Sie erreichten den Bergrücken und blieben zwischen den mächtigen, mit Flechten bewachsenen Felsen stehen, schirmten ihre Augen vor der Sonne ab und blinzelten in den gewundenen Cañon, der unter ihnen lag. Helen hörte das Rauschen des Bachs und sah ihn an einigen Stellen zwischen Weiden und Erlen, die den Cañon säumten, durchblitzen. Sie schwang den Rucksack von den Schultern und griff nach der Wasserflasche.
Das letzte Stück des Anstiegs war ziemlich steil gewesen, und sie schwitzte in der warmen Mittagssonne, doch hier oben wehte immerhin eine leichte Brise, die den vom Rucksack hinterlassenen Schweißfleck auf ihrem T-Shirt trocknete. Helen trank einen Schluck und reichte die Flasche dann Bill Rimmer, der mit einem Kopfnicken zur anderen Seite des Cañons wies. Helen folgte seinem Blick und sah eine Herde Dickhornschafe, die, wie zu Statuen erstarrt, zu ihnen herüberspähte.
Es war drei Wochen her, seit die Fallen ausgelegt worden waren. Dan hatte sie in seiner Cessna mitgenommen, um ihr einen Eindruck von der Landschaft zu vermitteln. Sie hatten keinerlei Funksignal empfangen. Am folgenden Tag waren Helen und Rimmer dann losgezogen, um die besten Stellen für ihre Fallen zu erkunden.
Er war in Helens Hütte mit Wolfslosung, Wolfsurin und jenem berüchtigten Köder aufgetaucht, vor dem Dan sie schon gewarnt hatte. Rimmer nannte ihn nur »kitty candy«. Er machte das Glas auf, damit Helen daran riechen konnte. Sie wäre fast in Ohnmacht gefallen.
»Um Gottes willen! Was ist denn das?«
Rimmer grinste. »Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Ich weiß nicht so recht.«
»Verweste und fermentierte Analdrüsen von Luchs und Kojote.«
»Vielen Dank für diese Information, Bill.«
Buzz, der ebenfalls kurz daran geschnuppert hatte, war außer sich und betrachtete das glücklicherweise luftdicht verschlossene Glas seither unablässig mit vor Aufregung bebenden Lefzen.
In dem abgelegenen Cañon, vor dem sie jetzt standen, hatten sie Wolfsspuren und die dazugehörige Losung gefunden, beides allerdings nicht mehr ganz frisch. Dieser felsige Trichter, wo sich ein Wolf, der über die Kontinentalsperre gekommen war, durchaus ansiedeln konnte, schien ihnen der bisher vielversprechendste Ort zu sein, und so beschlossen sie, zehn der insgesamt zwanzig Fallen hier aufzustellen. Die übrigen Fallen brachten sie mit Rücksicht auf Buck Calder entlang der beiden wahrscheinlichsten Wege durch den Wald hinunter zu jenen Weiden an, die Calder und seine Nachbarn für den Sommer gepachtet hatten.
Da sie Rimmers ausgezeichneten Ruf als Fallensteller kannte, hatte die Vorstellung, er könnte ihr bei der Arbeit über die Schulter schauen, Helen anfangs nervös gemacht. Doch Rimmer zeigte sich gut gelaunt und wohlwollend, machte ihr sogar Komplimente wegen ihrer Geschicklichkeit beim Bau der Fallen und ihrer Entscheidung für die Orte, wo sie sie aufstellte. Und nachdem er ihre erste Erdfalle gesehen hatte, meinte er im Scherz, dass er jetzt wohl überflüssig sei.
Sie hatte ihn gern um sich. Er kannte das Land und zeigte ihr, ohne jemals herablassend zu wirken, wie sich die Wölfe in diesem Berggebiet verhielten, was sie jagten und wo sie bevorzugt ihre Höhlen suchten. Er hatte eine sanfte Art und sprach viel von seiner Frau und seinen Kindern, den beiden Jungen, fünf und sechs Jahre alt, und seiner achtjährigen Tochter, die, wie er sagte, den Haushalt fest im Griff hatte und ihm ernsthafte Vorhaltungen darüber machte, wie böse es sei, Tiere zu töten, was nämlich, wie Helen wusste, auch zu seinem Job gehörte.
