Hope sah an diesem Morgen wie der Schauplatz eines außer Rand und Band geratenen Filmsets aus. Die ganze Hauptstraße war mit Kühen und Autos verstopft, mit Kindern, die aussahen, als wollten sie sich jeden Augenblick mit ihren Musikinstrumenten verprügeln, während über ihren Köpfen zwei junge Männer auf Leitern balancierten und versuchten, eine Schnur mit bunten Fähnchen über die Straße zu spannen. Die Stadt bereitete sich auf den alljährlichen Jahrmarkt und das Rodeo vor.
Eleanor Calder stand im Eingang zu Iversons Lebensmittelladen und schaute wie die anderen Leute auf der Straße zu.
Die Kapelle der Highschool hatte den ganzen Vormittag geübt, und als sie jetzt in der Mittagshitze über die Hauptstraße marschierte, war die Stimmung gereizt. Sie sollten »Sechsundsiebzig Posaunen« spielen, was nur als Witz gemeint sein konnte, da es bloß einen einzigen Posaunisten gab. Und ob der überleben würde, war auch nicht sicher, weil eine Kornettspielerin, bestimmt zweimal so groß wie er selbst, gerade gedroht hatte, ihn noch einen Kopf kürzer zu machen, sollte er sie ein weiteres Mal in den Rücken stoßen. Keiner achtete mehr auf die verzweifelten Bitten von Nancy Schaeffer, der Lehrerin, dafür schrien alle wild durcheinander, während die Kühe blöd glotzend um sie herumstanden.
Niemand schien zu wissen, was das Vieh hier eigentlich sollte. Entweder hatte jemand sich im Kalender vertan und war mit ihm auf dem Weg zum Markt, oder er hatte sich gerade diesen Augenblick ausgesucht, um es auf die Weide am anderen Ende der Stadt zu treiben. Wie auch immer, die Männer, die versuchten, die Flaggengirlande aufzuhängen, waren jedenfalls nicht sonderlich begeistert. Die Tiere brachten ihre Leitern ins Wanken, bis schließlich eine davon frontal gerammt wurde und der Mann sich in letzter Sekunde nur noch durch einen Sprung auf die Veranda von Nelly’s Diner retten konnte, von wo aus er dann zusah, wie die Fähnchen auf den Köpfen der Kühe landeten und zur Stadt hinausgetragen wurden.
Der alte Mr. Iverson kicherte und schüttelte den Kopf.
»Wird mit jedem Jahr schlimmer«, sagte er. »Selbst die Kapelle kann kein halbwegs anständiges Lied mehr spielen.«
»Ach, das werden sie schon hinkriegen«, erwiderte Eleanor. »Aber die Kühe haben hier nichts verloren.«
»Lärm genug machen sie jedenfalls.«
Eleanor lächelte. »Tja, ich sollte mich besser auf den Heimweg machen. Ein paar hungrige Männer wollen bald ihr Essen haben.«
Sie verabschiedete sich und ging mit ihren zwei Lebensmitteltüten zum Auto. Bis auf ein paar Nachzügler, die von zwei jungen Rancharbeitern auf Pferden angetrieben wurden, waren die Kühe verschwunden. Die jungen Männer, die Eleanor nicht kannte, mussten sich von Ladenbesitzern und einigen Autofahrern, deren Geduld erschöpft war, beschimpfen lassen. Die Probe der Musikkapelle schien beendet zu sein, und die Streithähne zerstreuten sich.
Eleanor verstaute die Einkäufe im Kofferraum, schloss die Heckklappe und machte sich Vorwürfe, weil sie zuviel eingekauft hatte. Wie die meisten ihrer Nachbarn fuhr sie gewöhnlich einmal die Woche zum großen Supermarkt nach Helena und holte bei Iversons nur die eine oder andere Kleinigkeit, die sie auf ihrer Liste vergessen hatte. Doch bei den seltenen Besuchen überkamen sie dann solche Schuldgefühle, dass sie schließlich alle möglichen Dinge kaufte, die sie eigentlich gar nicht brauchte. Sie war überzeugt, dass die Iversons, dieses bekümmert dreinblickende Ehepaar, dem der Laden seit Menschengedenken gehörte, dieses Phänomen kannten und entsprechende Mienen aufsetzten, sobald jemand zur Tür hereinkam. Und wahrscheinlich führten sie dann einen Freudentanz auf, wenn sie wieder allein waren.
Eleanor stieg in den Wagen und zuckte zusammen, als sie die Hitze des Sitzpolsters durch ihr Baumwollkleid spürte. Sie wollte schon den Motor anlassen, als sie das Schild »Zu verkaufen« sah, das immer noch im Fenster von Ruth Michaels’ Souvenirladen auf der anderen Straßenseite hing. Sie dachte erneut darüber nach, was Kathy gesagt hatte.
