzwischen hing auch die zweite Girlande. Eleanor stieg von der Leiter, um sie zu betrachten.

»Was meinen Sie?«

Sie schaute Ruth an und stellte überrascht fest, dass Ruth sie und nicht die Girlande ansah.

»Sie sind eine wunderbare Frau, Eleanor. Wissen Sie das?«

»Seien Sie doch nicht albern.«

»Ich meine es ernst.«

»Nun, ich finde, Sie sind auch ganz in Ordnung.«

Ruth machte eine kleine, spöttische Verbeugung. »Herzlichen Dank, Madame.«

»Darf ich Ihnen auch eine persönliche Frage stellen?«, fragte Eleanor, während sie die Leiter zusammenklappte. Es war nicht fair, das wusste sie, und sie kam sich ein wenig hinterhältig vor; doch es gab Momente im Leben, die durfte man nicht ungenutzt verstreichen lassen.

»Natürlich.«

»Wie lange schlafen Sie schon mit meinem Mann?«