Die Fallen waren eine abgewandelte Version des Modells Nr. 14, den alten Newhouse-Fallen ähnlich, die Helen in Minnesota benutzt hatte und die nur selten Verletzungen an den Läufen verursachten. Rimmer betrachtete sie naserümpfend und meinte, sie seien zu schwach und böten dem Wolf eine zu große Chance zur Flucht. Er selbst zog Fallen mit stärkeren Laufklammern vor, die unten in Texas von einem legendären Trapper namens Roy McBride hergestellt wurden.
Jede Falle war mittels einer Schnur mit einem vorzugsweise in einem Baum versteckten Halsband mit Peilsender verbunden. Sobald die Falle vom Boden gezerrt wurde, riss die Schnur einen kleinen Magneten vom Halsband ab, der daraufhin ein Signal aussandte. Helen stellte die eine Hälfte der Fallen auf, Rimmer die andere, und sie wetteten um ein Bier, wer den ersten Wolf finge.
Nach drei Wochen war das Ergebnis immer noch gleich Null.
Jeden Tag überprüfte Helen sämtliche Frequenzen, empfing aber kein einziges Signal. Morgens und abends ging sie die drei Fallenrouten ab. Die beiden unten im Wald waren leicht zugänglich, da sie die Wege benutzen und mit dem Pick-up ziemlich nahe herankommen konnte. Die Route im Cañon zu überprüfen dauerte länger. Der alte Toyota brach an dem letzten holprigen Stück des Weges fast auseinander, und wenn es mit dem Wagen nicht mehr weiterging, war es noch eine gute Stunde zu Fuß.
Jedes Mal wenn sie den Bergrücken erreichte, auf dem sie nun mit Rimmer stand, war sie überzeugt, dass es heute endlich soweit war. Und wenn sie durch den Wald hinunterlief, lauschte sie auf das verräterische Rasseln der Zugkette oder auf ein Rascheln im Gebüsch, in dem sich ein gefangener Wolf verstecken mochte. Doch es war immer das gleiche.
Nichts. Kein Wolf, keine Spuren und keine Losung, nicht einmal ein Fellbüschel an einem Dornenstrauch.
Allmählich glaubte sie, dass das Glück sich von ihr abgewandt hatte oder sie etwas falsch machte. Nach etwa zehn Tagen stellte sie daher die Fallen anderswo auf, änderte ihre Technik und versuchte es auch mit neuen Orten, nicht nur entlang der Wildpfade, wo man normalerweise einen Wolf vermuten konnte. Sie stellte sie oben auf dem Bergkamm und unten am Bach auf, auf offener Fläche und tief versteckt im Gebüsch.
Es half nichts.
Dann kam sie auf die Idee, dass die Fallen vielleicht zu neu waren oder zu sehr nach Metall rochen, also schleppte sie sie zur Hütte zurück, scheuerte sie mit einer Drahtbürste ab und kochte sie dann in Bachwasser und Holzaschesud. Anschließend rieb sie die Fallen sorgsam mit geschmolzenem Bienenwachs ein, hängte sie zum Trocknen in einen Baum und achtete stets darauf, sie nur mit Handschuhen anzufassen.
Es änderte nichts.
Dann fragte sie sich, ob es vielleicht an Buzz lag. Er begleitete sie meist auf ihren Wegen und markierte manchmal selbst die Stelle mit seinem Urin, wenn sie rund um die Falle den vom Wolf verspritzte. Als sie Rimmer davon erzählte, hatten sie es beide für einen guten Einfall gehalten. Eigentlich war es egal, wer in das Revier eines Wolfs eindrang, ob nun fremder Wolf oder kastrierter Hund, da deren Geruch auf jeden Fall seine Aufmerksamkeit erregte. Aber vielleicht verschreckten ihn ja Buzz’ Anstrengungen, und so hatte Helen ihn in letzter Zeit zu seinem Leidwesen in den Pickup oder in den Verschlag hinter der Hütte gesperrt. Sie gab sogar einige Tage lang das Rauchen auf, für den Fall, dass es der Zigarettenrauch war, der die Tiere abschreckte.
Doch wie zum Hohn blieben die Fallen leer.
Dabei konnte sie durchaus nicht darüber klagen, dass sie nichts zu tun hatte. Sie lud die Software des Geographic Information System, die Dan ihr mitgebracht hatte, auf ihre Festplatte und konnte sich jetzt die Karten der Gegend auf dem Bildschirm ansehen. Es gab Karten für die Wasserläufe, für Straßen oder für die diversen Vegetationstypen, und sie ließen sich in allen Varianten miteinander kombinieren. Sie trug nicht nur die genauen Positionen aller Fallen ein, sondern auch sämtliche Informationen, die sich vielleicht einmal als nützlich erwiesen, etwa die Spuren von Elchen, Rot- oder anderem Wild, das ein Wolf normalerweise jagte – sogar die Standorte des auf den Pachtweiden grasenden Viehs.