Es war vor etwa einem Monat gewesen, als sie den kleinen Buck gerade frisch gewindelt hatten. Kathy erzählte, dass das Paragon zum Verkauf stünde, und sie riet Eleanor zuzugreifen. Seit sie verheiratet war, schien es Kathys liebster Zeitvertreib zu sein, sich Projekte für ihre Mutter auszudenken. So hatte sie ihr schon dazu geraten, ein College zu gründen, ein Restaurant aufzumachen, in den Versandhandel einzusteigen oder mit Yoga zu beginnen. Diesmal war es eben Ruth Michaels’ Souvenirladen.
»Sei nicht dumm«, sagte Eleanor. »Ich habe keine Ahnung, wie man einen Laden führt, erst recht nicht, wie man Cappuccino macht.«
»Du hast doch immer Opa im Laden geholfen. Außerdem bräuchtest du gar nichts über Geschäftsführung zu wissen, weil Ruth eigentlich nicht aufhören will. Sie hat nur zuviel Schulden, und deshalb kann sie nicht weitermachen. Wenn du dich bei ihr einkaufst, könntest du sie den Laden führen lassen und selbst entscheiden, wieviel Energie du investieren möchtest.«
Alle Ausflüchte, die sie vorbrachte, fegte Kathy vom Tisch, und obwohl sie seither nicht mehr davon gesprochen hatten, musste Eleanor doch oft daran denken. Beide Mädchen waren verheiratet, und Luke würde bald aufs College gehen, also könnte sie durchaus etwas gebrauchen, das diese Leere ausfüllte.
Früher, als Henry noch lebte, hatte sie sich um den Papierkram der Ranch gekümmert, den Kathy jetzt erledigte. Und vom Kochen einmal abgesehen – Eleanor dachte mit Staunen daran, dass ihr das Kochen einmal Spaß gemacht hatte –, blieb nicht viel zu tun. Manchmal langweilte sie sich schrecklich und fühlte sich so einsam, dass sie regelrecht um ihren Verstand fürchtete.
Sie kannte Ruth Michaels nur vom Sehen, hatte sie aber immer für eine aufgeweckte und freundliche Frau gehalten. Als sie vor fünf Jahren in die Stadt kam, hatten die Leute anfangs interessiert, aber auch ein wenig misstrauisch reagiert. Genauer gesagt, die Männer waren interessiert, die Frauen eher misstrauisch, und zwar aus denselben Gründen: wegen ihres dunklen, exotischen Aussehens und weil sie alleinstehend war. Inzwischen wurde sie von den Leuten akzeptiert, soweit dies bei einer New Yorkerin überhaupt möglich war, und war allgemein gern gesehen.
Eleanor ging nur selten in ihren Laden, war aber jedes Mal beeindruckt. Ruth verkaufte nicht den üblichen Touristenschund – indianische Traumfänger aus Plastik, Schneekugeln und Cowboy-T-Shirts mit witzigen Sprüchen. Sie hatte Geschmack, das sah man schon an ihrer Schmuckauswahl, den Büchern und diversen Kunstgegenständen.
Noch ehe sie sich ganz entschieden hatte, lief Eleanor bereits über die Straße.
Bei Ruth durften Zettel und Poster an ein Schwarzes Brett im Fenster gehängt werden, auf denen gewöhnlich Welpen angepriesen oder Ereignisse wie ein Picknick, Trödelmärkte oder etwa eine Hochzeit angekündigt wurden, zu denen man die ganze Stadt einlud. Zur Zeit ging es bei den meisten Mitteilungen um den Markt und das Rodeo, so auch bei dem Zettel, der Eleanor zum Schmunzeln brachte. »Posaunisten dringend gesucht«, stand da. »Rufen Sie Nancy Schaeffer an – SOFORT!« Unter der Tafel wärmte sich eine schwarze Katze in der Sonne.
Eine Glocke bimmelte, als sie die Tür öffnete und wieder schloß. Nach dem grellen Licht draußen brauchten Eleanors Augen einen Moment, sich ans Halbdunkel des Ladens zu gewöhnen. Hier drin war es kühl und still, leise Musik erklang, und der kräftige Geruch von Kaffee lag in der Luft. Es war niemand zu sehen.
Eleanor ging vorsichtig zwischen den hohen Regalen hindurch, die mit Tongeschirr, handgefertigtem Spielzeug und leuchtendbunten Indianerdecken gefüllt waren, und achtete darauf, nicht an das Durcheinander von Mobiles und Klangspielen zu stoßen, die von der Decke hingen, sich drehten und klingelten, sooft sie sich berührten. Sie sah Körbe voll mit Armbändern aus gefärbtem und geflochtenem Pferdehaar und Glasschränke, die vor Silberschmuck überquollen.