Sie wusste, wie wichtig es war, sich zu beschäftigen, um nicht ständig an Joel denken zu müssen.
Die Nächte waren am schlimmsten. Meistens dämmerte es bereits, wenn sie vom Überprüfen der Fallen zurückkehrte, und die dann folgenden Arbeitsgänge waren stets die gleichen. Wenn sich ihr Handy wieder aufgeladen hatte und sie eine Verbindung bekam, fragte sie die Mailbox ab und erledigte ihre Anrufe. Den Versuch, sich in den E-Mail-Server einzuloggen, hatte sie schon beinahe aufgegeben. Da das Handy analog geschaltet war, dauerte das Herunterladen vom Internet unerträglich lang, für eine einzige Seite brauchte sie fast fünf Minuten.
Jedes Mal wenn sie die Anrufe abhörte, hoffte sie auf eine Nachricht von Joel. Doch anfangs waren es stets nur Dan oder Bill Rimmer, die anriefen, weil sie wissen wollten, ob sie mit den Fallen bereits Erfolg gehabt hatte. Später meldeten auch sie sich nicht mehr, als sei es ihnen peinlich, immer die gleiche Antwort zu bekommen. Gelegentlich ließ Celia oder ihre Mutter von sich hören, und Helen nahm sich meist die Zeit, sie zurückzurufen.
Dann fütterte sie Buzz, gönnte sich eine Dusche, machte sich etwas zu essen und verbrachte den Rest des Abends am Computer, schrieb oder las. Doch wenn es dunkel wurde und Schweigen sich über den Wald senkte, durchbrochen allein vom Schrei einer Eule oder eines sterbenden Tieres, fiel es ihr immer schwerer, die Erinnerung an Joel in Schach zu halten.
Sie hatte versucht, sich mit Musik abzulenken, doch was immer sie auflegte, ließ sie erst recht an ihn denken. Sie hörte seine Schritte im Zischen der Coleman-Laternen oder im Flattern der Insekten, die gegen die Fliegengitter prallten. Wenn sie es nicht mehr aushielt, ging sie hinunter zum See, wo sie sich ins Gras setzte, schluchzend eine Zigarette rauchte und sich selbst und ihn und die ganze vermaledeite Welt verfluchte.
Und wenn die Sonne am nächsten Tag wieder aufging, nahm sie sich vor, etwas an ihrem abendlichen Programm zu ändern.
Also versuchte sie es erneut mit dem Wolfsgeheul und wanderte den Cañon hinauf, doch es war hoffnungslos, schlimmer noch als am ersten Abend am See. Ihr gelangen ein paar ganz passable Rufe – auf die sie natürlich keine Antwort erhielt –, und dann begann sie zu weinen.
Ihre Ausflüge in die Stadt waren etwas erfolgreicher, und allmählich lernte sie die Leute kennen. Sie aß oft bei Nelly’s und kam meist mit jemandem ins Gespräch, allerdings hatte sie noch nicht den Mut gefunden, allein ins Last Resort zu gehen.
Inzwischen hatte sie auch die meisten ortsansässigen Rancher aufgesucht und ihren Charme spielen lassen. Sie hatte ihnen erklärt, weshalb sie hier war, und sie gebeten, sich bei ihr zu melden, wenn sie auch nur eine Spur von einem Wolf entdeckten. Gewöhnlich rief sie an, um mit ihnen einen passenden Termin zu vereinbaren, meist um die Mittagszeit. Die Rancher waren überwiegend höflich und freundlich, die Frauen reagierten noch freundlicher als die Männer.
Die Millwards, die reinrassige Charolais-Bullen züchteten, hatten viel Wirbel um sie gemacht und darauf bestanden, dass sie zum Essen blieb. Sogar Buck Calders Tochter, Kathy Hicks, war angesichts dessen, was mit ihrem Hund passiert war, freundlich gewesen. Und die meisten – wenn auch nicht alle – Rancher gaben die Erlaubnis, ihr Land zu betreten, solange sie ihnen nicht in die Quere kam und keine Weidegatter offenließ.