Aus dem hinteren Teil des Ladens, in dem sich die Cappuccino-Bar befand, waren dumpfe, zischende Geräusche zu hören. Als Eleanor näher kam, hörte sie Ruths Stimme: »Jetzt mach schon, verdammtes Luder! Jetzt mach!«
Es war niemand zu sehen. Eleanor zögerte. Sie wollte nicht in irgendeine private Auseinandersetzung platzen.
»Ich gebe dir noch eine Chance, und dann prügle ich dir die Seele aus dem Leib, hast du gehört?«
Auf dem Tresen stand eine riesige Kaffeemaschine aus Chrom, die plötzlich zu explodieren schien und furchterregende Dampfwolken ausstieß.
»Du Miststück! Du elendes, nutzloses, gottverdammtes Miststück!«
»Hallo?«, rief Eleanor zaghaft. »Ruth? Sind Sie das?«
Mit einem Schlag war es still.
»Nicht, wenn Sie von der Bank oder vom Finanzamt sind.«
Ruths Kopf tauchte langsam über der Kaffeemaschine auf. Ein schwarzer Ölfleck zierte ihre Wange. Als sie Eleanor sah, blitzte einen Moment lang Panik in ihren Augen auf, doch dann lächelte sie.
»Mrs. Calder! Hallo! Tut mir leid, ich habe Sie nicht gehört. Diese Maschine wird mich im wahrsten Sinne des Wortes noch mal umbringen. Was kann ich für Sie tun? Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?«
»Wenn das Ding da explodiert, dann lieber nicht.«
»Ach was, die benimmt sich nur so, wenn sie glaubt, dass keiner da ist.«
»Sie haben da was auf Ihrer …« Sie zeigte ihr den Fleck.
»Oh, danke.«
Sie suchte ein Papiertuch, benutzte die Kaffeemaschine als Spiegel und wischte den Fleck ab.
»Glauben Sie an Geister?«
»Ja, ich denke schon. Warum?«
»Ich schwöre Ihnen, dieses Ding ist verflucht. Ich habe es aus einem bankrotten Laden in Seattle gekauft, war wirklich billig. Jetzt weiß ich, warum. Also, wie wär’s mit einem Kaffee?«
»Haben Sie einen ohne Koffein?«
»Na klar. Fettarme Milch oder normale?«
»Lieber fettarm.«
»Was soll’s.«
»Na ja, ich …«
»Nein, nein, so nenn ich den Kaffee. Kein Koffein, kein Fett, also was soll’s?« Sie lachte. Es war ein ansteckendes kehliges Lachen, fast ein wenig vulgär, und Eleanor musste einfach mitlachen.
»Sind Sie in die Stampede geraten?«
»Fast. Die armen Kinder.«
»Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Eleanor setzte sich auf einen der kleinen Barhocker, während Ruth der Maschine zwei Cappuccino ablistete. Sie trug verwaschene Jeans und ein weites, purpurnes T-Shirt, auf dem der Name des Ladens prangte. Ihr schwarzes Haar wurde von einem roten Stirnband gehalten. Eleanor schätzte sie auf Mitte bis Ende dreißig und stellte überrascht fest, wie attraktiv sie war.
Sie fragte sich, warum Ruth gerade so erschreckt dreingeschaut hatte. Vielleicht rechnete sie ja tatsächlich mit dem Finanzamt. Ruth stellte die Tasse Cappuccino vor sie auf die Theke.
»Und? Haben Sie schon einen Käufer gefunden?« fragte Eleanor. »Kathy sagte mir, dass Sie einen Partner für Ihr Geschäft suchen.«
»Haben Sie draußen nicht die lange Schlange gesehen? Ach was, kein Mensch interessiert sich dafür.«
Eleanor probierte den Kaffee. Er schmeckte gut. Mach schon, ermahnte sie sich, sag’s ihr. Sie stellte die Tasse ab.
»Nun«, sagte sie, »ich vielleicht schon.«
Buck nahm an, dass das Kalb schon seit ein paar Tagen tot war. Bis auf ein paar Knochen und einige Streifen zerkautes Fell schien die hintere Hälfte fast völlig verschwunden. Der Kadaver lag am oberen Ende eines tiefen Bachbetts, und das, was Vögel und andere Aasfresser übriggelassen hatten, war von der Sonne ausgedörrt. Nat Thomas würde es bestimmt nicht leichthaben, herauszufinden, was hier passiert war.
Er kniete sich nieder und stocherte mit Messer und Zange zwischen Fliegen und Maden herum. Der Boden war übersät mit Grashüpfern. Nat war, wie auch schon sein Vater vor ihm, seit Jahren der Tierarzt der Calder-Ranch, und Buck hatte ihn gleich angerufen. Er wollte eine unabhängige Meinung, bevor die Bundesbeamten den Kadaver in die Finger bekamen. Sie hatten zwar zugegeben, dass Prince von einem Wolf getötet worden war, aber da Kathy die Bestie mit eigenen Augen gesehen hatte, war ihnen auch kaum etwas anderes übriggeblieben.
Buck mochte den Typen von Fish & Wildlife nicht, diesen Prior oder wie der sich nannte. Er traute ihm einfach nicht über den Weg. Der andere Kerl, Rimmer, vom Amt für Wildschäden, der schien in Ordnung zu sein, aber wenn es hart auf hart kam, waren Beamte eben Beamte und in diesem Fall auf Seiten des Wolfs, jeder von denen, ohne Ausnahme.
Buck stand neben Clyde und blickte Nat über die Schulter. Es war Mittag, die verstreut auf der Wiese liegenden Felsbrocken reflektierten die Hitze. Die einzigen Geräusche waren das leise Klicken der Grashüpfer beim Springen und das gelegentliche Muhen einer Kuh weiter oben im Wald. Buck schwitzte immer noch vom steilen Aufstieg. Sie hatten Nats Wagen unten vor dem Haus stehengelassen und waren in Clydes Lieferwagen hinaufgefahren, aber etwa eine halbe Meile unterhalb des Abhangs war das Gelände dann zu steil geworden. Sie hätten lieber die Pferde nehmen sollen.
Clyde hatte das Kalb früh am Morgen gefunden, und Buck ärgerte nur, dass Luke nicht längst darauf gestoßen war. Gleich nach dem Auftauchen des Wolfs und Princes Tod hatte er dem Jungen den Auftrag gegeben, die Herde auf die Pachtweiden zu treiben. Wenn Wölfe in der Gegend waren, musste jemand das Vieh im Auge behalten, und da Luke sich hier oben auskannte und sonst zu nichts zu gebrauchen war, konnte er ebensogut diesen Job machen.
Buck hatte ihn eigens ermahnt, sich nach Kadavern umzusehen, aber der Junge hatte das Kalb nicht entdeckt. Wahrscheinlich steckte er die meiste Zeit mit dem Kopf in den Wolken, träumte vor sich hin, las Bücher oder grub nach alten Knochen oder ähnlichen Dingen. Buck hatte keine Ahnung, wie er aus diesem Sohn jemals einen halbwegs brauchbaren Rancher machen sollte.
»Und, Nat? Was meinst du?«
»Ist nicht mehr viel übrig, was?«
»Wie lang ist es schon tot?«
»Na ja, drei bis vier Tage vielleicht.«
»Was sagst du, war’s ein Wolf?«
»Tja, ist ziemlich drauf rumgekaut worden. Siehst du die Bissspuren hier am Hals? Das war ein Raubtier mit ganz schön großem Kiefer, und nach Bär sieht das nicht aus. Könnte ein Wolf oder ein Kojote gewesen sein. Habt ihr schon nach Spuren gesucht?«
»Zu trocken«, sagte Clyde. »Außerdem sieht man den Boden vor lauter Grashüpfern nicht.«
»Vielleicht ist es schon tot gewesen, und was immer es auch war, hat nur daran rumgeknabbert.«
»Meine Kühe brechen nicht einfach tot zusammen, Nat, das müsstest du doch wissen.«
»Sicher, aber nach dem bisschen zu urteilen, was hier noch übrig ist, hätte das Kalb auch vom Blitz erschlagen werden können, was weiß ich …«
»Vom Blitz erschlagen. Jetzt mach mal ‘nen Punkt, Nat.«
»Na ja …«
Buck blickte auf den Kadaver. Dann entdeckte er etwas, bückte sich und hob es auf. Ein Fetzen Fell, in der Sonne ausgedörrt, darauf das verschnörkelte HC der Calder-Ranch. Er blies den Grashüpfer herunter.
Klar, man verlor hin und wieder ein Kalb. Manchmal wurde eines krank oder stürzte in irgendeine Schlucht. Vor einigen Jahren hatten sie ein paar Tiere durch einen alten Grizzlybären verloren, und ein Vertreter vom Amt für Wildschäden war gekommen und hatte ihn erledigt. Wenn man in einer solchen Gegend Vieh hielt, war es normal, dass hin und wieder ein Kalb draufging.