Außer Abe Harding, den sie auf seiner Ranch angerufen, aber nicht erreicht hatte, kannte sie nun alle. Dann traf sie ihn eines Tages in der Stadt vor dem Lebensmittelladen, lächelte und sagte hallo; doch er ging an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Helen war ziemlich verdutzt. Hardings Söhne, vor denen sie sich an ihrem ersten Tag auf der Fahrt nach Hope blamiert hatte, luden etwas auf ihren Truck. Sie sah, wie sie sich über sie lustig machten.
»Ach, denken Sie sich nichts wegen Abe Harding«, sagte Ruth Michaels, als Helen ihr erzählte, was passiert war. »Er benimmt sich immer so. Der Typ ist einfach ein Arschloch. Nein, das ist nicht ganz fair. Er ist bloß traurig, verbittert und vielleicht ein bisschen verrückt. Aber wer wäre das nicht – bei den Söhnen?«
Helen mochte Ruth, und sooft sie in die Stadt kam, hielt sie am Souvenirladen an, um einen Kaffee zu trinken. Ruths schelmischer Humor brachte sie stets zum Lachen, und das tat ihr ebenso gut wie der Kaffee. Außerdem war es ganz nützlich, jemanden zu kennen, der einem den hiesigen Klatsch und das Neueste über die Leute in der Stadt erzählte.
Als die Wochen vergingen, wurde es Helen allmählich peinlich, dass sie noch keinen Wolf gefangen hatte. Man riss bereits Witze über sie. Vor zwei Tagen hatte sie zufällig Clyde Hicks an der Tankstelle getroffen, und er hatte sich aus dem Autofenster gelehnt und gefragt, wie es denn so gehe und was die Wölfe so machten, obwohl er genau Bescheid wusste.
»Wissen Sie, wie man am besten einen Wolf fängt?«, fragte er süffisant grinsend. Helen schüttelte den Kopf.
»Aber Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«
»Sie suchen sich einen großen Felsbrocken, bestreuen ihn mit Pfeffer, der Wolf kommt, riecht, niest und schlägt sich selbst k.o. Bingo.«
Helen lächelte gequält.
»Was Sie nicht sagen!«
»Funktioniert. Probieren Sie’s aus. Sag ich Ihnen ganz umsonst.« Und der Klugscheißer gab Gas.
Nachts lag sie wach und fragte sich, warum sie kein Glück hatte. Vielleicht waren Leute daran schuld, dachte sie. Vielleicht gab es oben welche im Wald, die den Wolf daran hinderten, in die Falle zu gehen. Nicht absichtlich, einfach nur, weil sie sich da oben herumtrieben. Sie hatte zwar noch keine Menschenseele getroffen, wusste aber, dass Wanderer zum Cañon kamen. Und dann waren da noch die Holzfäller, die für den Holzhandel weiter unten im Tal arbeiteten.
Manchmal fand sie Fußspuren im Staub oder im Schlamm am Bach, doch nicht so oft, dass sie befürchten musste, jemand könnte in ihre Fallen treten. Dann entdeckte sie Hufabdrücke und Pferdedung, doch normalerweise ließen sich Wölfe weder durch Wanderer noch durch Pferde abschrecken. Sie waren zwar scheu, aber auch nicht scheuer als Grizzlys oder Berglöwen, deren Spuren sie gesehen hatte. Es war schon seltsam.
Noch seltsamer war, dass sie Fallen fand, die zugeschnappt waren. Sie konnte sich nicht erklären, warum. Fast schien es, als sei dies ohne äußere Einwirkung geschehen, da sie nicht aus der Erde gezogen waren und somit auch nicht den Sender aktiviert hatten. Helen reduzierte daraufhin die Tellerspannung, um die Fallen unempfindlicher zu machen, aber es passierte trotzdem immer wieder. Gestern dann hatte sie drei zugeschnappte Fallen entdeckt und am Abend Bill Rimmer angerufen und ihn gebeten, sie heute Morgen zu begleiten.
Es war natürlich typisch, dass sie noch keine einzige zugeschnappte Falle gefunden hatten. Die Fallen unten im Wald waren unberührt.
»Sie glauben bestimmt, das ich mir das alles nur eingebildet habe«, sagte sie, als sie den Abhang hinunter zum Cañon gingen.
»Ist wie mit dem Wagen, wenn der komische Geräusche macht. Sobald man ihn in die Werkstatt bringt, ist nichts mehr zu hören.«
»Bei meinem Wagen wüssten die gar nicht, wo sie anfangen sollten.«
Die ersten beiden Fallen, die sie im Cañon überprüften, sahen genau so aus, wie Helen sie gestern Abend zurückgelassen hatte. Doch die nächste war tatsächlich zugeschnappt.