Doch in den letzten zwei Jahren war jedes Tier, das sie für den Sommer auf die Pachtweiden hinaufgetrieben hatten, auch sicher und gesund wieder zurückgekommen. Und als er jetzt sein Brandzeichen auf diesem Stück Fell sah, spürte Buck, wie die Wut in ihm aufstieg.
Er war felsenfest davon überzeugt, dass hier ein Wolf am Werk gewesen war, und er würde es verdammt noch mal auch beweisen. Wahrscheinlich war es derselbe, der Kathys Hund getötet hatte, eines von diesen Raubtieren, das von den Beamten in Yellowstone freigelassen worden war. Und jetzt erwarteten die wahrscheinlich auch noch, dass man tatenlos zusah und ihnen weitere fünfhundert Dollar teure Kälber zum Fraß vorwarf! Da konnte einem doch schlecht werden. Buck würde da jedenfalls nicht mitmachen.
Er schleuderte das Stück Fell fort und sah ihm nach, als es wie ein Frisby die Schlucht hinabsegelte.
»Also, Nat, gibst du mir nun recht, wenn ich behaupte, dass das hier ein Wolf war, oder nicht?«
Der Tierarzt stand auf und kratzte sich am Kopf. Buck sah, wie unangenehm es ihm war, so in die Enge getrieben zu werden. Die beiden Männer kannten sich seit ihrer Kindheit, und beide wussten, dass Nat und sein Vater gutes Geld mit der Arbeit für die Ranch verdient hatten.
»Tja, Buck, weißt du, das ist wirklich nicht einfach.«
»Also, an Altersschwäche ist es wohl kaum eingegangen.«
»Vielleicht nicht, aber …«
»Und ein Bär war es nicht, hast du gesagt.«
»Ganz auszuschließen ist es nicht.«
Buck legte dem Tierarzt einen Arm um die Schulter. Nat war klein, und Buck ragte wie ein großer Onkel über ihm auf.
»Du bist ein guter Freund, Nat, und ich will dir keine Worte in den Mund legen. Aber du weißt ja, wie diese fanatischen Tierschützer sind. Sie werden alles mögliche anstellen, um nicht zugeben zu müssen, dass es einer von ihren kostbaren Wölfen war. Und ich will bloß deine Expertenmeinung, nur ein bisschen Munition.«
»Na ja, vielleicht.«
»Mit einem ›vielleicht‹ ist uns bei diesen Typen nicht viel geholfen. Eigentlich willst du doch sagen, dass es mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ein Wolf war, stimmt’s? Also mit achtzig Prozent? Sag’s mir.«
»Treib’s nicht zu weit, Buck.«
»Also fünfundsiebzig Prozent.«
»Na ja, ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Gut, also fünfundsiebzig Prozent.« Buck nahm seinen Arm von den Schultern des Tierarztes. Er hatte, was er haben wollte. »Ich danke dir, Nat. Ich weiß das wirklich zu schätzen, altes Haus. Du kannst es jetzt abdecken, Clyde.«
Sie hatten mit dem Lieferwagen eine alte grüne Plane hergebracht, die Clyde nun über den Kadaver breitete, wobei er einen Schwarm von Grashüpfern aufschreckte. Nat Thomas sah auf seine Uhr und meinte, er sei spät dran und müsse jetzt gehen. Buck wusste, der arme Kerl wollte einfach nicht mehr in der Nähe sein, wenn die Bundesbeamten auftauchten. Er klopfte ihm auf die Schulter, und zusammen machten sie sich auf den Weg.
»Ich fahr dich runter. Komm schon, Clyde, rufen wir die Wolfsfanatiker an.«
»Luke? Kommst du essen?«
Luke schlug die Augen auf und erblickte seine Mutter, die neben seinem Bett stand und auf ihn herabschaute.
»Geht’s dir gut?«
»Klar, ich hab ein paar Übungen gemacht und muss wohl dabei eingeschlafen sein.«
Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und lächelte, aber er sah ihren Augen an, dass etwas nicht stimmte. Er setzte sich auf, schwang seine Beine vom Bett und zog sich die Stiefel an.
»Was ist los?«
Sie wandte den Blick ab und seufzte.
»Clyde hat ein totes Kalb gefunden. Und dein Vater macht deshalb ein ziemliches Theater.«
»W-wo?«
»Ach, irgendwo, ich weiß nicht.«
»Oben auf den Pachtweiden?«
Sie schaute ihn an und nickte.
»Und er glaubt, dass es ein W-W-Wolf war?«
»Ja, Nat Thomas glaubt es auch. Komm schon, sie sind alle unten. Bringen wir es hinter uns.«
Er folgte ihr über den Flur zur Treppe. Was sollte er sagen? Er wusste, dass ihm sein Vater Vorwürfe machen würde. Wie um alles in der Welt hatte Clyde das Kalb bloß gefunden? Und wieso spionierte der ihm überhaupt nach?
Luke hatte den Kadaver vor zwei Tagen entdeckt. Im Sand fand er Wolfsspuren und frische Losung, also zerrte er das Kalb in die Schlucht und deckte es mit Steinen zu. Dann brach er einen Kiefernzweig ab, verwischte damit die Spuren und beseitigte schließlich die Losung. Er sagte sich, dass man erst im Herbst was merken würde, wenn das Vieh zu Tal getrieben und gezählt wurde.
Als er auf die Küchentür zuging, hörte Luke sie miteinander reden. Clyde lachte und erzählte den beiden Rancharbeitern Ray und Jesse, die ihnen beim Heuen halfen, was Nat Thomas gesagt hatte, verstummte aber sofort, als Luke eintrat. Alle schauten ihn an. Sein Vater saß am Tischende.
»Na, Luke«, sagte er, »hast du gut geschlafen?«
»Ich w-w-wollte …«
»Komm und iss. Sonst wird’s noch kalt.«
Luke setzte sich neben Ray, der ihm zunickte.
»Wie geht’s, Luke?«
»G-G-Gut.«
Seine Mutter schnitt ihm eine Scheibe Fleischkäse ab, eines der wenigen Fleischgerichte, die er gern aß, doch verspürte er im Augenblick überhaupt keinen Hunger. Die anderen waren mit dem Essen fast fertig.
»Also«, fuhr Clyde fort, »er kratzt sich am Schädel, wird ganz nervös und sagt, tja, das sei gar nicht so einfach, worauf Buck meint: ›Also, an Altersschwäche ist es jedenfalls nicht eingegangen!‹«
Clyde wieherte vor Lachen, und die Rancharbeiter grinsten. Luke wusste, dass sein Vater ihn beobachtete, hielt den Blick aber auf den Teller gerichtet, während seine Mutter ihm Salat und Kartoffeln darauf häufte. Dann reichte sie ihm den Teller und gab anschließend den Rancharbeitern noch einen Nachschlag.
»Also, Luke«, sagte sein Vater. »Du hast wahrscheinlich schon gehört, dass wir ein totes Kalb gefunden haben.«
Luke hatte den Mund voll, also nickte er nur. Sein Vater wartete auf eine Antwort.
»Ja, Sir. W-W-Wo habt ihr es g-g-gefunden?«
»Oben am Ripple Creek«, sagte Clyde. »Du kennst doch die Schlucht, die unten am Fuß der Weide beginnt, oder?«
»‘türlich.«
Die Farmarbeiter spürten, dass dies hier eine Familienangelegenheit war, und stierten in ihr Essen. Sein Vater hatte ihn nicht einen Moment aus den Augen gelassen.
»Ich dachte, du würdest da jeden Tag nachsehen«, sagte er.
»Nicht g-g-gerade in der Sch-Sch-Schlucht. Ich reite immer o-o-oben lang.«
»Da lag es ja. Ganz oben, direkt am Eingang zur Schlucht.«
Jemand oder etwas musste das Kalb gefunden und wieder zurückgeschleppt haben, dachte Luke. Wer machte so etwas? Vielleicht waren die Wölfe noch einmal zurückgekommen.
»W-W-Was hat es u-u-u-…?«
»Ja.«
»Nat Thomas nimmt an, dass es ein Wolf war. Dieser Prior versucht, Bill Rimmer zu erwischen, und will heute Nachmittag mit ihm herkommen. Aber mir macht Sorge, wie viele tote Kälber da oben wohl noch sind.«
»Ich g-g-glaub nicht, d-d-dass…«
»Du wolltest diesen Job, Luke, aber wenn du ihn machen willst, dann mach ihn vernünftig, okay?«
Luke nickte. »Ja, Sir.«
»Sonst müssen wir dir Jesse hinterherschicken.«
»Puh«, sagte Ray, wischte sich die Stirn und grinste. »Glück gehabt. Muss ich mich wenigstens nicht von Wölfen fressen lassen.«
Alle lachten, und die Spannung ließ ein wenig nach. Sein Vater stand auf, und als wäre er mit unsichtbaren Fäden an ihn gebunden, erhob sich auch Clyde.
»Wahrscheinlich war es ja gar kein Wolf«, sagte seine Mutter.
»Nat Thomas behauptet was anderes«, sagte Buck und setzte sich den Hut auf. Lukes Mutter wusch die Töpfe in der Küche und schaute nicht mal zu ihm hinüber.