Helen hatte sie neben einem schmalen, staubigen Pfad aufgestellt, der aussah, als würde er vor allem von Rotwild benutzt. Rimmer ging um die Falle herum, und vor jedem Schritt überprüfte er den Boden. Die Falle lag offen da, die Bügel griffen ins Leere. Er hob sie sorgfältig mit einem Stockende an und untersuchte sie, ehe er sie in die Hand nahm und den Mechanismus kontrollierte.
»Mit der Falle ist alles in Ordnung.«
Er legte die Falle wieder hin, folgte dem Pfad etwa zwanzig Schritte weit und musterte aufmerksam den Boden. Dann kam er zurück und ging die gleiche Entfernung in die andere Richtung.
»Kommen Sie, und schauen Sie sich das an«, sagte er schließlich.
Sie ging zu ihm, und Rimmer zeigte auf den Pfad.
»Sehen Sie die Rehspur, die hier einfach aufhört?«
»Wahrscheinlich hat es kehrtgemacht.«
»Das glaube ich nicht. Schauen Sie hier.«
Sie gingen an der Falle vorbei zu der Stelle, an der Rimmer zuerst stehengeblieben war.
»Sehen Sie, wie hier die Spur wieder beginnt? Das ist dasselbe Tier, das in dieselbe Richtung läuft.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Was immer auch die Falle zuschnappen ließ, hat hinterher noch seine Spuren verwischt. Ich habe es schon mit ein paar verdammt cleveren Wölfen zu tun gehabt, aber so clever sind sie nun auch wieder nicht.«
Sie suchten rund um den Pfad nach Spuren, aber es gab zu viele Felsen und zuviel Gebüsch. Bei der nächsten Falle war es das gleiche: die Falle zugeschnappt, sämtliche Spuren verwischt.
Dann, bei der dritten, fanden sie Wolfsspuren und frische Losung direkt auf der zugeschnappten Falle. Helen stieß einen Freudenschrei aus.
»Tja, wenigstens gibt es ihn.«
Rimmer blickte stirnrunzelnd zu Boden.
»Stimmt, aber ich glaube nicht, dass er den Mechanismus ausgelöst hat. Sehen Sie diese Spuren hier? Nichts deutet darauf hin, dass er mit den Pfoten danach getastet hat oder in die Luft gesprungen ist, als sie zuschnappte. Sieht eher aus, als wäre er hergeschlendert, hätte dran geschnuppert, sein Geschäft verrichtet und wäre dann wieder seiner Wege gegangen.«
»Sie glauben, die Falle war schon zugeschnappt, als er auftauchte?«
»Denke schon. Und mir scheint auch, dass hier der Sand gefegt wurde, bevor der Wolf kam. Deswegen sieht man seine Spuren so deutlich.«
Er zog eine Plastiktüte aus seiner Tasche, streifte sie über seine Hand und hob die Losung auf. Dann stülpte er die Tüte um und gab sie Helen.
»Immerhin hat er Ihnen ein Präsent dagelassen.«
Sie kämmten die Gegend um die Falle ab. Rimmer hockte am Boden und schnupperte an einem Grasbüschel.
»Ist ja ein verdammt merkwürdiger Geruch. Fast wie Ammoniak oder so.«
Er riss das Grasbüschel aus und gab es Helen, damit sie daran roch.
»Stimmt. Und noch irgendwas. Diesel vielleicht?« Sie suchten weiter. Und dann fand Rimmer einen frisch abgebrochenen, mit Staub bedeckten Stängel Beifuss. Er hielt ihn hoch, um ihn ihr zu zeigen.
»Sein Besen. Jemand führt uns hier an der Nase herum.« Als sie an diesem Abend unter der Dusche stand, war sie von der Lösung des Rätsels immer noch weit entfernt.
Die Dusche funktionierte inzwischen wunderbar, und Helen war stolz auf die Veränderungen, die sie vorgenommen hatte: neue Fliegengitter, eine Tür, von der aus sie den See und, Gott behüte, zu Besuch kommende Bären rechtzeitig sehen konnte. Das Beste aber war der zwanzig Liter fassende Plastikkanister, den sie in einem Baum über ihrem Duscheimer angebracht hatte. An einer Seite war ein Seil befestigt, an dem sie nur zu ziehen brauchte, damit der Kanister vornüberkippte und ihren Eimer füllte. Bestimmt würde eines Tages die ganze Konstruktion über ihr zusammenbrechen, aber so konnte sie wenigstens etwas länger duschen, auch wenn das Wasser so kalt war, dass sie blaugefroren aus der Dusche kam.
Sie klapperte mit den Zähnen, als sie sich mit dem Handtuch die Haare abtrocknete. Dies dauerte nur etwa fünf Sekunden und war so ziemlich das einzige, was ihr an ihrer praktischen neuen Frisur gefiel.
Warum um alles in der Welt machte sich jemand an ihren Fallen zu schaffen?
Alle Rancher, mit denen sie gesprochen hatte, wollten, dass jeder Wolf, der sich in ihrer Gegend herumtrieb, so schnell wie möglich gefangen wurde. Es ergab einfach keinen Sinn – falls nicht gerade jemand seinen Spaß mit ihr treiben wollte. Sie schlang das Handtuch um den Körper und ging zurück in die Hütte.
Als sie angezogen war, brühte sie sich einen Tee auf, stellte den Computer an und trug die Positionen der sechs Fallen ein, die sie und Bill neu aufgestellt hatten. Lange Zeit starrte sie auf die Karte vom Cañon, in dem sie die Fallen, deren Mechanismus zuletzt ausgelöst worden war, gefunden hatten. Sie klickte die angrenzende Karte an. Den Blick immer noch auf den Bildschirm gerichtet, nippte sie an ihrem Tee und nahm einen Bissen vom großen roten Apfel, der weit besser aussah, als er schmeckte. Dann erregte etwas auf der Karte ihr Interesse.
Am Südhang des Cañons verlief ein alter Holzfällerpfad, der ihr zuvor nicht aufgefallen war. Da sie stets von Norden kam, hatte sie noch nicht daran gedacht, die andere Seite zu erkunden. Sie vergrößerte den Ausschnitt, um zu sehen, wohin der Weg führte. Er schlängelte sich etwa fünf Meilen weit durch den Wald und einen steilen Engpass hinab zu einem Haus hoch oben im Tal. Sie wusste, wem dieses Haus gehörte, klickte es aber, um sicherzugehen, trotzdem an. Auf dem Bildschirm erschienen die Worte »Hardings Ranch«.
Merkwürdig, dass sie nicht schon längst daran gedacht hatte: Vielleicht waren es die beiden Jungs, die diese Spielchen mit ihr trieben. Eigentlich hatte sie keinen richtigen Grund für ihr Misstrauen, wenn sie einmal davon absah, dass die Hardings die unfreundlichsten Menschen waren, die sie in den letzten drei Wochen hier kennengelernt hatte.
Eine halbe Stunde später fuhr sie mit dem Toyota an einem verfallenen Schild vorbei, auf dem »Privatbesitz: Jagen verboten – Zutritt verboten« stand, und umfuhr die Schlaglöcher der Zufahrt zum Haus der Hardings. Buzz auf dem Sitz neben ihr war ebenso nervös wie sie, und bald kannte sie auch den Grund für seine Unruhe. Zwei Hunde, etwa doppelt so groß wie Buzz, rasten mit gesträubtem Nackenfell und gefletschten Zähnen aus dem Wald auf den Pick-up zu. Buzz winselte.
Helen hielt am Rand der Zufahrt neben einem rostigen, von Gras und Unkraut umrankten Viehtransporter, auf dem mehrere alte Maschinenteile lagen. Sie stellte den Motor ab, blieb einen Augenblick sitzen und fragte sich, wie sie vorgehen sollte.
Sie konnte gut mit Hunden umgehen, aber diese beiden Tiere hatten etwas an sich, das sie zögern ließ auszusteigen. Einer der Hunde richtete sich auf, stemmte die Pfoten gegen den Pick-up, fletschte die Zähne, bellte und geiferte, alles gleichzeitig. Buzz stieß ein nicht gerade überzeugendes »Wau« aus und kauerte sich dann auf seinem Sitz zusammen.
»Feigling«, sagte Helen. Sie sah zum Haus hinüber.
Es bot einen trostlosen Anblick und war kaum mehr als ein ausgebauter Schuppen. Die provisorisch, je nach Finanzlage angefügten Erweiterungen wirkten wie Krebsgeschwüre, die nur von schimmliger weißer Farbe zusammengehalten wurden. Das Dach war mit zum Teil selbst wieder geflickten Teerpappeflicken gedeckt. Das Haus duckte sich an den nackten Fels, als fürchte es, von der Wildnis verschlungen zu werden.