»Nat Thomas musst du nur einen Zehner geben, dann schwört er dir, dass es der Osterhase war.«
Wenn seine Mutter so etwas sagte, spürte Luke erst, wie gern er sie hatte.
Dan hatte ihr viel von Buck Calder erzählt, doch nichts davon hatte Helen auf den Schock der ersten Begegnung vorbereitet. Die schiere Körperlichkeit dieses Mannes war überwältigend. Menschen in seiner Nähe wirkten wie Karpfen neben einem Hai.
Dan hatte sie unten beim Haus vorgestellt und erklärt, Helen wolle helfen, den Wolf aufzuspüren, und dafür sorgen, dass es bei diesem Einzelgänger bliebe. Sie und Buck hatten sich die Hand gegeben. Seine Hand war riesig und seltsam kühl. Er hatte ihre Hand einen Moment zu lang gehalten, während er sie mit diesen fahlen Augen musterte. Der Blick war so direkt und intim, dass Helen spürte, wie sie rot anlief. Er hatte sie gefragt, ob sie mit ihm im Truck hinauf zur Weide fahren wolle. Sie hatte ein wenig zu rasch »nein, danke« geantwortet, sie wolle mit Dan und Bill Rimmer hinaufreiten. Unterwegs zog Dan sie deshalb auf.
»Ich schätze, da hast du deine Chance verpasst, Helen.«
»Himmel! Meine Mom hat so einen Blick immer ›Schlafzimmerblick‹ genannt.«
»Einen Schlafzimmerblick?«, fragte Bill.
»Tja, als ich den Ausdruck das erste Mal hörte, war ich noch klein und dachte mir, damit meine sie schläfrig oder so. Aber eines Tages hörte sie dann, wie ich Eddie Horowitz, dem Nachbarjungen, sagte, er habe einen Schlafzimmerblick; und da hat sie mir eine Ohrfeige verpasst.«
Bill Rimmer lachte laut auf. Er schien ein netter Kerl zu sein.
Calders Schwiegersohn hatte im Büro in Helena angerufen, als Helen und Dan gerade zur Hütte fahren wollten und deshalb den Toyota mit Helens Sachen und den Tonnen Vorräten beluden, die sie im Supermarkt gekauft hatten. Es lag alles hinten auf der Ladefläche.
Jetzt standen sie um diesen angeblich von einem Wolf gerissenen Kadaver, während Grashüpfer über ihre Stiefel sprangen.
Bill Rimmer kniete neben dem Kalb, untersuchte es und ließ sich dabei Zeit. Helen stand neben Dan, der die Untersuchung auf Band aufnahm. Auf der anderen Seite des Kadavers stand Calder mit seinem Schwiegersohn und wartete auf ihr Urteil.
Es war eine Farce. Dan fand das offenbar auch. Sie hatte seinen Blick aufgefangen, als Clyde die Plane zur Seite schlug. Schwärme von Fliegen erhoben sich von den Kadaverresten. Die Verwesung war bereits so weit fortgeschritten, dass sich unmöglich feststellen lassen würde, wie es den Tod gefunden hatte.
Irgendwo weiter unten wieherte ein Pferd, und Helen schaute in die Schlucht und sah Calders Sohn zwischen den Felsen zu ihnen heraufreiten. Sie hatte ihn unten am Haus gesehen, doch hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihn vorzustellen. Ihr war gleich aufgefallen, wie gut er aussah. Sie hatte sich gefragt, wieso er sich im Hintergrund hielt, nur zuhörte und seinem Vater und Clyde das Reden überließ.
Einmal hatte Helen ihn ertappt, wie er sie mit seinen leuchtendgrünen Augen anstarrte, und sie hatte gelächelt, doch er hatte den Blick gleich abgewandt. Auf dem Weg hierher hatten sie ihn dann noch einmal gesehen, und Dan sagte ihr, wer er war.
Luke saß in einiger Entfernung ab, blieb neben seinem Pferd stehen und tätschelte ihm den Hals. Helen lächelte erneut, und diesmal nickte er ihr kurz zu, ehe er zu den Männern hinüberblickte, die um den Kadaver standen.
Rimmer richtete sich auf.
»Und?«, fragte Calder.
Rimmer holte tief Luft, ehe er Antwort gab.
»Sie sagten, Nat Thomas habe dies erst heute morgen gesehen?«
»Vor etwa drei Stunden.«
»Tja, ich weiß nicht, wie er behaupten kann, dass dieses Tier von einem Wolf getötet wurde.«
Calder zuckte die Achseln. »Erfahrung, vermutlich.«
Rimmer überhörte die Beleidigung. »Verstehen Sie, für eine genaue Aussage ist einfach nicht mehr genug übrig. Wir könnten den Kadaver allerdings mitnehmen und untersuchen lassen …«
»Dafür wäre Nat wohl der geeignetere Mann«, unterbrach ihn Calder.