Zwei weitere Laster standen am Haus, einer davon war der schwarze Truck, den die Jungen fuhren. Doch außer den Hunden war niemand zu sehen.
Es wurde rasch dunkel, und Helen sah im Haus das Licht eines Fernsehers flackern; die weite Welt fand ihren Weg zu diesem Vorposten der Zivilisation über eine riesige Satellitenschüssel, die gefährlich schief in der Felswand über dem Haus hing. Auf einer zwischen zwei abgestorbenen Tannen hängenden Wäscheleine konnte Helen im Dämmerlicht die fahlen Konturen von Arbeitshemden und Unterwäsche erkennen.
Plötzlich hörte Helen jemanden rufen, und die Hunde verstummten schlagartig und rannten zum Haus. Eine zerfledderte Fliegengittertür ging auf, und Abe Harding trat auf die Veranda. Erneut schrie er die Hunde an; sie duckten sich und schlichen um ihn herum hinters Haus.
Helen hatte geglaubt, dass Harding zum Auto kommen würde, doch er blieb, wo er war, und starrte sie nur an.
»Na schön«, flüsterte sie Buzz zu und öffnete die Tür des Pick-up. »Dann wollen wir mal.«
Sie warf die Tür zu und ging über den von Unkraut überwucherten Kiesweg zum Haus. Sie hatte sich bereits zurechtgelegt, wie sie beginnen wollte. Es brachte nichts, irgend jemandem Vorwürfe wegen der Fallen zu machen. Sie würde sie nicht mal erwähnen und sich ganz freundlich und ungezwungen geben.
»Guten Abend!«, rief sie mit fröhlicher Stimme.
»Hä?« Das war nicht gerade ermutigend, aber immerhin ein Anfang.
Als sie die Stufen erreichte, die zur Veranda hinaufführten, knurrte einer der Hunde hinter der Hausecke. Ohne den Blick von Helen abzuwenden, herrschte Abe ihn an, still zu sein. Er war ein hagerer, drahtiger Mann mit tiefliegenden, gequält dreinblickenden Augen. Er trug einen verblichenen, fleckigen Hut, Jeans, ein langärmliges Unterhemd und keine Stiefel; die Zehen lugten durch ein Loch in den Socken.
Helen schätzte ihn auf Mitte bis Ende fünfzig. Ruth Michaels hatte ihr erzählt, er habe sich dieses Haus gekauft, als er aus Vietnam zurückgekommen war. Doch dass dieser misstrauische, gehetzte Blick auf den Krieg zurückzuführen war, konnte man nur ahnen. Vielleicht kam er auch vom beengten Leben an diesem elenden Ort, immer mit dem Rücken zur Wand.
Helen streckte ihm ihre Hand entgegen: »Mr. Harding. Ich bin Helen Ross von …«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
Er betrachtete ihre Hand, und einen Augenblick lang glaubte sie, er würde sie nicht nehmen. Doch schließlich, als täte er es gegen seinen Willen, griff er danach.
»Hübsches Haus haben Sie hier.«
Er schnaubte verächtlich. Sie konnte es ihm nicht verdenken.
»Wollen Sie es kaufen?«
Helen lachte ein wenig zu laut.
»Wär schön, wenn ich mir das leisten könnte.«
»Nach all dem, was man so hört, werdet ihr Regierungsleute verdammt gut bezahlt. Diese Unsummen Steuergelder, die ihr uns abknöpft …«
»Tja, ich hätte auch gern gewusst, wo die bleiben.«
Harding drehte den Kopf zur Seite und spuckte schwarzen Tabaksaft aus. Er landete mit einem klatschenden Geräusch im Staub neben den Stufen. Die Sache lief nicht so gut, wie Helen gehofft hatte. Er schaute sie wieder an.
»Was wollen Sie?«
»Wie Sie wissen, Mr. Harding, hat man mir aufgetragen, den Wolf zu fangen, der vor kurzem den Hund von Kathy Hicks gerissen hat. Ich wollte einfach nur mal vorbeischauen, so wie bei allen anderen Nachbarn auch, na ja, Sie wissen schon, hallo sagen, mich vorstellen und so …« Sie kam sich ziemlich dumm vor.
»Also haben Sie ihn immer noch nicht.«
»Noch nicht, nein. Aber ich versuch’s, und ich gebe mir wirklich große Mühe!« Sie lachte nervös.
»Aha.«
Sie konnte den Fernseher im Haus hören. Dem Gelächter nach zu urteilen, lief eine Komödie. Dann spürte Helen plötzlich, dass sie vom Haus aus beobachtet wurde. Einer von Hardings Söhnen starrte durch ein Fliegengitterfenster, das vermutlich zur Küche gehörte. Gleich darauf gesellte sich sein Bruder zu ihm. Sie versuchte, sie zu ignorieren, und gab sich weiterhin unbekümmert.
»Natürlich ist es nicht so leicht herauszufinden, wo er sich herumtreibt.«
»Vermutlich reißt er unsere Kühe oben auf den Pachtweiden. Hat ja offenbar schon eins von Calders Kälbern erwischt.«
»Tja, dem Kadaver nach zu urteilen war das keineswegs so klar …«
»Quatsch.« Er schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Ihr habt doch keine Ahnung.«
Helen schluckte. »Einige der Rancher, unter ihnen übrigens auch Mr. Calder, haben mir freundlicherweise erlaubt, ihr Land zu betreten. Sie wissen schon, um nach Spuren, Losung und ähnlichem zu suchen.« Sie lachte, wusste aber eigentlich nicht, warum. »Natürlich unter der Bedingung, dass ich vorsichtig bin, Weidegatter schließe und so weiter. Und da habe ich mich gefragt, ob es Ihnen recht wäre, wenn ich …«
»Dass Sie auf meinem Land herumschnüffeln?«
»Nun, nicht ›herumschnüffeln‹, aber …«
»Verflucht noch mal, nein, können Sie nicht.«
»Oh.«
»Glauben Sie vielleicht, ich lasse zu, dass ihr gottverdammten Regierungsleute über mein Land trampelt und eure Nase in meine Angelegenheiten steckt?«
»Na ja, ich …«
»Sie sind wohl nicht ganz bei Trost, wie?«
»Tut mir leid.«
»Verschwinden Sie.«
Die beiden Hunde kamen hinter dem Haus hervor. Der eine stieß ein tiefes Knurren aus, und Abe befahl ihm, still zu sein. Aus den Augenwinkeln konnte Helen die beiden Jungen hinter dem Fliegengitterfenster grinsen sehen. Helen lächelte Harding tapfer an.
»Tut mir wirklich leid, dass ich Sie belästigt habe.«
»Hauen Sie ab.«
Sie drehte sich um und ging zurück zu ihrem Wagen. Wieder klang schallendes Gelächter aus dem Fernseher. Ihre Knie zitterten. Hoffentlich konnte man das nicht sehen. Plötzlich hörte sie ein scharrendes Geräusch hinter sich, und noch bevor sie sich umdrehen konnte, hatte der erste Hund sie angefallen. Die Wucht des Aufpralls warf sie der Länge nach zu Boden.
Jetzt griffen beide Hunde sie an, der eine zerrte an ihrem Oberschenkel, der andere am Fußgelenk. Sie knurrten furchterregend, während ihre Zähne die Hose zerfetzten. Sie schrie und trat nach ihnen. Harding rannte auf Helen zu, brüllte die Hunde an und rief sie zurück.
Sie hörten ebenso plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Schuldbewusst schlichen sie davon. Harding hob einen Stein auf, warf ihn hinterher, und einer der Hunde jaulte auf. Helen blieb vor Schreck einen Moment reglos liegen. Ihre Hose war zerrissen, aber Blut war nicht zu sehen. Sie setzte sich auf.
»Alles okay?«
Der Ton war nicht gerade mitfühlend. Harding stand über sie gebeugt.
»Ich glaub schon.«
Helen stand auf und klopfte sich den Staub ab.
»Dann machen Sie sich lieber auf den Weg.«
»Tja, das sollte ich wohl.«
Sie ging zu ihrem Pick-up, ließ aber keine Sekunde die Hunde aus den Augen. Sie fühlte sich erst sicher, als sie im Wagen saß und die Tür hinter sich zuschlug.
Es war schon fast dunkel. Harding sah zu, wie sie das Auto wendete. Das Licht der Scheinwerfer wanderte über ihn hinweg. Und als sie mit klopfendem Herzen die Auffahrt hinunterfuhr, rollten ihr die ersten Tränen über die Wangen. Sie weinte während der ganzen Fahrt.