»Nun, das ist Ihre Entscheidung, Sir. Aber ich fürchte, eine Untersuchung wird uns auch keinen genaueren Aufschluss geben. Dan und Helen hier haben schon oft von Raubtieren gerissenes Vieh untersucht. Dan, was meinst du?«
»Ich fürchte, ich muss dir da recht geben.«
»Was für eine Überraschung«, erwiderte Calder sarkastisch. »Miss Ross? Wollen Sie uns nicht auch Ihre Ansicht mitteilen?«
Helen spürte erneut seinen durchdringenden Blick, räusperte sich und hoffte, ihre Stimme würde nicht verraten, wie nervös sie war.
»Man kann nicht sagen, dass es kein Wolf gewesen ist, aber es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass es einer war. Hat jemand nach Spuren gesucht, bevor hier derart herumgetrampelt wurde?«
»Natürlich habe ich das getan«, sagte Clyde beinahe trotzig. Er warf seinem Schwiegervater einen raschen Blick zu. »Der Boden ist zu hart. Zu viele Felsen und so.«
»Oder nach Losung? Sie wissen schon, Wolfskot …«
»Ich weiß, was Losung ist.« Er lachte spöttisch. »Aber die haben wir auch nicht gefunden.«
Dan sagte: »Hätten Sie uns zuerst gerufen, Mr. Calder, hätten wir vielleicht …«
»Wen ich zuerst anrufe, ist meine Sache, Mr. Prior«, fauchte Calder ihn an. »Und bei allem Respekt, Mr. Prior, die Ansicht von Nat Thomas dürfte wohl doch etwas objektiver sein als die so manch anderer Personen.«
»Ich meinte doch nur, dass ich verstehen kann, weshalb Sie wollten, dass Nat kommt und sich das hier ansieht. Aber wenn …«
»Ach, können Sie das?«
»Ja, Sir.«
»Mir scheint, ihr Leute von der Regierung versteht verdammt wenig. Ihr lasst diese Wölfe frei rumlaufen, die töten dann unsere Haustiere und unser Vieh, und ihr tut dann so, als wäre niemand schuld daran.«
»Sir, ich …«
»Verscherzen Sie es sich nicht mit mir, Prior.«
Er wandte den Blick ab, schaute über das Tal, und eine Weile sagte niemand ein Wort. Irgendwo oben in den Bergen ertönte der Ruf eines Adlers. Calder schüttelte den Kopf, sah zu Boden und trat mit dem Stiefel gegen ein Büschel Salbei. Die Grashüpfer stoben nach allen Seiten auseinander.
Helen blickte Calder fasziniert an. Hier standen sie, allesamt erwachsen, und warteten gespannt darauf, dass er den Mund aufmachte. Endlich schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein.
»Na schön«, begann er, und nach einer weiteren kurzen Pause sagte er, an Dan gerichtet, »diese junge Dame soll also ausschließlich an diesem Fall arbeiten.« Er würdigte Helen bei diesen Worten keines Blickes, wies einfach nur mit dem Kinn in ihre Richtung.
»Ja, Sir.«
»Dann soll sie sich ranhalten, denn wenn ich noch ein einziges Kalb verliere, müssen wir die Sache selbst in die Hand nehmen.«
»Nun, ich muss Sie wohl nicht an die Gesetze erinnern …«
»Nein, Sir, das müssen Sie wirklich nicht.«
Sie schauten einander wütend an, und keiner war bereit, als erster den Blick abzuwenden. Helen sah, dass Dan innerlich kochte. Sie hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt, und es hätte sie nicht überrascht, wenn er über den Kadaver gesprungen wäre, um Calder einen Kinnhaken zu verpassen. Doch dann ließ der plötzlich seine weißen Zähne blitzen, wandte sich mit all seinem Charme an Helen, als sei nichts geschehen.
»Sie wollen also oben am Eagle Lake wohnen?«
»Genau. Bin auf dem Weg dahin.«
»Da oben kann es ziemlich einsam werden.«
»Ach, ich bin die Einsamkeit gewohnt.«
Calder warf ihr einen Blick zu, der deutlich sagte: Wie das? So ein hübsches Ding wie du? Es war der Blick eines Lüstlings, der einem kleinen Mädchen die Hand aufs Knie legt.
»Nun, Helen, Sie müssen mal zum Abendessen kommen und uns erzählen, wie’s vorangeht.«
Sie warf ihm ein unbekümmertes Lächeln zu.
»Gern, vielen Dank«, sagte sie. »Das wäre nett.«